# taz.de -- Höhenflug der Grünen: Grün im Glanze dieses Glückes | |
> Mit der linksliberalen Offensive gelingt den Grünen gerade fast alles. | |
> Selbst der linke Flügel verstummt vorm Vorstandsduo. Doch ist man sich | |
> einig? | |
Bild: Jung, liberal, radikal: Robert Habeck und Annalena Baerbock | |
BERLIN taz | Robert Habeck neigt nun wirklich nicht dazu, die Dinge | |
kleinzureden. Wenn er über die anstehenden Landtagswahlen in Hessen und | |
Bayern spricht, nennt er sie entscheidend für die „Gesamtgeschichte der | |
Grünen“. Sie seien ein Gradmesser dafür, „ob es gelingt, eine demokratisc… | |
Mitte und auch eine Mehrheit für eine liberale, progressive, letztlich mut- | |
statt angstmachende Politik zurückzuerkämpfen“. Der Grünen-Vorsitzende | |
lehnt sich am Dienstag in einem ehemaligen Industriebau in | |
Berlin-Schöneberg zurück. | |
Kämpfen, Mut, Gesamtgeschichte. Mehr geht kaum. Habeck hat gerade bei einer | |
Vorstandsklausur mit Bayerns Spitzenkandidatin Katharina Schulze und dem | |
Hessen Tarek Al-Wazir beraten, die neben ihm sitzen. Es wird, glaubt man | |
Habeck, eine Riesenstory – natürlich auch seine Story. Habeck hat vor | |
Kurzem sein Ministeramt in Schleswig-Holstein aufgegeben und widmet sich | |
jetzt in Vollzeit dem Parteivorsitz. | |
Seitdem er und Annalena Baerbock im Januar an die Spitze gerückt sind, | |
gelingt den Grünen fast alles: Die Mitgliederzahl steigt. Die Partei liegt | |
in Umfragen im Bund bei 14 Prozent. In Bayern scheint gar eine kleine | |
Sensation möglich. Hier sehen Institute die Grünen bei bis zu 17 Prozent, | |
weit vor der schwächelnden SPD. Plötzlich wirkt das Ziel, die „führende | |
Kraft der linken Mitte“ zu werden, nicht mehr größenwahnsinnig, sondern | |
machbar. | |
Warum stehen die Grünen so gut da? Habeck und Baerbock kommen gut an, und | |
natürlich profitieren sie von der schwachen Performance der Großen | |
Koalition und der Dauerkrise der SPD. Aber gibt es noch andere Gründe? | |
## Neue Radikalität – die neue Lieblingsformel | |
Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt ist die erfahrenste Politikerin im | |
Leitungsteam. Sie führte schon die Bundestagsfraktion, als Joschka Fischer | |
noch im Auswärtigen Amt saß. 2013 kämpfte sie als Spitzenkandidatin an der | |
Seite Jürgen Trittins, 2017 an der Seite Cem Özdemirs. Sie sieht die | |
Jamaika-Verhandlungen als „Wendepunkt“. „Die Ernsthaftigkeit, mit der wir | |
uns dieser schwierigen Konstellation gestellt haben, wurde honoriert“, sagt | |
sie. Im November 2017 stabilisierten sich die Grünen bei 12 Prozent in den | |
Umfragen, auch wenn wegen des Ausstiegs der FDP keine Regierung zustande | |
kam. | |
Auch die Themen der Grünen haben gerade Konjunktur. Jeder, der im Sommer | |
mit dem Zug oder Auto durch Deutschland fuhr, sah ausgedörrte Felder in der | |
Sonne liegen. Viele lagen wegen der tropischen Hitze nachts wach. „Eine | |
lange abstrakte Bedrohung rückt an uns heran, sie wird im Alltag | |
erfahrbar“, sagt Göring-Eckardt. Je länger man aus Bequemlichkeit | |
weitermache wie bisher, desto radikaler müssten Maßnahmen gegen den | |
Klimawandel in Zukunft sein. | |
Neue Radikalität – das ist im Moment die Lieblingsformel aller | |
Spitzengrünen. Aus Göring-Eckardts Munde klingen solche Töne ungewohnt. In | |
