# taz.de -- Die Wahrheit: Krumm gewachsener Schnabel | |
> Neues von der Sprachkritik: Gesprochene Sprache ist und bleibt irgendwie | |
> … äh, ja, mmh – keine geschriebene Sprache. | |
Bild: Manchen Sprechern liegt das Herz leider auf der Zunge | |
Luther schaute dem Volk aufs Maul – dass er ihm nicht auch nach dem Maul | |
schrieb, beweist seine Bibelübersetzung. Sie wäre unlesbar. | |
Eine Schreibe ist keine Spreche. Was in jener verkehrt wäre, ist in dieser | |
an der Tagesordnung: Wiederholungen, dann auch so Füllsel und äh, Urlaute, | |
falsche und falsch flektierte Worte, nee: Wörter, außerdem Wiederholungen | |
sowie abgebrochene Sätze, die unvollständig – aber Miene, Gebärde, Stimme, | |
Betonung und situativer Kontext lenken das Verständnis schon in die | |
gewünschte Richtung. Und Wiederholungen! | |
Die Schriftsprache erreicht das durch vollständige Sätze, korrekte | |
Wortformen, passgenaue Wortwahl und akkurate Wortstellung. Radio und | |
Fernsehen liegen irgendwo dazwischen: Moderatoren und Gäste orientieren | |
sich am geschriebenen Deutsch, aber ausschließlich in druckreifen Sätzen | |
reden konnte nur Adorno. | |
## Mit oder ohne der die CSU | |
Für alle anderen gilt, dass die Aufnahmefähigkeit nicht nur der Hörer, | |
sondern auch die eigene begrenzt ist. „Viele Unterstützer sehen einfach | |
keine Alternative, mit der die CSU 2018 bei der Landtagswahl die absolute | |
Mehrheit verteidigen und mit der sie ihren Einfluss in Berlin sichern | |
könnte.“ Geschrieben bräuchte es die Wiederaufnahme von Konjunktion und | |
Nebensatzsubjekt nicht, weil man zurücklesen kann. Doch was Leser sich | |
merken können, muss für Hörer ausgesprochen werden. Über die chinesische | |
Kulturrevolution: „Die Wahrsagerei ist eine der wenigen Traditionen, die | |
den Angriffen der Kommunisten auf chinesische Traditionen getrotzt haben.“ | |
Typisch sind ferner deiktische Elemente, also Pronomen, die auf bereits | |
Gesagtes verweisen: „Der Hype um die Partei, die keine richtige Partei sein | |
will, der ist Vergangenheit.“ Oder: „Als er Mitte der 70-er Jahre die | |
Fraktion seiner Partei im Gemeinderat führte, da hielt die SPD dort 27 | |
Sitze.“ Die Freistellung eines Satzglieds, sie erfolgt sogar bei sehr | |
kurzen Sätzen: „Beethovens Neunte, sie klingt so:“ | |
Um Wichtiges hervorzuheben, dazu dienen sie, solche Isolierungen. Und | |
Wiederholungen! „Am vergangenen Freitag ist die neue Vogue erschienen, und | |
schon zwei Tage zuvor, als schon das Cover veröffentlicht wurde, war klar, | |
dass“ hier Tempo gemacht wurde. Zweimal sagen musst du etwas auch, damit | |
eine Information nicht gleich wieder vergessen wird – und wenn man selbst | |
vergesslich ist: „Paracelsus fand heraus, dass heilsame Substanzen in | |
Überdosierung tödlich sein können – und in angemessener mitunter auch | |
heilsam.“ | |
## Jürgen Klopp fehlte an der Seitenlinie | |
Und auch die Wortstellung, sie ist variabler. „Jürgen Klopp fehlte wegen | |
einer Operation an der Seitenlinie“: Gedruckt wäre das komisch; das Ohr | |
merkt’s womöglich nicht, weil es statt des Gesagten nur das Gemeinte | |
heraushört. | |
Weiter im Text, es wird pingelig! In der Schriftsprache werden | |
Bedeutungsnuancen durch syntaktische Feinheiten zum Ausdruck gebracht. Die | |
Frage: „Warum gibt es kaum laute Kritik am Islamismus in der arabischen | |
Welt?“, ließe Leser stutzen, weil es die Kritik ja gibt. Schriftlich müsste | |
man fragen: „Warum gibt es in der arabischen Welt kaum laute Kritik am | |
Islamismus?“ | |
Wenn es über einen gewissen Grogan heißt: „Grogan kriegt immer nicht alles, | |
was er will“, dann wird damit gesagt, dass er nie alles kriegt; verstanden | |
wird aber zu Recht, dass er nicht immer, also ab und zu nicht alles kriegt. | |
„Das nächste Spiel gegen Freiburg geht 0:2 verloren“? Nö, nicht das näch… | |
Spiel gegen Freiburg, sondern das nächste Spiel geht gegen Freiburg 0:2 | |
verloren. Und jenes Rettung verheißende Geschäft, „das ein nur dünner | |
Strohhalm“ ist – statt eines dicken? Weil „nur“ an der falschen Stelle | |
steht! | |
## Das finite Verb | |
Gang und gäbe ist es, das finite Verb auch im Nebensatz an die zweite | |
Stelle zu pflanzen: „Es gibt Experten, die sehen darin“ usf. Sogar holprig | |
und fehlerhaft darf die Syntax sein; Hauptsache, man ist verstanden: „Ihre | |
Stimme war der AfD-Europaabgeordnete Marcus Pretzell und neuer AfD-Chef in | |
NRW.“ Auch Präpositionen können fehlen: „Die Studie ist die größte übe… | |
Bewerbung und Vergabe von Stipendien“ – eine Bewerbung „von“ statt „u… | |
Stipendien wäre gedruckt so verkehrt wie die skurrile Beobachtung „von zwei | |
Männern in dunklem Gewand und geflochtenem Zopf“. Selbst Widersprüche gehen | |
glatt durch: „So sind etliche Unternehmen nur selten darauf ausgerichtet, | |
bestimmte Daten zu bestimmten Zeiten zu löschen.“ | |
Gesprochenes Deutsch ist unordentlich. Die Regeln der Schriftsprache, sie | |
gelten nicht, und man spricht, wie er einem wächst gerade, der Schnabel. | |
Geschrieben muss alles regelkonform sein; dafür hat man Zeit zum | |
Formulieren und Korrigieren. Wenn man sie denn nutzte! Die Zitate stammen | |
nämlich nicht aus Radio und Fernsehen, sondern aus gedruckten Quellen, aus | |
Zeitungen, Sachbüchern und einem Roman. Aus Luthers Bibel kein einziges. | |
25 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
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