| # taz.de -- Vorwürfe gegen Vorsitzenden: Nicht ganz koscher | |
| > Der „Spiegel“ berichtet, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde | |
| > Pinneberg, Wolfgang Seibert, sei gar kein Jude, seine Großmutter sei nie | |
| > in Auschwitz gewesen. | |
| Bild: Gar kein Jude? Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg, Wolfgan… | |
| Bremen taz | Ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Pinneberg gar kein | |
| Nachfahre einer Holocaust-Überlebenden? Diesen schweren Vorwurf erhebt ein | |
| Artikel in der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel | |
| gegenüber Wolfgang Seibert. Unter dem Titel „Der gefühlte Jude“ heißt es, | |
| Seibert sei ein Hochstapler und kein Jude, sondern evangelisch getauft. Den | |
| Autoren habe er dies bestätigt. In einem Statement gegenüber dem | |
| Evangelischen Pressedienst wies er die Vorwürfe am Samstag allerdings | |
| wieder zurück. | |
| Seibert ist seit 2003 Vorsitzender der Jüdische Gemeinde in Pinneberg, die | |
| erst 2002 gegründet wurde. Er vertritt ein liberales Judentum und ist | |
| bekannt für sein linkes politisches Engagement. Unter anderem als Stimme | |
| gegen rechten wie linken Antisemitismus ist er regelmäßig Gesprächspartner | |
| der Medien gewesen – auch der taz. Bundesweit Schlagzeilen machte Seibert, | |
| nachdem er mit seiner Gemeinde im Sommer 2014 einem muslimischen Flüchtling | |
| „Kirchenasyl“ gewährte. | |
| Der Spiegel schreibt nun, Seibert sei am 16. August 1947 als Sohn | |
| evangelischer Eltern in Frankfurt geboren und drei Tage später getauft | |
| worden. Seiberts Behauptung, seine Großmutter sei Auschwitz-Überlebende, | |
| stimme nicht. | |
| In einer Hausmitteilung des Magazins heißt es, das Gerücht, der Vorsitzende | |
| der jüdischen Gemeinde sei gar kein Jude, schien anfangs zu skurril, um | |
| wahr zu sein. Für ihre Recherchen, so erklären die Autoren Moritz Gerlach | |
| und Martin Doerry, hätten sie „mehr als 20 Archive“ besucht. Doerry war bis | |
| 2014 stellvertretender Chefredakteur des Spiegel gewesen. 2002 | |
| veröffentlichte er ein Buch über Briefwechsel seiner jüdischen Großmutter | |
| Lilli Jahn. | |
| ## Generalabrechnung mit Seibert | |
| Gerlach und Doerrys Artikel liest sich nun wie eine Generalabrechnung mit | |
| Seibert. Dieser sei bereits in den 1970er-Jahren als Betrüger aufgefallen | |
| und habe dafür Anfang der 1980er auch im Gefängnis gesessen. Er habe sich | |
| danach zunächst als „Zigeuner“ ausgegeben, so erklären die Autoren, seine | |
| Angaben zu seiner Ausbildung hätten variiert. | |
| Von „raffinierten“ Legenden berichtet der Artikel und davon, dass er | |
| Zugriff auf den Gemeinde-Etat habe: „Seibert verfügt also über viel Geld.“ | |
| Auch Kaffeekränzchen werden erwähnt, die seine Frau in der Gemeinde | |
| veranstalte, um Kundschaft für ihren Pflegedienst zu akquirieren, so der | |
| Vorwurf. „So ganz koscher ist diese Verbindung nicht“, wird dazu ein | |
| Ex-Mitglied der Pinneberger Gemeinde zitiert. | |
| Das Jüdischsein Seiberts, auch das lässt sich aus dem Artikel entnehmen, | |
| war bereits Thema – zu einer abschließende Klärung der jüdischen Identität | |
| Seiberts durch das Beit Din, das Rabbinergericht, sei es aber nie gekommen. | |
| Das Rabbinergericht hatte abgelehnt, die „Jüdischkeit“ Seiberts | |
| anzuzweifeln. Die Autoren erklären selbst, dass sich für Nicht-Juden | |
| weitere Nachfragen eigentlich verbieten, weil die Entscheidung darüber, wer | |
| Jude ist oder nicht, allein bei den Vertretern des Judentums liege. In | |
| Seiberts Fall sei es aber etwas anderes gewesen, weil ein nicht-jüdischer | |
| Deutscher sich eine jüdische Identität erschwindelt und sich zu einem | |
| Nachfahren von Holocaust-Überlebenden gemacht habe. | |
| Denn laut Spiegel hatte Seibert nach einer Konfrontation zugegeben: „Wenn | |
| ich das jetzt so sehe, dann fange ich an zu zweifeln, ob ich jüdisch | |
| geboren worden bin. Aber ich finde das nicht so wesentlich.“ Es sei für ihn | |
| immer entscheidend gewesen, dass er sich als Jude „gefühlt“ habe. | |
| Seibert war am Sonntag nicht zu erreichen. Dem Evangelischem Pressedienst | |
| hatte er am Samstag erklärt, er wolle sich im Laufe der Woche öffentlich | |
| äußern, nachdem er sich mit seinem Anwalt beraten habe. Die Behauptung in | |
| dem Artikel, er werde sein Amt als Gemeindevorsitzender aufgeben, sei | |
