# taz.de -- Lehren aus der Lehman-Pleite: Gemeinwohlinteressen zuerst | |
> Vor zehn Jahren brachte die Pleite der US-Bank die Finanzmärkte ins | |
> Straucheln. Diese sind nun größer den je – und sollten geschrumpft | |
> werden. | |
Bild: Auf der einen Seite ist viel zu holen, auf der anderen weniger | |
Zehn Jahre nach der [1][Pleite der US-Bank Lehman Brothers am 15. September | |
2008] sind die Finanzmärkte dominanter als je zuvor. Zwar hat es seitdem | |
viele durch die G20 koordinierte Reformen gegeben. Doch die Finanzmärkte | |
sind nach wie vor zu groß. Sie sind trotz Finanzkrise sogar | |
weitergewachsen. | |
Allein in der Eurozone übersteigt das Finanzvermögen den Wert realer Güter | |
und Dienste heute um mehr als das Fünfzehnfache. 2008 war es noch rund das | |
Elffache und 2000 gut das Doppelte. Der Eigenhandel der Finanzinstitute | |
untereinander überwiegt weit vor produktiven Investitionen. Auch | |
Supermärkte und andere realwirtschaftliche Unternehmen erzielen ihre | |
Gewinne verstärkt im Finanzhandel. Weil das Lohnwachstum hinter dem | |
Wirtschaftswachstum zurückgeblieben ist, sind Finanzanlagen oft lukrativer | |
als produktive Investitionen. Denn die rentieren sich nur bei kaufkräftiger | |
Nachfrage. | |
Zum einen schafft ein solches Finanzsystem Risiken, statt | |
realwirtschaftlich zu managen, was die eigentliche Aufgabe von | |
Finanzinstituten ist. Zum anderen beeinträchtigt es unseren Alltag, indem | |
es Lebensbereiche dem Renditestreben aussetzt. Gewinnorientierte | |
Finanzierungen wie von Gesundheit, Mobilität und Wasserversorgung führen | |
häufig zu Preiserhöhungen, Qualitätseinbußen und dem Ausschluss von | |
Personen. So wurden, obwohl ökologisch und sozial sinnvoll, mit der | |
Vorbereitung auf den Börsengang der Deutschen Bahn zuhauf Bahnhöfe in | |
ländlichen Regionen geschlossen. | |
Das Wichtigste bleibt daher, die Finanzmärkte zu schrumpfen. Vielmehr ist | |
die öffentliche und nicht renditeorientierte Finanzierung zu stärken. Das | |
ist auch eine Grundvoraussetzung, um die Nachhaltigkeitsziele der UNO | |
erreichbar zu machen. Angesichts der massiven Ungleichheit nicht nur von | |
Einkommen, sondern auch Vermögen, wären Vermögensteuern eine geeignete | |
Einnahmequelle, um öffentliche Investitionen zu finanzieren. | |
Das Mantra öffentlicher Sparpolitik ist jedoch allgegenwärtig. Es setzt | |
sich fort, wenn es um die Nachhaltigkeitsziele und das Pariser | |
Klimaabkommen geht. Deren Finanzierung sei in erster Linie mit privaten | |
Geldern zu stemmen, heißt es in zahlreichen Dokumenten und Reden. Die | |
EU-Kommission hat dieses Jahr einen entsprechenden Aktionsplan vorgelegt: | |
Braune Investitionen wie in Kohle sollen in grüne umgelenkt werden. Die | |
Finanzbranche wirbt dazu für Steuererleichterungen und niedrige | |
regulatorische Standards wie geringere Eigenkapitalanforderungen. Letzteres | |
gibt es bereits unter dem Vorwand, Kredite an kleine und mittelständische | |
Unternehmen zu fördern – ohne positive Wirkung. Derlei Geschenke an den | |
Finanzsektor wären ein Schritt zulasten von Finanzmarktstabilität im Namen | |
von Grün. Nachhaltigkeit erfordert in erster Linie, private Gelder zu | |
öffentlichen umzulenken. | |
Es ist ein – später – Erfolg, dass nach der Lehman-Pleite neue | |
Institutionen wie eine europäische Finanzaufsicht und international | |
