| # taz.de -- Gegenwind für Ökodorf-Gründung: „Okay, aber nicht hier“ | |
| > Am Rande von Hitzacker wollen 300 Menschen eine Dorfgemeinschaft | |
| > aufbauen. Nicht allen gefällt die Idee. Ökos passen nicht hierher, finden | |
| > sie. | |
| Bild: Gemeinschaft im Entstehen: Hitzacker/Dörfler*innen beim Essen | |
| Hitzacker taz | Alle haben schon über sie berichtet: der NDR, die Zeit, die | |
| Süddeutsche. Aber nie haben sie sich richtig verstanden gefühlt. Und | |
| trotzdem wollen die GenossInnen noch mal davon erzählen – von ihrem | |
| Projekt, ein Dorf am Rande von Hitzacker zu bauen. Nicht alle in der | |
| 4.900-Menschen-Gemeinde finden das gut. | |
| Es ist der erste Samstag im September, die Sonne scheint. Rita Lassen steht | |
| in der Tür des Kulturbahnhofs in Hitzacker und winkt. Noch auf den Stufen | |
| vor der Tür gibt sie mir die Hand. Die anderen seien auch schon alle da, | |
| sagt sie im Reingehen über die Schulter hinweg. „Um 13 Uhr muss ich leider | |
| weg, aber die anderen können ja sonst auch noch deine Fragen beantworten.“ | |
| Die 67-jährige Unternehmensberaterin ist nervös. | |
| In einem hellen Raum mit orangefarben Wänden warten „die Anderen“. Das sind | |
| die GenossInnen Jutta, Manfred, Uwe und Käthe, Ritas Partnerin. Die meisten | |
| von ihnen haben graue Haare. Uwe macht noch einen Tee, während sich der | |
| Rest an zwei zusammengeschobene Tische setzt, die Stühle sind bunt | |
| zusammengewürfelt. | |
| Die Idee zu dem Projekt, das inzwischen einfach Hitzacker/Dorf heißt, | |
| hatten zwei der GenossInnen im Jahr 2015, als viele Flüchtlinge nach | |
| Deutschland kamen. Wie kann man mit den ganzen neuen MitbürgerInnen | |
| umgehen, fragten sie sich, wie kann man Wohnraum schaffen? Und auch: Wie | |
| kann man das Leben auf dem Land für junge Menschen wieder interessanter | |
| machen? | |
| Hitzacker/Dorf soll Platz für 300 Menschen bieten: 100 Geflüchtete, 100 | |
| Ältere, 100 Jüngere. In 37 Häusern am Rand der Gemeinde sollen sie wohnen, | |
| das erste Haus ist inzwischen im Bau. Bis jetzt sind rund 160 künftige | |
| Bewohner dabei. Für 500 Euro wird man GenossIn, dann darf man mitbestimmen. | |
| Wohnungsanteile kosten noch mal extra, 10.000 bis 20.000 Euro die Wohnung. | |
| Dazu kommt die Miete. | |
| Rita schaut genau hin. Wenn ich nicht mitschreibe, um sie anzusehen, sieht | |
| sie zu meinem Notizblock. Wenn sie das Gefühl hat, ich könnte etwas | |
| wichtiges nicht notiert haben, wiederholt sie es. „Ich glaube das ist | |
| wichtig, um das Projekt zu verstehen“, sagt sie dann. Um das Projekt geht | |
| es ihr, sie will nicht, dass es nur um den Konflikt darüber geht. | |
| Während Rita redet, sitzt ihre Partnerin neben ihr, die Hände im Schoß | |
| verschränkt, und lächelt mit den Augen durch ihre anthrazitfarbene, | |
| sechseckige Brille. Die pensionierte Pastorin sagt: „Jetzt ist das | |
| Wichtigste, die Häuser zu bauen.“ | |
| ## Jurte und Bauwagen | |
| Der Ort, an dem Hitzacker/Dorf entsteht, liegt jenseits der Bahngleise, | |
| direkt neben einem Gewerbegebiet. Auf dem Bauland stehen eine Jurte und ein | |