| falsch. | |
| ## Wer jüdisch ist, entscheidet die Gemeinde | |
| Beim Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein, zu dem | |
| auch die Pinneberger Gemeinde gehört, wollte man zunächst keine offizielle | |
| Stellungnahme abgeben. Von einem Mitglied der Jüdischen Gemeinde hieß es | |
| aber, man werde so schnell nicht auf Distanz zu Seibert gehen: „Wer jüdisch | |
| ist, entscheidet die Jüdische Gemeinde und nicht der Spiegel.“ Seibert habe | |
| sich jahrelang ehrenamtlich engagiert. Der Hintergrund dieses Berichts sei | |
| ein Streit mit dem ehemaligen Landesrabbiner Walter Rothschild. | |
| Rothschild wird in dem Artikel als einer derjenigen angeführt, die an | |
| Seiberts jüdischer Identität zweifelten. Er war von 2003 bis 2015 | |
| Landesrabbiner der jüdischen Reformgemeinden in Schleswig-Holstein. 2015 | |
| wurde er vom Landesvorstand entlassen – es folgte ein Rechtsstreit. Auch | |
| Seibert hatte sich anscheinend von Rothschild abgewandt. | |
| Hört man sich bei Bekannten Seiberts um, so herrscht Bestürzen über den | |
| Artikel und Erschütterung über die Vorwürfe. Andererseits kritisieren sie | |
| aber auch die Art, wie die Autoren die Vorwürfe vortragen – etwa, dass sich | |
| an einer Stelle die Aufzählung zweier ungeklärter Angriffe auf die Synagoge | |
| so liest, als habe sich Seibert damit einen Vorteil verschafft, indem der | |
| zweite Anschlag ihm einen Besuch des Kieler Innenministers „beschert“ habe. | |
| Einer, der Seibert gut kennt, ist Werner Pomrehn, Redakteur beim linken | |
| Hamburger Radio-Sender FSK. Er erklärte der taz: „Ich beurteile Wolfgang | |
| Seibert nach dem, wie ich ihn in den vergangenen zehn Jahren kennengelernt | |
| habe: als ausgesprochen solidarischen Menschen, politisch einem | |
| emanzipatorischen Gedanken verpflichtet, gebildet und bewandert.“ | |
| Kennengelernt habe er ihn, als im Mai 2008 Neonazis in Hamburg | |
| aufmarschierten und Seibert mit einer kleinen Gruppe mit Israel-Fahnen erst | |
| Ärger mit Neonazis und dann mit Linken gehabt habe, so Pomrehn. Für sein | |
| Engagement gegen Neonazismus habe Seibert unter anderem mit Todesdrohungen | |
| umgehen müssen. | |
| ## Warten auf Replik | |
| Der Journalist und Historiker Johannes Spohr zeigte sich verwundert | |
| darüber, dass man erst jetzt und in einer solchen Form von den „offenbar | |
| seit langem gehegten Anschuldigungen“ gegenüber Seibert erfahre. Spohr hat | |
| 2017 ein Buch unter anderem über Seibert veröffentlicht, in dem es um | |
| biografische Erfahrungen mit linkem Antisemitismus geht. In dem | |
| Spiegel-Artikel kritisieren die Autoren, dass Seibert darin „auf vielen | |
| Seiten seine angeblich jüdische Familiengeschichte ausbreiten durfte“. | |
| Spohr erklärte dazu: „Zu den Anschuldigungen zu Falschaussagen bezüglich | |
| seiner Biografie ist zunächst die von Wolfgang Seibert angekündigte Replik | |
| auf den Artikel abzuwarten.“ Eine „völlig inakzeptable Behauptung“ sei | |
| allerdings die Aussage, dass, wer sich in Deutschland in eine jüdische | |
| Identität flüchte, damit rechnen dürfe, unangreifbar zu sein, wie es vom | |
| Spiegel behauptet werde. Seibert sei immer wieder zum Ziel antisemitischer | |
| Agitation geworden. | |
| „Es ist in der Tat interessant, den Motivationen von Menschen nachzugehen, | |
| die sich fälschlicherweise als jüdisch beziehungsweise Nachfahre von | |
| Holocaust-Opfern ausgeben“, erklärte Spohr. „Dies kann unter anderem in dem | |
| Wunsch nach Entlastung und Schuldabwehr nicht-jüdischer Deutscher begründet | |
| liegen. Das wird jedoch in dem Spiegel-Artikel nicht betrachtet.“ | |
| Womöglich kann zu einer Aufklärung darüber nur Seibert selbst beitragen. | |
| Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, das | |
| Beit Din, das Rabbinergericht, habe das Jüdischsein Seiberts überprüft. | |
| Laut Recherchen des Spiegel hatte das Rabbinergericht entschieden, die | |
| „Jüdischkeit“ Seiberts nicht anzuzweifeln, zu einer abschließenden Kläru… | |
| seiner jüdischen Identität sei es aber nie gekommen. Bei der Großmutter, | |
| über die Seibert behauptet, sie sei Auschwitz-Überlebende, handelt es sich | |
| um Elise Häger, nicht um Anna Katharina Schmidt. | |
| 21 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jean-Philipp Baeck | |
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