# taz.de -- Die Wahrheit: Eruptionen im Ländle der Kotzbrocken | |
> Vor 200 Jahren bescherte ein Vulkan Stuttgart das Cannstatter Volksfest – | |
> und noch heute ist der Wasen vom vielfältigen Auswurf geprägt. | |
Bild: Ritzeratzevoll werden Festbesucher bei jedem Wasenwirt | |
Ein freudiges Ereignis ist ein Vulkanausbruch ja nie. Ganze Dörfer | |
verkohlen, Menschen sterben und noch tragischer: Gestresste Geschäftsleute | |
kommen zu spät zu ihren Terminen, weil der Flugverkehr lahmliegt. Für das | |
größte Elend aber sorgte vor langer Zeit der indonesische Vulkan Tambora. | |
Dessen Ausbruch 1815 bescherte der Menschheit drei Jahre später das | |
Volksfest auf dem Cannstatter Wasen. In diesem Jahr feiert es sein | |
200-jähriges Jubiläum. | |
Als der Vulkan auf der Insel Sumbawa ejakulierte, sorgte das auf der ganzen | |
Welt für monatelang anhaltendes Sauwetter. Die Folgen der durch Gase und | |
Staub verursachten Klimaveränderungen: Missernten und Hungersnöte in Europa | |
und Nordamerika. Das Jahr 1816 avancierte zum „Jahr ohne Sommer“. In den | |
USA spricht man vom Jahr „Eighteen hundred and froze to death“: | |
Achtzehnhundertarschkalt, frei übersetzt. | |
Kurzum: Es war alles fast so schlimm wie heute. Auch politisch. Der junge | |
württembergische König Wilhelm I. zählte anno 1818 gerade mal 36 Lenze, | |
eine Art Sebastian Kurz seiner Zeit. Um die Landwirtschaft wieder auf | |
Vordermann zu bringen, gründete er die „Landwirtschaftliche Unterrichts-, | |
Versuchs- und Musteranstalt“ in Hohenheim, die mittlerweile als | |
Versageruniversität Hohenheim bekannt ist. Tausende seelenlose | |
BWL-Studenten lernen dort, wie man mit Lebensmittelspekulation und dem | |
Hunger anderer ekelhaft reich werden kann. | |
Noch verheerender indes war die Schnapsidee des Königs, fortan jährlich ein | |
„am 28. September zu Kannstadt abzuhaltendes landwirtschaftliches Fest“ zu | |
veranstalten. Unter dem inzwischen als „Cannstatter Volksfest“ firmierenden | |
„Event“ leiden die Stuttgarter noch heute. | |
Im Jahre 2018 hadern zwar die wenigsten im Ländle mit | |
Nahrungsmittelknappheit, dafür ist die größte Sorge des Volksfestbesuchers, | |
beim Festzeltbetreten noch nicht ritzeratzevoll zu sein. Deshalb sitzen | |
über die zwei Festwochen hinweg jeden Tag Schwäbisch schwätzende Menschen | |
in bajuwarisch anmutender Kleidung in der U-Bahn und stürzen flaschenweise | |
Wodka-Bull hinunter. Und das schon morgens um zehn – wenn anständige | |
Menschen noch im Bett liegen. | |
Die urdeutsche Faschistenfreude an der Uniformierung tritt während des | |
Cannstatter Volksfests besonders deutlich hervor, kauft der Schwabe doch | |
zum Fest spottteure Trachtenmode, weil alle anderen es halt auch machen. | |
Immerhin erinnern die Wasengänger zu vorgerückter Stunde in der Innenstadt | |
an den verantwortlichen Vulkanausbruch. Allerorts huldigt die berauschte | |
Bevölkerung dann ihrem Volksfestpatron Tambora mit eigenen Ausbrüchen: | |
Erbrochenes tropft von Kniebundstrümpfen, verlaufener Mascara strömt über | |
Dekolletés. Althergebrachte Schwabenspeisen zieren die Straßen: Kebab, | |
Lángos, Chop Suey. | |
Heute eröffnet der Wasen, und wer von dem irren Treiben nicht genug | |
bekommen kann: Es gibt an gleicher Stelle ja noch das Stuttgarter | |
Frühlingsfest. | |
28 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Cornelius Oettle | |
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