| blauer Bauwagen, für die GenossInnen, die übers Wochenende auf der | |
| Baustelle arbeiten und einen Platz zum Übernachten brauchen. Auf dem Boden | |
| der Jurte liegen Matratzen im Kreis, auf ihnen bunte Decken. | |
| Ein paar Schritte weiter stehen zwei Container, die die | |
| „EigenleisterInnen“, so nennen sich die zukünftigen BewohnerInnen, als | |
| provisorische Werkstätten nutzen. Daneben sind ein paar Löcher im Boden, in | |
| einem ist die Erde verkohlt. Hier haben die GenossInnen alte Feuerstellen | |
| gefunden – die Überreste von archäologischen Untersuchungen. Trotz der | |
| Funde dürfen sie weiterbauen. | |
| ## Standortfaktor Ökodorf | |
| Für Ralf Prahler ist das eine Niederlage. Prahlers Fabrik liegt direkt | |
| neben dem Bauplatz. Von seinem Büro aus kann er die Baustelle beobachten. | |
| Von dort hat er auch die schwarzen Flecken gesehen, als die Dörfler | |
| begonnen haben, die ersten Gruben auszuheben. Der 59-Jährige rief die | |
| Bauaufsichtsbehörde an und wies sie auf die archäologischen Funde hin. | |
| „Ich finde das ja eine gute Idee, aber eben nicht hier“, sagt er. „Wer wi… | |
| denn einen Standort direkt neben so einem Ökodorf?“ Eine Mitarbeiterin | |
| kommt in sein Büro und legt ihm Post auf den Schreibtisch. „Sie hat | |
| gebacken“, sagt Prahler und nimmt noch einen Kaffee und ein Stück | |
| Apfelkuchen. | |
| Mit der Gabel zeigt Prahler auf einen Stapel Unterlagen neben seinem | |
| Teller: Es ist der Planungsentwurf der Genossenschaft, den er sich von | |
| deren Internetseite gezogen hat. „Den hatte der Stadtrat noch nicht mal | |
| gesehen, bevor ich ihm den gezeigt habe.“ Zu sehen sind Zeichnungen der 37 | |
| Häuser an kurvigen Wegen. Am Ende gibt es einen Platz mit der Abbildung der | |
| Blume des Lebens, ein esoterisches Symbol. | |
| ## Häuser-Bau mit Holz und Lehm | |
| Auf dem Grundstück steht in einer Grube das erste Haus aus Holz und Lehm. | |
| Es ist fast fertig: Die Wände stehen schon, das Dach ist drauf, nur Fenster | |
| und Türen fehlen. Drinnen sieht man die Leitungen an den Wänden aus | |
| Lehmziegeln, der Putz ist noch nicht drauf. Wann das Haus fertig wird, | |
| hängt davon ab, wie viele Leute auf die Baustelle kommen, um mitzuarbeiten, | |
| und wie viel Zeit sie mitbringen. | |
| Zwei geflüchtete Familien sind schon dabei, auch wenn sie den | |
| obligatorischen Anteil von 500 Euro nicht bezahlt haben. Dafür zahlen | |
| andere mehr. Aus dem Solidaritätsfonds werden alle unterstützt, die selbst | |
| nicht genug Geld haben. Die Familien aus Afghanistan und Syrien helfen beim | |
| Bauen mit, eine Frau hat schon ein kleines Gemüsebeet auf dem Grundstück | |
| angelegt. Eine besondere Integration braucht es da nicht. „Ihr redet viel | |
| zu viel“, hatte einer der Geflüchteten am Anfang zu den GenossInnen gesagt, | |
| als sie die Familien in die Planung miteinbeziehen wollten. | |
| Eines der beiden Grundstücke, auf denen Hitzacker/Dorf entstehen soll, | |
| haben die GenossInnen schon gekauft. Für das zweite Grundstück brauchen sie | |
| einen Kredit. „Etwa 1,4 Millionen Euro des Eigenkapitals haben wir schon | |
