# taz.de -- Verdrängung im Westjordanland: Ein Dorf mit Symbolkraft | |
> Israel will das Dorf Khan al-Ahmar abreißen. Die Beduinengemeinde ist zum | |
> Symbol der Palästinenser gegen die israelische Besatzung geworden. | |
Bild: Wann kommen die Bulldozer? Protest gegen den Abriss von Khan al-Ahmar am … | |
KHAN AL-AHMAR taz | Ein kleines Dorf steht in diesen Wochen im Zentrum des | |
palästinensischen Widerstands, wobei die Bezeichnung Dorf westlichen | |
Betrachtern vielleicht schon übertrieben erscheinen mag. Hütten aus Holz | |
und Blech ducken sich in den Hang, krumm und schief zusammengenagelt, | |
verbunden durch Drähte, überdeckt mit löchrigen Planen. Ein verletzter Esel | |
stampft unruhig mit den Hufen im Sand. | |
Wenige Schritte weiter, auf einem perfekt ausgebauten Highway, brausen die | |
Autos in Richtung Jerusalem. Keine 30 Minuten liegen zwischen dem | |
palästinensischen Beduinendorf Khan al-Ahmar und dem Zentrum der heiligen | |
Großstadt. Aus dieser ist Khalil Mahmud Ali Jaber angereist. Mit dem Hemd | |
in der Hose und seinen schwarz polierten Herrenschuhen wirkt er fremd | |
zwischen den ärmlichen Verschlägen der Beduinen. | |
„Ich bin nach Khan al-Ahmar gekommen, um neuen Teppich in der Moschee zu | |
verlegen“, erklärt er. Zusammen mit einem Schulgebäude gehört die Moschee | |
von Khan al-Ahmar schon zu den solideren Bauten im Dorf. Ein | |
Metallcontainer schützt die Gläubigen vor Sonne und Regen. Als Minarett | |
dient ein Holzpfosten mit aufmontiertem Lautsprecher. | |
„Ob’s die Moschee nächste Woche allerdings noch gibt, weiß ich nicht“, … | |
Ali Jaber. Jederzeit könnte Khan al-Ahmar dem Wüstenboden gleichgemacht | |
werden. Die Leitplanken des Highways, die die Schulkinder vor dem Verkehr | |
schützen sollen, haben die Israelis bereits niedergerissen. Der Weg ist | |
frei für die Bulldozer. | |
„Es geht hier nicht um die Häuser und Leute von Khan al-Ahmar“, sagt Ali | |
Jaber. „Das eigentliche Problem ist, dass die Juden immer weiter | |
vordringen. Sie wollen hier Siedlungen bauen. Es geht um Hunderte Hektar | |
Land.“ Kaum hat er seinen Satz beendet, erscheint eine Gruppe Menschen am | |
Horizont, weit oben auf dem Hügel hinter der Moschee, umringt von | |
Uniformierten. Kurz ist Aufregung im Dorf zu verspüren. „Sie machen bereits | |
Pläne für die Zerstörung“, ist sich Ali Jaber sicher. | |
## Wann kommen die Bulldozer? | |
Heute Nacht? Morgen früh? Wann die Bulldozer kommen, weiß niemand in Khan | |
al-Ahmar. Israels Oberstes Gericht hat grünes Licht für die Zerstörung | |
gegeben. Die Civil Administration, der zivile Arm der Militärbesatzung im | |
Westjordanland, forderte die Beduinen auf, ihre Hütten selbst | |
niederzureißen und das Dorf, in dem sie seit Jahrzehnten wohnen, zu | |
verlassen. Die Bewohner von Khan al-Ahmar taten: nichts. | |
„Wir gehen nicht“, sagt Eid Abu Khamis Dschahalin entschlossen. Wie fast | |
alle in Khan al-Ahmar ist der 52-Jährige, der sich als Sprecher der | |
Gemeinde vorstellt, hier vor den Toren Jerusalems geboren. Mit Kippe in der | |
rechten und Kaffee in der linken Hand beantwortet Abu Khamis geduldig die | |
Fragen der Journalisten. Warum zieht er nicht um, will einer wissen, so wie | |
es die israelische Regierung vorgeschlagen habe. Abu Khamis schüttelt den | |
Kopf: „Warum ziehen die Siedler nicht woanders hin? So wie vereinbart.“ | |
Vereinbart waren die israelischen Siedlungen, von denen die Beduinen im | |
Norden und Süden, im Osten und Westen eingeschlossen sind, in der Tat | |
nicht. Das Westjordanland gehört den Palästinensern, hieß es bereits im | |