koordinierte Reformen entstanden sind. Schwerwiegende Finanzkrisen sind | |
bereits seit den 1970ern, als der Regulierungsabbau begonnen hatte, | |
vermehrt aufgetreten. Dazu zählt die Asienkrise von 1997. Doch jetzt waren | |
erstmals die USA und die EU in bisher unbekanntem Ausmaß betroffen. | |
Ein Kernelement der G20-Reformen sind neue Eigenkapitalstandards für | |
Banken. Sogar Länder über die G20 hinaus wie Malaysia haben sie umgesetzt. | |
Mangelndes Eigenkapital war mit ein Hauptgrund für die Krise gewesen, da | |
Banken Verluste nicht abfangen konnten. Unter anderem müssen Banken ihr | |
Gesamtgeschäft nun zu mindestens 3 Prozent aus Eigenkapital finanzieren. | |
Die übrigen 97 Prozent dürfen auf Pump sein. Dieser Verschuldungsgrad ist | |
weiterhin viel zu hoch. Bis zu den 1970ern, als das Management von Banken | |
meist persönlich haftete, war mit 20 Prozent deutlich mehr Eigenkapital | |
gängig. Heute sperren Banken sich dagegen: Schließlich sind die Boni an die | |
Eigenkapitalrendite geknüpft – und die ist umso höher, je stärker Banken | |
sich mit Kredit finanzieren. Die Bank of England und andere Studien | |
empfehlen wie bewährt 20 Prozent Eigenkapital. | |
Nachholbedarf besteht ebenfalls bei Schattenbanken – Fonds wie | |
Investmentfonds, Hedgefonds und Private-Equity-Fonds. Seit der Krise gibt | |
es zwar Berichtspflichten. Eigenkapitalerhöhungen kann die Finanzaufsicht | |
aber nur im Einzelfall verordnen. Ausreichend Eigenkapital ist jedoch | |
ebenso für die rasant gewachsenen Schattenbanken nötig. Zudem fördert die | |
hohe Verschuldung im Finanzsektor keine produktiven Investitionen, sondern | |
schädliche Wertpapier- und Immobilienblasen. | |
Auch im internationalen Kapitalverkehr kann nur von Reförmchen die Rede | |
sein. Das Problem: Zinsänderungen in den USA und der EU bestimmen darüber, | |
ob der Kapitalverkehr boomt oder einbricht. Sind die Zinsen dort niedrig, | |
fließen Gelder in Schwellenländer, wo die Renditen höher sind. Kündigen die | |
USA oder die EU höhere Zinsen an, strömen die Gelder zurück. | |
Kapitalverkehrsmanagement wie eine Besteuerung von früh abgezogenen Geldern | |
kann den Wechsel von Ebbe und Flut beruhigen. Bis zur Lehman-Pleite hatte | |
der Internationale Währungsfonds das strikt abgelehnt. | |
Das ist einer – allerdings viel zu eingeschränkten – Zustimmung gewichen: | |
Kapitalverkehrsmanagement soll nur ausnahmsweise und zeitlich eng befristet | |
erfolgen. Es muss jedoch permanent möglich sein. Für Banken ist es | |
selbstverständlich, sich vor Kapitalabflüssen durch die Kundschaft zu | |
schützen, so mit Kündigungsfristen für Sparkonten. Das muss umso mehr für | |
Staaten gelten. | |
## Reformschwerpunkt Vergütung | |
Ein weiterer Reformschwerpunkt war Vergütung. Boni hatten die Suche nach | |
schnellen Gewinnen angeheizt. Mittel- und langfristige Risiken waren | |
vernachlässigt worden. Die G20 einigten sich darauf, die Vergütung an der | |
langfristigen Entwicklung zu orientieren. Die EU hat Boni zusätzlich | |
gedeckelt – wenn auch sehr großzügig auf maximal das Doppelte vom | |
Festgehalt. Ein Provisionsverbot für Finanzberatung scheiterte hingegen in | |
der EU. Provisionen werden nur offengelegt – abgesehen von Schlupflöchern | |
wie für Versicherungen, die mit Krediten verknüpft sind. Der Ergebnis: Die | |
