# taz.de -- Tanzbefreiung auf Kampnagel: Leichter Schmerz und böser Scherz | |
> Elizabeth Streb und Florentina Holzinger befreien sich auf extreme Weise | |
> aus dem Tanz-Knast – krachend, aber lustvoll. | |
Bild: Wer fliegen will, muss Schmerzen erleiden können: Elizabeth Strebs' Extr… | |
HAMBURG taz | Bumm! Wrumms! Autsch! Man zuckt unweigerlich auf dem Stuhl | |
zusammen, wenn Elizabeth Strebs Performer*innen auf der großen Bühne in | |
rasantem Tempo und immer neuen Formationen vom Trampolin hoch in die Luft | |
springen – und mit einem lauten Rumms bäuchlings oder auf dem Rücken auf | |
die Matte davor knallen. Ein kurzer Gruß ins Publikum und schon hüpfen sie | |
wieder auf dem Trampolin, fliegen und knallen erneut auf den Boden. Angst | |
vor Schmerzen und Verletzungen scheinen diese Tanz-Artist*innen in ihren | |
blauen Superheld*innen-Anzügen nicht zu haben. | |
Es ist ein riskantes Bewegungsvokabular irgendwo zwischen Stunts, | |
Extremsport, Zirkus-Artistik und postmodernem Avantgarde-Tanz, das die New | |
Yorkerin in den vergangenen 15 Jahren entwickelt hat und nun auf Kampnagel, | |
Halle K6, zum ersten Mal in Europa zeigt. Gelangweilt und genervt vom | |
zeitgenössischen Tanz war Streb, vom klassischen Ballett ganz zu schweigen: | |
Zu elitär, zu weiß sei die Tanzszene, sowohl auf der Bühne als auch im | |
Publikum, kritisiert die 68-Jährige: Eine rassistische und bourgeoise | |
Kunstwelt, in der People of Color, aber auch Arbeiterkinder, schlicht nicht | |
vorkommen. | |
Eine Welt und Kunst sei das, die in ihrer von allem Unerwünschten | |
gereinigten Ästhetik und ihrem Drang, sich vor allem Gefährlichen zu | |
schützen und einzukapseln, vertusche, was sie alles ausschließt. Selbst die | |
Schwerkraft dürfe in dieser Welt nicht vorkommen. Mit allerlei Tricks sei | |
in der Tanzgeschichte immer versucht worden, dem Aufprall auf dem Boden die | |
Wucht zu nehmen. | |
Aber wer fliegen lernen wolle, davon ist Streb überzeugt, müsse in Kauf | |
nehmen, dass es weh tut. Zumindest ein bisschen, denn auch Strebs | |
Bewegungsgrenzensprengung kennt nicht nur physikalische Grenzen: Man schaut | |
nur genau so lange über den Tellerrand der Angst, dass man gerade noch | |
zurückfindet. | |
## Mit Wucht auf den Boden | |
Streb versteht sich selbst dabei gar nicht mehr als Choreografin, sondern | |
nennt sich „Action Architect“, ihre Performer*innen „Extreme Action Heroe… | |
und ihr Bewegungsvokabular „Pop Action“. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn | |
betreibt sie seit 15 Jahren ihr „[1][Streb Lab for Action Mechanics“] – | |
kurz: Slam – als Community-Zentrum mit jederzeit offenen Türen. | |
Eine Community-Sporthalle könnte auch die Bühne sein, auf der Strebs | |
Company jetzt ihre „Singular Extreme Actions“ präsentiert: Neben | |
Trampolinen und Matten steht da ein Gerüst mit einem Stahlträger, der sich | |
später rasant dreht, während die Actionhelden sich im letzten Moment unter | |
ihm wegducken; oder eine sich immer schneller vertikal drehende Leiter, auf | |
der sie Waghalsiges vorführen. | |
Dass all das trotz des DJs (von dem übrigens auch all die furchterregenden | |
Rumms- und Knalllaute kommen), der das Publikum immerzu anfeuert, nicht nur | |