sogenannten Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947. Bekräftigt wurde | |
dies in den 1990er Jahren, als sich Palästinenser und Israelis erstmals | |
gegenseitig anerkannten. Zwei Staaten für zwei Völker, lautete das Ziel. | |
Bis heute halten Israels Regierung und die Palästinensische | |
Autonomiebehörde an der Zweistaatenlösung fest, offiziell jedenfalls, wie | |
auch die Vereinten Nationen, die EU und – auch wenn Donald Trump diese | |
Grundfeste der amerikanischen Nahost-Politik infrage gestellt hat – die | |
US-Regierung. | |
## Ein übel riechender See | |
Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Wie überall im Westjordanland | |
ragen die aufgeräumten Häuserreihen der jüdischen Siedlungen auch auf den | |
Gipfeln um Khan al-Ahmar in die Höhe. Anfangs hätten sich einige | |
Einzelpersonen aus der benachbarten Siedlung Kfar Adumim solidarisch | |
gezeigt mit den Beduinen, erzählt Abu Khamis. Mittlerweile gebe es aber | |
keinen Kontakt mehr zwischen den Siedlern und den Palästinensern. Ganz im | |
Gegenteil: Anfang des Monats überraschte die Bewohner von Khan al-Ahmar ein | |
übel riechender Abwassersee am Fuße des Dorfes. | |
Über einen Mangel an Solidarität können sich die Beduinen dennoch nicht | |
beschweren. Die EU hat sich gegen den Abriss ausgesprochen. Auch die | |
Vereinten Nationen plädierten dafür, das Dorf und seine Schule, in der rund | |
150 Kinder aus der Region lernen, zu erhalten. Den israelischen | |
Verteidigungsminister Avigdor Lieberman bewegte die internationale | |
Solidarität dazu, sich gegen die „eklatante Einmischung“ in Israels | |
Angelegenheiten auszusprechen. | |
Von „Zwangsumsiedlung“ will Lieberman, der sich in einem | |
[1][Meinungsbeitrag in der Jerusalem Post] ausführlich äußerte, nichts | |
hören. Die Hütten in Khan al-Ahmar seien illegal errichtet worden. | |
Verächtlich schrieb er von einer „kleinen Gruppe von Besetzern“ und | |
plädierte für die Umsiedlung in „richtige Wohnungen“. | |
Die Regierung hatte den Beduinen den Umzug in einen nahe gelegenen Vorort | |
Jerusalems vorgeschlagen. Dass die Behörden systematisch die Errichtung | |
palästinensischer Infrastruktur in den von Palästinensern bewohnten, aber | |
unter israelischer Militärkontrolle stehenden Gebieten des Westjordanlands | |
verhindern und Bauanträge in aller Regel ablehnen, erwähnte Lieberman | |
allerdings nicht. Auch die symbolisch bedeutsame Lage vor dem von Israel | |
völkerrechtswidrig annektierten Ostteil Jerusalems verschwieg der | |
Verteidigungsminister. | |
„Jerusalem ist unsere ewige Hauptstadt – und Khan al-Ahmar eine rote | |
Linie“, steht auf einem Plakat in einem Zelt zwischen der Schule und den | |
Wohnverschlägen, unter dem Dutzende Aktivistinnen und Unterstützer | |
ausharren. „Diese Gegend ist besonders wichtig“, erklärt Dorfsprecher Abu | |
Khamis seine Weigerung, das israelische Angebot anzunehmen und umzusiedeln. | |
Khan al-Ahmar, so die Befürchtung, könnten andere Dörfer folgen. | |
## Von Ostjerusalem abgeschnitten | |
Würden sich die jüdischen Siedler in dem Gebiet weiter festsetzen, wäre ein | |
großes, zusammenhängendes Gebiet östlich von Jerusalem für die | |
Palästinenser verloren. Das Westjordanland, in dem die ursprüngliche | |
palästinensische Bevölkerung immer mehr in isolierten Enklaven | |
zusammengedrängt und durch die israelische Sperrmauer, eine teilweise | |
segregierte Infrastruktur und ein ausgereiftes Checkpoint-System | |
kontrolliert wird, wäre vom palästinensischen Ostjerusalem weitgehend | |
