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# taz.de -- Die Wahrheit: Sich die Haare rauf!
> Sprachkritik: Eine neue Zeit schlägt sich offenbar grammatikalisch im
> Tempus nieder. Jetzt gibt es schon ein Futur III.
Bild: Manche Sprecher züngeln sich falsch durch Raum und Zeit
Wirklich, wir leben in verrückten Zeiten! Nachdem im April das deutsche
Tennis-Davis-Cup-Team in Valencia gegen das spanische gespielt hatte,
resümierte die taz: „Die Spanier hatten seit 1999 auf heimischen
Territorium nicht mehr verloren.“ Aber das Gegenteil traf zu: Sie hatten
mit 3:2 gewonnen, sind nach wie vor ungeschlagen und haben seit 1999 nicht
mehr zu Hause verloren.
Zwei Monate später berichtete die taz anlässlich des französischen
Filmfestivals über Paul Newman als Regisseur: „Sein dritter Film, 1972
entstanden und im Wettbewerb von Cannes zu sehen, ist beachtlich.“
Beachtlich mag er sein, aber im Wettbewerb von Cannes 1973 war er zu sehen
gewesen.
Filme hebeln scheinbar die Zeit aus, weshalb vielleicht auch in der
Filmkritik Vergangenheit und Gegenwart leicht durcheinander gehen. Die
Hannoversche Allgemeine versucht sich an der Inhaltsangabe von „The
Notebook“: „Allies wohlhabende Eltern sind gegen die Verbindung und
verbieten ihrer Tochter, Noah wiederzusehen. Erst viele Jahre später kamen
die Liebenden für immer zusammen.“ Und das Göttinger Tageblatt meldet: „V…
wenigen Tagen hat der neue Imagefilm, mit dem der Verein Göttingen
Tourismus für die Stadt wirbt, im Kaufpark Premiere.“
## Loop des Zeitpfeils
Aber es geht auch ohne Film: „Freitagabend war Eröffnungsparty des neuen
taz-Hauses. Angekündigt sind ein Flying Buffet, eine Rede von Olaf Scholz
und“ – Achtung! – „ein Zeitraffer-Loop.“ Mag sich der Zeitpfeil drau�…
der Realität nur in eine Richtung bewegen – in der Medienwirklichkeit loopt
er wie verrückt.
Der Epochenbruch, der gerade stattfindet, scheint sich auch grammatikalisch
niederzuschlagen, im Tempus. Es beginnt eine neue Zeit – und die deutsche
Sprache hält mit: Es gibt nicht mehr nur Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, es braucht mehr als Präsens, Perfekt, Imperfekt, Plusquamperfekt,
Futur I und Futur II. „Lawrence hatte ,Mr. Noon' als Kurzgeschichte
konzipiert gehabt“, weiß die Hessische/Niedersächsische Allgemeine, und
Peter Handke kann (im „Nachmittag eines Schriftstellers“) das
Plusplusquamperfekt genauso schlecht: „Von nicht wenigen hatte er ihr
ganzes Leben erfahren und schon am folgenden Tag das meiste vergessen
gehabt.“
Besser macht es sein österreichischer Landsmann Michael Ziegelwagner.
Korrekt durch die Form der Vorvorvergangenheit markiert er im Roman „Der
aufblasbare Kaiser“ die Chronologie: „Dann merkte sie, dass es ihr auf ein
zweites Dankeslächeln angekommen war, wo sie doch schon das erste nicht
verdient gehabt hatte.“
Ja, ja, es geht um die berühmt-berüchtigte Consecutio temporum, die, wie
die neuen Beispiele zeigen, nicht nur praktiziert, sondern sogar ausgebaut
und verfeinert werden kann. Die Zukunft hingegen, die allen Futurologen zum
Tort unvorhersehbar ist, lässt sich nicht analog erweitern. Versucht wird
es trotzdem. Man „ahnt, welchen Preis dieser Mann in den Achtzigern und
Neunzigern noch zahlen werden wird“, schrieb der Spiegel in einer Rezension
über einen Romanhelden; der Deutschlandfunk unkte über Obama, „dass er
viele ungeklärte Probleme hinterlassen werden wird“.
## Neue Formen der Zukunft
Offenbar handelt es sich um eine Art Futur III oder eher Futur I½, denn
weiter als mittels Futur II wird niemand die Zukunft jemals beschrieben
haben. Aber es klappt ja schon nicht mit dem Futur II! „Zwölf Jahre hatte
Stegner das Amt dann inne“, wagt die taz nach Stegners Rücktritt als
Landesvorsitzender der SPD Schleswig-Holstein den Blick in eine vollendete
Zukunft, weshalb es „wird innegehabt haben“ heißen muss. Oder hätte heiß…
müssen? Hätte geheißen zu heißen geheißt worden sein?
Mit Zeit und Tempus, das wusste schon Hans Reimann in seinem „Handbuch der
deutschen Sprache“, ist es so eine Sache. „Das Spiel hat sich gedreht“ ist
Perfekt, also Vergangenheit? Nein, Gegenwart. „Da wird er sich geschnitten
haben.“: Futur II? Ja, aber Vergangenheit! Man klingelt vergeblich an der
Wohnungstür: „Sie werden nicht da sein.“ Futur I? Schon, und doch
Gegenwart! „Ich wollte bloß fragen, wie …“ Ebenfalls Gegenwart! „Wann …
unser Flieger nach Dings?“ Zukunft! „Wirst du endlich die Klappe halten?“
Ein Befehl – also eigentlich: Imperativ! „Ich hätte gern ein Bier. “ –
ebenfalls! Und im Comic: „Schlürf, schlürf!“ – endlich ein richtiger
Imperativ? Nö, Präsens, Gegenwart. „Sich die Haare rauf!“ möchte man da
seufzen – und wieder kein Imperativ, sondern eine zweite neue Form: der
Inflektiv oder, nach der großen Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs, der
Erikativ.
Ja, die Zeiten sind relativ, und die moderne Physik ist schuld. Mehr noch!
„Die verspiegelten Fassaden der mächtigsten Geldinstitute der Welt“,
rapportiert die taz aus New York, „stehen hier bisweilen so dicht, dass“
man sogar erkennt: Zeit ist Raum, und Raum ist Zeit. Jedenfalls bisweilen!
7 Nov 2018
## AUTOREN
Peter Köhler
## TAGS
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