| # taz.de -- Debatte Bayern: Der Sauhaufen muss größer werden | |
| > München wird grün, aber das kümmert den Bayern-Boss nicht. Gegen die | |
| > Provos der CSU werden die Grünen eine Taktik entwickeln müssen. | |
| Bild: Bayern ist nicht schwarz, nicht grün, sondern bunt, sagt die famose „S… | |
| Erwartungsgemäß ließ Söder die Sondierungsgespräche mit den Grünen ins | |
| Leere laufen. Stattdessen verständigte er sich mit den Freien Wählern auf | |
| Koalitionsverhandlungen. Dass Söder diese Konstellation, die er am | |
| Wahlabend „Bürgerliche Koalition“ genannt hatte, [1][nun „Bayern-Koaliti… | |
| taufte], lässt darauf schließen, dass er, vom Wahlergebnis angestoßen, noch | |
| nach der griffigsten Formulierung sucht – beziehungsweise, dass doppelt | |
| eben immer besser hält: Ist doch beiden Benennungen gemeinsam, dass sie den | |
| Wahlsieger vom vergangenen Sonntag, die Grünen, abwerten sollen: als | |
| erstens unbürgerlich und zweitens unbayerisch. | |
| Gerade Letzteres ist eine uralte Waffe aus dem Arsenal der Christsozialen, | |
| auf die ihr früherer Gegner, die SPD, mit dem hilflosen Mut des | |
| Angezweifelten reagierte und sich „BayernSPD“ nannte. [2][Das Ergebnis ist | |
| bekannt]. Die SPD repräsentiert im Freistaat nicht mehr viel mehr als | |
| diejenigen, deren Posten am Parteiticket hängen; und dass die „BayernSPD“ | |
| damit wohl nur das Schicksal ihrer Genossen in anderen Ländern und im Bund | |
| vorwegnimmt, ist ein schwacher Trost. | |
| Vertreten die Sozialdemokraten also nur mehr sich selbst, so müssen die | |
| Grünen noch eine Antwort finden auf Söders charakterlich-politische | |
| Grundverfassung – seine „Schmutzeleien“, wie sie Parteifreund Horst | |
| Seehofer in monatelangem Nahkampf herausgearbeitet hat. Die Grünen werden | |
| eine Taktik entwickeln müssen, wie sie mit den Provokationen der | |
| verunsicherten Schulfhofschlägerclique von der CSU umgehen. | |
| ## Sachthemen oder Bayerischsein? | |
| Sollen sie lauthals ihre Bayerisch- und Bürgerlichkeit beteuern und | |
| trotzdem auf’s Maul kriegen? Sollen sie sich taub stellen und auf die | |
| scheinbar unideologischen „Sachthemen“ konzentrieren, wo doch das | |
| Sich-kümmern-Wollen um eben diese den Markenkern der Freien Wähler | |
| ausmacht? Oder sollen sie diese Begriffe lässig nicht mal ignorieren, das | |
| Menschliche über das vermeintlich Bayerische stellen und das Soziale über | |
| das Besitzbürgerliche? | |
| Weiten wir mal den Blick. Wer sich als Individuum ernst nimmt, wird sein | |
| Leben als das Projekt verstehen, sie und er selbst zu bleiben | |
| (beziehungsweise: zu werden), in einer Welt, die eben das beharrlich zu | |
| verhindern sucht. Wer Politik macht, muss geschmeidig sein, wach für seine | |
| Entwicklungen – und für mögliche Bündnisse. | |
| Von dem leider ziemlich vergessenen Dichter Richard Leising stammen die | |
| schönen Verse: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein / Aber es muss da | |
| sein.“ Nur wer Antworten auf die Alltagsprobleme der Mehrheit gibt, kann | |
| ihren Blick weiten, auf die Fragen der Zukunft – und die darf man, beim | |
| Klimawandel angefangen, vielleicht durchaus einmal düster skizzieren: | |
| Der New Yorker wies kürzlich darauf hin, dass die nächste Finanzkrise nicht | |
| mehr lange auf sich warten lassen wird – und diesmal seien wir noch | |
| schlechter vorbereitet als 2008. Die Diskussion um Bürgerrechte | |
| einschränkende Polizeigesetze sowie die Rolle des Verfassungsschutzes im | |
| NSU- und AfD-Komplex bekommen eine ganz andere Qualität, wenn wir uns in | |
| eine Situation hineindenken, in der die deutsche Exportmaschine an ihre | |
| schon heute absehbaren Grenzen stößt und gesellschaftliche | |
| Verteilungskämpfe über die Frage der paritätischen Finanzierung in der | |
| gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehen. | |
| ## Schützt Bürgerlichkeit die Lebensgrundlagen? | |
| Dem italienischen Magazin L’Espresso hat die grüne Spitzenkandidatin | |
| Katharina Schulze im Interview nach der Wahl gesagt, Bayern sei ein reiches | |
| Land mit niedriger Arbeitslosigkeit, in dem ständig Arbeitskräfte gesucht | |
| würden und in dem man sich also eine migrationsfreundliche Haltung leisten | |
| könne. Was aber wird sein, wenn sich die wirtschaftlichen Parameter einmal | |
| ändern? Was wird man sich dann noch leisten wollen? | |
| Keine Angst, das Horrorkabinett ist wieder geschlossen. Aber wenn wir über | |
| den Begriff der Bürgerlichkeit nachdenken, dann müssen wir seine Untiefen | |
| ausloten. Wir müssen fragen, ob bürgerliche Freiheit bedeutet, dass, | |
| bayerisch gesprochen, die Grattler halt schauen sollen, wo sie bleiben – | |
| nämlich drunten. | |
| Oder ob Bürgerlichkeit, durchaus auch als Form der Herrschaft, noch mehr | |
| ist als wegbeißende Besitzstandswahrung: Ob sie ernsthaft die | |
| Lebensgrundlagen schützt; ob sie für eine Gesellschaft kämpft, die das | |
| Privileg, auf der nichttödlichen Seite des Mittelmeeres geboren zu sein, | |
| nicht mit Zäunen, Internierungslagern und Kriegsschiffen verteidigt, | |
| sondern allen Menschen die Chance gibt, aus ihrem Leben etwas zu machen. | |
| Oder wenigstens: zu überleben. | |
| ## „Du hast keine Chance, nutze sie!“ | |
| Ich muss sagen, ich bezweifle, dass das bürgerliche Projekt, das mal mit | |
| einem Herrn Faust angetreten ist, um mit unerschöpflicher Neugierde und | |
| Energie herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält, seiner | |
| globalen Verantwortung gerecht werden wird. Ich bin aber auch skeptisch | |
| gegenüber allen linken Versuchen, ein zwangsläufig idealisiertes | |
| politisches Gegen-Subjekt – ob nun einst die Arbeiterklasse oder heute etwa | |
| den Migranten – zum Retter auszurufen. | |
| Die Zukunft war früher eben auch besser, wusste schon Karl Valentin. Halten | |
| wir’s also gegenwärtig – und bis auf Weiteres mit dem Dichter Herbert | |
| Achternbusch: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Ich habe mich | |
| jedenfalls sehr gefreut, als meine Geburtsstadt München sich in den | |
| Grafiken am Wahlabend zunehmend grün färbte, und ich habe einen riesigen | |
| Respekt vor den Menschen, die durch ihr Engagement dazu beigetragen haben. | |
| Und ich finde es vorsintflutlich, dass ein Drittel der Bevölkerung der | |
| bayrischen Landeshauptstadt nicht seinen Teil zum Ergebnis hat beisteuern | |
| können, weil es ohne deutschen Pass nicht wahlberechtigt ist. | |
| Daran etwas zu ändern, wäre doch ein schönes Projekt für eine moderne | |
| bürgerliche Partei. In der großen [3][Berliner Archäologieausstellung | |
| „Bewegte Zeiten“] kann man derzeit – dem bayerischen Flächenfraß sei Da… | |
| aus spätantiken Gräbern geborgene, nach hunnischer Mode künstlich in die | |
| Länge gezogene Frauenköpfe bestaunen. Bayern, lernt man ausgerechnet in | |
| Berlin, ist mehr als ein Einwanderungsland – es ist ein von Einwanderern | |
| aus allen Winkeln der Erde gegründetes Land. | |
| Die Wissenschaft hat das mit dem [4][Begriff der „Sauhaufentheorie“] | |
| gefasst. Wir, liebe Restdeutsche, waren nämlich immer schon viele – und | |
| werden irgendwann schon auch noch mal mehr als 17 Prozent. | |
| 21 Oct 2018 | |
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| [1] /Nach-der-Landtagswahl-in-Bayern/!5540776 | |
| [2] /SPD-bei-der-Bayernwahl/!5542775 | |
| [3] /Ausstellung-ueber-Archaeologie/!5538515 | |
| [4] http://blog.initiativgruppe.de/2013/04/08/wir-bayern-haben-als-sauhaufen-an… | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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