abgeschnitten. In der Siedlung Ma’ale Adumim, mitten im Westjordanland, | |
leben schon heute 40.000 Menschen. Nach internationalem Recht ist sie | |
illegal. | |
Etwa vierzig Autominuten von Khan al-Ahmar entfernt, in Bethlehem, spielen | |
einige Mädchen in den Straßen eines palästinensischen Flüchtlingslagers. | |
Auch sie haben von dem bedrohten Beduinendorf und seinen rund 180 | |
EinwohnerInnen schon gehört. „Khan al-Ahmar“, prangt in großen weißen | |
Lettern auf ihren T-Shirts. Für den Sozialarbeiter und Aktivisten Munther | |
Amira, der in der Nachbarschaft ein Jugendzentrum betreibt, ist der | |
drohende Abriss nur ein weiterer Schritt der Israelis, die Palästinenser | |
aus ihrer Heimat zu vertreiben. | |
Amira besteht darauf, Flüchtling zu sein, auch wenn das „Lager“, in dem er | |
lebt, längst zu einem ärmlichen, aber festen Stadtteil Bethlehems geworden | |
ist und die provisorischen Zelte robusten, mehrstöckigen Häusern gewichen | |
sind. Über der Straße vor dem Jugendzentrum hängt ein großer Schlüssel. Er | |
symbolisiere das Recht auf Rückkehr der von Israel Vertriebenen in ihre | |
Heimatdörfer, sagt Amira. | |
„Was 1948 passierte, ist das Gleiche wie heute in Khan al-Ahmar.“ Deshalb | |
sei das Beduinendorf zu einem „Thema für alle Palästinenser“ geworden. Se… | |
fast vier Monaten schlafe er nur noch eine Nacht pro Woche zu Hause in | |
Bethlehem, den Rest verbringe er in Khan al-Ahmar. „Sie werden nachts | |
kommen“, ist sich Amira sicher, „und wir werden sie mit unseren Körpern | |
stoppen.“ | |
## Immer mittwochs kommen die Ärzte | |
Es ist der große Kontext der sogenannten Nakba, der Vertreibung der | |
Palästinenser im Zuge der Staatsgründung Israels, in den auch Abed Gharib | |
das kleine Dorf einordnet. „Damals konnte ich nichts tun“, sagt der erst | |
23-Jährige, der als Freiwilliger der Hilfsorganisation Palestinian Medical | |
Relief Society (PMRS) nach Khan al-Ahmar gekommen ist. Gharibs Vorfahren | |
lebten einst in Jerusalem, wurden vertrieben. „Heute passiert das Gleiche | |
in Khan al-Ahmar.“ | |
Seit zehn Jahren arbeitet Gharib für PMRS, das in den besetzten Gebieten | |
die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten versucht und in Khan | |
al-Ahmar eine mobile Klinik betreibt. Immer mittwochs kümmern sich die | |
Ärzte um Bronchitis und Durchfallerkrankungen, um Erkältete und | |
Hepatitis-Patienten. | |
Doch wie so vieles im besetzten Westjordanland geht es auch hier um | |
Politik, nicht allein um medizinische Hilfe. „Wir sind bereit“, sagt | |
Gharib. Jede Nacht schlafen die Freiwilligen in einem Pavillon am Rande von | |
Khan al-Ahmar. Die Bulldozer, ist er sich sicher, werden nicht allein | |
kommen. Polizei und Militär werden sie begleiten, um den Widerstand zu | |
brechen. Erste Verletzte und Verhaftete hat es bereits gegeben. | |
Wenn es ernst wird, wollen die Freiwilligen von PMRS vor Ort sein – nicht | |
nur um Wunden zu verbinden und Verletzte nach Jericho und Ramallah zu | |
fahren. Sie wollen Präsenz zeigen. Es geht um das physische Dasein. | |
Zumindest das haben sie mit den israelischen Siedlern, die sich überall im | |
Westjordanland ausgebreitet haben, gemeinsam. | |
Der Besuch des Westjordanlands fand im Rahmen einer Pressereise von Medico | |
International statt. Die Hilfsorganisation arbeitet mit PMRS zusammen. | |
16 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.jpost.com/Opinion/Liberman-Israel-will-not-heed-cynical-grandst… | |
## AUTOREN | |
Jannis Hagmann | |
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