der vergangenen Legislaturperiode standen sie und Özdemir für den Versuch, | |
die bürgerliche Mitte mit versöhnlichen Tönen zu umwerben. Keiner, so das | |
Motto, dürfe vor den Grünen Angst haben, auch die Wirtschaft nicht. Die | |
Folgen waren ein bemerkenswerter Verzicht auf harte Forderungen – und 8,9 | |
Prozent bei der Bundestagswahl. Nun übernimmt Göring-Eckardt den Sound der | |
neuen Parteispitze. Sie sortiert sich ein. Sie habe, sagt sie, noch nie so | |
gut mit einer Parteispitze zusammengearbeitet wie mit dieser. | |
Habeck und Baerbock positionieren die Grünen kantiger. Sie wollen Hartz IV | |
überwinden, einen Milliardenfonds zur Bekämpfung des Klimawandels oder | |
einen Neustart des Verfassungsschutzes. Inhaltlich rücken sie die Grünen | |
wieder nach links. Sie verbinden diese Korrektur aber mit habitueller | |
Offenheit und dem erklärten Anspruch, neue Milieus zu erschließen. Die | |
Grünen, lautet ein Mantra Habecks, müssten raus aus ihrer Nische. Bisher | |
scheint diese Kombi zu funktionieren. | |
## Es liege „buchstäblich was in in der Luft“ | |
In Bayern ist Habeck vor brechend vollen Bierzelten aufgetreten. 1.800 | |
Leute kamen zu einer Veranstaltung in Dachau. Dirndl und Lederhose, Bier | |
und Brezn – mit dem, was man sich unter klassischen Grünen-Milieus | |
vorstellt, hatte das nur noch wenig zu tun. Spitzenkandidatin Schulze | |
erzählt in dem Berliner Industriebau, dass ihre Partei Zuspruch aus | |
ungewohnten Ecken bekommt. So würden zum Beispiel viele Firmen wegen des | |
Fachkräftemangels gerne Geflüchtete als Azubis beschäftigen. Doch die | |
Ausländerbehörden stellten in dem von der CSU dominierten Land oft keine | |
Arbeitserlaubnis aus. Die IHK, Handwerkskammern oder Kirchen klopften bei | |
den Grünen an, erzählt Schulze. „Und sagen: Das kann doch nicht sein, könnt | |
ihr da nicht was machen?“ | |
Es liege „buchstäblich was in der Luft“ in Bayern, glaubt Schulze. Die | |
Grünen sammeln gerade WählerInnen der am Boden zerstörten SPD ein, aber | |
auch liberale Bürgerliche, die keine Lust auf Markus Söders rechte CSU | |
haben. Schulze und der Hesse Al-Wazir bedanken sich in Berlin ausdrücklich | |
beim Bundesvorstand für den Rückenwind. Auch das hat man von | |
Landespolitikern in den vergangenen Jahren nicht oft gehört. | |
Klar ist: Habecks und Baerbocks linksliberal ausgerichtete Charmeoffensive | |
kommt in der Partei gut an. Die Ökopartei präsentiert sich selten einig. | |
Allein dass die Grünen im Januar erstmals zwei Realos als Doppelspitze | |
wählten und auf die bis dahin penibel gepflegte Flügelarithmetik | |
verzichteten, [1][war eine historische Wende.] Einen wie Habeck hat die | |
Partei herbeigesehnt. Andernfalls hätte sie ihm die mehrmonatige | |
Übergangsfrist, in der er Parteichef und Minister sein durfte, nicht | |
gewährt. | |
## Werbung für linken Patriotismus | |
Auch linke Grüne zeigen sich vollauf zufrieden mit den beiden Realos. | |
Sozialpolitiker sind glücklich über die neue Betonung des Sozialen. Selbst | |
Ansagen, die früher für einen handfesten Flügelstreit gut gewesen wären, | |
werden toleriert. Habeck und Baerbock werben für einen linken Patriotismus. | |
Symbole wie die Nationalhymne oder -flagge wollen sie nicht den Rechten | |