| zusammen, da schaffen wir den Rest auch noch“, sagt Rita zuversichtlich. | |
| Von einem besonderen „Spirit“ spricht Käthe, und von „Gemeinschaft“. V… | |
| hätten gleich zu Beginn ihre Wohnungsanteile gekauft. | |
| ## Hitzacker/Dorf wird kommen | |
| Der Rest, das sind noch 190.000 Euro. Aber alle hier sind sich einig: | |
| Hitzacker/Dorf wird kommen. Und vielleicht danach noch mehr Dörfer wie | |
| dieses. Die GenossInnen haben ein eigenes Wiki angelegt, in dem jedeR | |
| nachlesen kann, wie man das macht: sich ein eigenes Dorf bauen. Das erste | |
| Haus ist der Prototyp für alle, die danach kommen. | |
| Im alten Dorfkern von Hitzacker, vor einem der roten Klinkerhäuser, sitzen | |
| drei ältere Damen auf der Treppe zwischen den Blumenkästen. Die Haustür | |
| steht offen und aus dem Inneren weht ein kühler Luftzug auf die | |
| spätsommerlich warme Straße. Drinnen ist es aufgeräumt. Eine der Damen will | |
| zu dem neuen Dorf nichts sagen und geht. „Bevor ich es vergesse, Harald hat | |
| sich den Oberschenkelhals gebrochen“, ruft sie noch. Die anderen wollen | |
| ihre Namen nicht in der Zeitung lesen, aber sie reden. | |
| „Wir können da ja eigentlich gar nix drüber sagen“, sagt die eine. Mit dem | |
| Rücken lehnt sie an den Klinkern, einen Fuß auf den Stufen abgestellt. Zu | |
| sagen haben sie dann aber einiges über das „Ökodorf“. Das passe einfach | |
| nicht hierher. „Wenn ich die Männer in ihren Pumphosen sehe, krieg’ ich | |
| schon einen zu viel. Ich komm’ aus Hamburg, wissen Sie.“ | |
| ## Der Sprung zur Kleinstadt | |
| Sie sind nicht die einzigen, die finden, dass die „Ökos“ nicht hierher | |
| passen. Auch Prahler hat was auszusetzen. „Es gibt hier auch viele Leute, | |
| die nichts gegen Gorleben haben“, sagt er. Er zeigt auf eines der Häuser | |
| auf dem Plan, der auf seinem Schreibtisch liegt. „Hier planen die ein | |
| Gesundheitszentrum. Wie blöd muss man denn sein, wenn man das direkt neben | |
| Ceras Lüfter setzt?“ | |
| Ceratizit, das ist der andere Nachbar von Hitzacker/Dorf. Je näher man dem | |
| Firmengebäude kommt, um so lauter wird das monotone Brummen, das die | |
| Lüftungsanlage von sich gibt. Bisher hatte die Stadt den Lärm der Anlage | |
| geduldet, die eigentlich den vorgegebenen Grenzwert überschreitet. Aber | |
| wenn das direkt angrenzende Grundstück bewohnt ist, wird das nicht mehr | |
| gehen. | |
| Um den Konflikt zu befrieden, hat die Stadt Hitzacker Ceratizit angeboten, | |
| die Kosten von 50.000 Euro für den Umbau der Lüftungsanlage zu übernehmen. | |
| Bisher sei der Konzern aber nicht auf das Angebot eingegangen, sagt | |
| Bürgermeister Holger Mertins (FDP). | |
| ## Aufstieg zur Kleinstadt | |
| Wir sind an diesem sonnigen Nachmittag im Eiscafé auf dem Marktplatz von | |
| Hitzacker verabredet, Mertins Stellvertreterin Julie Wiehler ist auch da. | |
| Viel Zeit haben die beiden nicht, Mertins hat noch einen Zahnarzttermin und | |
| Wiehler muss die Kinder vom Schwimmen abholen. | |
| Einige der GegnerInnen von Hitzacker/Dorf argwöhnen, dass die GenossInnen | |
