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# taz.de -- Kolumne Psycho: Bloß nicht jammern!
> Am 10. Oktober ist Welttag der seelischen Gesundheit. Unsere Autorin
> fragt sich: Wann ist schlimm eigentlich schlimm?
Bild: Bild aus dem Hinterkopf der Autorin
[1][Welttag der seelischen Gesundheit], da muss doch irgendwas drin sein!
Ein [2][Listicle], ein [3][Wie-sollen-Freunde-und-Familie-reagieren], ein
feuriger Aufruf zu mehr Empathie und weniger Stigmatisierung. Einen Tag
lang wäre alles möglich. Dinge schreiben, die noch nie geschrieben wurden.
Die aufrütteln, geteilt werden, Menschen umdenken lassen. Die Autorin
dieser Kolumne macht sich Druck. Erstmalig wählt sie gar die dritte Person,
um über sich zu schreiben, weil sie sich selbst nicht richtig fühlen kann
zur Zeit. Eigentlich schon seit Monaten. Aber so schlimm ist es auch wieder
nicht, keine Panik.
Wann ist schlimm eigentlich schlimm?
Die Autorin schafft es schließlich, wenn auch nicht problemlos, alle
wichtigen Dinge zu erledigen. Sie geht zur Arbeit, bezahlt ihre Rechnungen,
duscht. Ruft ihre Eltern an und geht mit dem Hund raus. Nur für den Rest
fehlt ihr die Energie. Gekocht hat sie seit Ewigkeiten nicht mehr. Sie hat
immer Hunger, aber selten Appetit und erst recht keine Ideen, was sie essen
könnte. Manchmal steht sie im Supermarkt vor einem Regal und denkt: Nudeln,
stimmt, die gibt's. Fünf Minuten später steht sie immer noch da, weil sie
sich nicht für eine Sorte entscheiden kann.
Ist das schon schlimm?
Die Autorin liest ihre Mails, ihre SMS, ihre Nachrichten. Oft sind sie von
Freunden, die sie sehr mag, und trotzdem schafft sie es manchmal tagelang
nicht, sie zu beantworten. Sie weiß gar nicht so genau, warum. Nur, dass
allein das Formulieren von Sätzen eine bleierne Müdigkeit hervorruft.
Sowieso ist die Autorin dauernd müde. Obwohl sie genug schläft, ausreichend
Bewegung hat, pipapo. Die Müdigkeit sitzt unter den Augenlidern und im
Hinterkopf, wo ihre Gedanken Kaugummi kauen. Sie mahlen mit knirschenden
Kiefern, immer in Betrieb, aber wenn die Autorin versucht, sie
auszuspucken, fällt nur der ausgelutschte Rest auf den Boden. Wenn die
Autorin dann loswill, irgendwas erledigen, irgendwas machen, bleibt sie mit
der Schuhsohle daran kleben.
Ist das schon schlimm?
Die Autorin will schließlich nicht jammern. Bloß nicht! Eigentlich ist ja
auch alles gut. Das denkt sie immer dann, wenn sie gerade zugegeben hat,
dass es ihr schlecht geht. Oft ist sie gar nicht sicher, ob sie überhaupt
das Recht hat, sich schlecht zu fühlen. Und obwohl sie weiß, dass Ängste
und Depressionen völlig unabhängig von äußeren Umständen auftreten können,
zählt sie sich auf, was sie alles hat, als würde das die schlechten
Gedanken vertreiben: Job, Wohnung, Beziehung, Freunde, Hund. Dann sagt sie
sich selbst die Sätze, die sie anderen versucht, abzutrainieren. Denk
positiv. Komm klar. Reiß dich zusammen und krieg deinen Arsch hoch.
Was vielleicht am Schlimmsten ist:
Die Autorin hat durchaus auch gute Momente in letzter Zeit. Manchmal sogar
mehrere am Stück. Wenn sie gerade wirklich eine depressive Phase hätte,
wäre das dann nicht anders? Wäre da nicht ein Dauergrauschleier, ein Nebel,
der sich niemals lichtet? Vielleicht ist es doch nur Selbstmitleid, denkt
sie, und am liebsten möchte sie diesen Text wieder löschen, weil sie sich
schämt. Aber genau deshalb lässt sie ihn stehen.
10 Oct 2018
## LINKS
[1] https://twitter.com/hashtag/WorldMentalHealthDay?src=hash
[2] https://www.huffingtonpost.de/ravishly/12-dinge-menschen-mit-depressionen_b…
[3] https://www.bento.de/gefuehle/hilfe-bei-depressionen-was-freunde-und-famili…
## AUTOREN
Franziska Seyboldt
## TAGS
Angststörungen
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Burnout
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