meisten Verträge laufen weiter an den Verbraucherinteressen vorbei, so der | |
Bundesverband der Verbraucherzentralen. Provisionsfreiheit, die in | |
Großbritannien und den Niederlanden praktiziert wird, kann demgegenüber | |
Verkaufsgespräche in Beratung wandeln. Mit Standardprodukten entfällt | |
ohnehin viel Beratungsbedarf, und selbst Honorarberatung kann | |
kostengünstiger sein als Provisionen. | |
Das einseitige Menschenbild, über Anreize wie Boni und Provisionen zu | |
motivieren, hat sich fortgesetzt. Doch Anreize – welcher Art auch immer – | |
entfremden tendenziell von der Sache an sich. Um sachorientiertes und | |
sinnerfülltes Arbeiten zu fördern, sollte die Hauptvergütung das Festgehalt | |
sein. Genau das haben Beschäftigte – wenngleich jenseits der | |
Managementebene – einiger US-Banken, angestoßen von der Bank Wells Fargo, | |
durchgesetzt. Überwindenswert sind ebenso nichtfinanzielle Verkaufsanreize: | |
Statt nur einen Teil des Personals zur Belohnung nach Hawaii fliegen zu | |
lassen, ist ein Betriebsausflug für alle die bessere Wahl. | |
Insgesamt ist die Qualität der Reformen stets im Eigeninteresse der | |
Finanzlobby konterkariert worden. Lobbyismus gehört zur Demokratie. Doch | |
das Übergewicht der Finanzbranche ist undemokratisch. Eine Lobbyabgabe | |
würde dem Ungleichgewicht entgegenwirken: Pro Geldeinheit, die Unternehmen | |
für Lobbying im Eigeninteresse ausgeben, würden sie eine Umlage für | |
Lobbying im Gemeinwohlinteresse zahlen. Werden zudem die Gehälter der | |
Finanzaufsicht an die der Branche geknüpft, wie der Ökonom Joseph Stiglitz | |
vorschlägt, wirkt das einem Braindrain entgegen. | |
## Finanzaufsicht stärken | |
Weiter ist die Finanzaufsicht mit einem Vorsorgemandat rechtlich zu | |
stärken: im Zweifel für den Schutz öffentlicher Interessen. Auch [2][für | |
Kryptowährungen], die bekannteste davon Bitcoin, ist ein Vorsorgeprinzip | |
angebracht, um Nutzen statt Schaden zu fördern, zumal technische | |
Entwicklungen schneller voranschreiten als politische Prozesse. Sie | |
schwanken extrem, da sie ohne Zentralbank auskommen. Werden sie zunehmend | |
im Zahlungsverkehr eingesetzt, kann das Krisen nach sich ziehen. Diese | |
Systemrisiken kommen zu individuellen Verbraucherrisiken und zur | |
anonymitätsbedingten Nutzung für kriminelle Geschäfte hinzu. | |
Demokratiedefizite weisen auch die G20 – im Gegensatz zur UNO ein | |
exklusiver Klub – auf. Die UNO hatte 2009 vorgeschlagen, einen von allen | |
UN-Mitgliedern gewählten wirtschaftlichen Koordinierungsrat zu gründen – | |
eine inklusive Variante und klein genug, um handlungsfähig zu sein. | |
Zugleich bleibt es wichtig, nationale Vorreiterpolitiken zuzulassen, denn | |
internationale Entscheidungen sind stets nur Minimalkonsense. Folglich | |
müssen Länder darüber hinausgehen können. | |
Ziel von Demokratie und insbesondere von Volksparteien darf keine Allianz | |
mit der Finanzbranche sein. Eine regulatorische Eiszeit oder ein Rückbau | |
von Reformen sind völlig fehl am Platz. Es gilt, Gemeinwohlinteressen | |
konsequent an die erste Stelle zu rücken. Dabei geht es nicht um viel oder | |
wenig Reform, sondern um ihre Wirksamkeit. | |
16 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Suleika Reiners | |
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