| außergewöhnlich leicht an die Grundstücke gekommen sind, weil die Stadt ein | |
| Interesse an der Ansiedlung hat: Mit den 300 neuen Einwohnern würde sie den | |
| Sprung über die 5.000er-Marke schaffen und zur Kleinstadt aufsteigen. Das | |
| spielt für viele Unternehmen eine Rolle bei der Entscheidung für einen | |
| neuen Standort. Kleinstädte erhalten außerdem mehr Fördermittel von Bund | |
| und Ländern. | |
| Haben Sie das Projekt Hitzacker/Dorf besonders unterstützt? Wiehler, von | |
| Beruf Rechtsanwältin, kontert: „Wir finden das Projekt gut, aber worauf | |
| wollen sie hinaus?“ Die Einwohnerzahl von 5.000 sei bloß eine | |
| „psychologische Grenze“. Finanzielle Förderung erhielten die GenossInnen | |
| von der Stadt nicht, sagt Mertins. „Das dürfen wir ja auch gar nicht“, | |
| ergänzt Wiehler. | |
| ## Transparente an der Grundstücksgrenze | |
| Und was sagen Sie zu der Kritik aus Nachbarschaft und Stadtrat? „Die haben | |
| sich das Grundstück gekauft, also können sie das jetzt auch bebauen, wie | |
| sie möchten“, sagt Mertins. Kritiker gebe es immer, sagt er und nippt an | |
| seinem Cappuccino. Der Bürgermeister und seine Stellvertreterin gehören | |
| nicht dazu. | |
| Drei Wochen später werden die GenossInnen zum Tag der offenen Tür einladen. | |
| Viele Leute aus der Nachbarschaft und dem Wendland seien gekommen, erzählt | |
| Rita später am Telefon. „Es war ganz wunderbar.“ Denn es gibt auch viele | |
| Leute, die das Projekt gut finden. | |
| Leider sei keiner der „alten Männer“ aus dem Dorf oder der KritikerInnen | |
| aus dem Gewerbegebiet persönlich vorbeigekommen, sodass man über deren | |
| Befürchtungen hätte sprechen können, sagt Rita. Nur Ralf Prahler hat an der | |
| Grundstücksgrenze einige Transparente aufgestellt, um aus seiner Sicht das | |
| Projekt zu erklären. Auf das Grundstück selbst darf er seit einigen Monaten | |
| nicht mehr – Prahler hat Hausverbot. | |
| „Vielleicht schickst du mir die Zitate noch mal zu, bevor ihr den Artikel | |
| veröffentlicht?“, sagt Rita bei unserem letzten Telefonat. „Nicht, dass ich | |
| der taz nicht vertrauen würde. Einfach nur, um sicher zu gehen, dass du | |
| alles richtig verstanden hast.“ | |
| 21 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Maren Knödl | |
| ## TAGS | |
| Hitzacker | |
| Wendland | |
| Gorleben | |
| Wohngemeinschaft | |
| Alternatives Wohnen | |
| Dorf | |
| Kleinstadt | |
| Bremen | |
| Berliner Bezirke | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Einwohnerrückgang auf dem Land: Leider geschlossen | |
| In Berne, gegenüber von Bremen, lässt sich besichtigen, was in vielen | |
| kleinen Gemeinden geschieht: Die Bevölkerung vergreist, Zuzug bleibt aus. | |
| Stadtentwicklung in Bremen: Baugemeinschaften außen vor | |
| Seit fast zehn Jahren hat Rot-Grün vor, alternative Wohnformen zu fördern. | |
| Die Verwaltung aber arbeitet dagegen und die Politik guckt weg | |
| Stadtgeschichte: Kunst ist Leben | |
| Das legendäre Hausprojekt „KuLe“ feiert ab Freitag das Erscheinen eines | |
| Buches über die Geschichte und Gegenwart einer gelebten Utopie |