überlassen. Ihrer Sommertour gaben sie den Titel „Des Glückes Unterpfand“. | |
Diesen Sound könnte man aus linker Sicht mit guten Argumenten hinterfragen. | |
Ist es wirklich ein drängendes Problem, den Begriff der „Nation“ | |
zurückzuerobern, wie es Habeck neulich im Tagesspiegel forderte? Fragt man | |
linke Grüne, warum es so gar keine Gegenwehr gibt, wird es still am Tisch. | |
Alle entdecken plötzlich ein großes Interesse für ihr Wasserglas. Es ist | |
eben so: Wenn es schon mal läuft, will keiner mit Nörgelei stören. | |
Michael Kellner, Politischer Bundesgeschäftsführer und linker Grüner, sagt: | |
„Wir haben im Bundesvorstand gemeinsam zu neuer Stärke und mehr Gehör | |
gefunden, auch gegenüber anderen Akteuren beispielsweise in den Ländern.“ | |
Das schaffe gemeinsam Raum für eine progressive, emanzipatorische Politik. | |
Das kann man als Anspielung auf die Rolle von Baden-Württembergs | |
Ministerpräsident Winfried Kretschmann verstehen. Der konservative Realo | |
dominierte in den vergangenen Jahren zusammen mit Özdemir im Bund viele | |
Debatten. Kretschmanns Dominanz ist seither deutlich geschrumpft. | |
So bleibt es bei feinen Spitzen. Jürgen Trittin, nach wie vor | |
einflussreich, spottete in einem Debattentext über Versuche, die Grünen in | |
eine liberale Partei umzudeuten. Der Name Habeck fiel nicht, er könnte aber | |
gemeint gewesen sein. | |
## Nur nicht überheblich werden | |
Allerdings gibt es Dinge, die das Glück schon bald überschatten könnten. | |
Bisher ist die Neuausrichtung reine Rhetorik. Was Habeck und Baerbock | |
fordern, muss sich nicht in der Realität beweisen. Deshalb wird | |
interessant, wie viel von der neuen Radikalität übrig bleibt, wenn Grüne | |
mit am Tisch sitzen. Im Bundesrat entscheiden die Grünen mit, weil sie in | |
neun Landesregierungen sitzen und Gesetze blockieren können. Dort wird bald | |
[2][über Asylrechtsverschärfungen der Großen Koalition verhandelt], etwa | |
über den Plan, drei Maghreb-Staaten und Georgien zu sicheren | |
Herkunftsstaaten zu machen. Wie hart bleiben die Grünen? | |
Auch aus dem Bayern-Wunder könnte eine ernste Prüfung werden. Was, wenn | |
Söder die Grünen fragt, ob sie mit ihm regieren? Die CSU ist bisher eine | |
Lieblingsfeindin der Grünen. Ihre Spitzenleute betonen, „mit dieser CSU, | |
mit diesem Söder“ sei kein Staat zu machen – und lassen sich damit alles | |
offen. Unter welchen Bedingungen wären die Grünen zu Tiefschwarz-Grün | |
bereit? | |
Und schließlich ist bei Grünen immer die Frage, wie viel ein Umfragehoch | |
wirklich wert ist. Die Partei stand schon öfter in Befragungen blendend da, | |
schnitt dann in Wahlen aber deutlich schlechter ab. Ein Grund ist der | |
Effekt der sozialen Erwünschtheit. Menschen geben in Umfragen gerne an, | |
progressiver zu wählen, als sie in Wirklichkeit sind. Katharina Schulze ist | |
sich dieses Risikos bewusst. Sie sagt: „Als Handballerin weiß ich, dass man | |
sich erst nach der zweiten Halbzeit freuen darf.“ | |
Ein bisschen Demut ist durchaus klug. Schulze weiß, was die größte Gefahr | |
für diejenigen ist, die gerade einen Lauf haben: Überheblichkeit. | |
10 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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