Spektakel, sondern auch kluge Tanzrepertoire-Kritik ist, macht nicht | |
zuletzt eine kuriose Szene deutlich. Da werfen sich die Performer*innen | |
immer wieder mit Kreidestaub-verschmierten Körpern gegen eine Schultafel, | |
gleiten Schweißspuren hinterlassend an ihr herab oder probieren eine ganz | |
neue Form von Hänge-Hebefigur aus: eine ebenso lustvolle wie lustige | |
Befreiung aus den Zwängen der Tanzschule. | |
## Mit Nadeln unter die Haut | |
Noch extremer geht es nebenan in der K1 zu. Dass ihre Auseinandersetzung | |
mit dem Ballett nichts für schwache Nerven ist, macht die österreichische | |
Choreografin und Extrem-Performerin Florentina Holzingers gleich zu Beginn | |
ihres Stücks „Apollon“ deutlich: Nackt wie all die anderen Perfomerinnen | |
auch steht sie an der Rampe und hämmert sich einen acht Zentimeter langen | |
Stahlnagel ins Nasenloch. Und Evelyn Frantti tut das im Anschluss gleich | |
noch einmal. Autsch! | |
„Echtes Blut, echter Schweiß, echte Tränen – echte Unterhaltung: Das | |
verspricht die Sideshow-Künstlerin Frantti, die sich später noch etliche | |
Nadeln unter die Haut stecken oder Glühbirnenglas zerkauen wird. Aber sie | |
lässt auch gleich wieder Zweifel aufkommen – ob nicht der eine oder andere | |
vermeintlich erlittene Schmerz am Ende nur ein böser Scherz ist. Denn wenn | |
Frantti etwa einen Luftballon, so lang wie ihr eigener Torso, durch den | |
Mund, vorbei am Würgereiz und durch alle Eingeweide zwängt und ihn am Ende | |
aus der Vagina zieht: Das geht doch gar nicht! | |
Holzinger ist bekannt dafür, in die Trickkiste von Performancekünsten zu | |
greifen, die auf Theaterbühnen verpönt sind. Ihr „Apollon“ nimmt zwar ein | |
Paradebeispiel des neoklassischen Balletts zum Ausgangspunkt: George | |
Balanchines Choreografie „Apollon Musagète“, in dem der antike Gott die | |
Musen ihrer Bestimmung zuführt, entstanden 1928 zu Musik von Igor | |
Strawinsky. | |
Holzingers Version aber ist erst mal eine explizite Mischung aus | |
feministischer Freak- und Sideshow, Zirkusakrobatik und klassischer Live- | |
und Body-Art der 1960er. Dabei weiß sie aber auch, dass all das künstliche | |
und echte Blut, die Pisse und die Scheiße, die später auch vermeintlich | |
gegessen wird, heute kaum jemanden mehr provoziert – und macht sich über | |
den Spektakel-Voyeurismus lustig. | |
Und so wird die kuriose Freakshow immer mehr zur klugen Auseinandersetzung | |
mit dem Leiden von Frauen (und anderen Nicht-Männern) an den ihnen nicht | |
nur im Ballett zugewiesenen Körpern. Bei Holzinger tänzeln keine zarten | |
Ballettmusen mehr im Tutu um den Gott der Künste, der hier nur noch als | |
Rodeoreitmaschine geritten und schließlich mit Sägen zerlegt wird. Es sind | |
starke, diverse Körper mit all ihren sonst unsichtbar gemachten | |
Eigenschaften, die sich an Hanteln stählen und endlich ihre Ketten | |
sprengen. Und sich schließlich mit einer erstaunlich zart wirkenden | |
Anal-Dildo-Polonaise selbst auf den Parnass führen. | |
17 Aug 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://streb.org/ | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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