Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Ferienendblues
> Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, letzterer gebärdet sich stets anders:
> Vom sich Aufbäumen gegen den Lauf der Zeit handelt dieser Text.
Früher fing nach den Sommerferien alles neu an. Ein weiteres Schuljahr zum
Beispiel. Wir kauften uns neue Hefte und jungfräuliche Ringbücher, die noch
nicht von verzweifeltem Gekrakel während der Erdkundestunden von der
Ausdehnung des Nordatlantischen Beckens entstellt waren. Der Todesatem
gymnasialer Langeweile hatte sie noch nicht gestreift. Diesmal würde alles
besser werden. Schließlich waren wir jetzt in der siebten Klasse. (Aufgabe
für zu Hause: Ersetze die Ziffer sieben durch eine Zahl, die dir angemessen
erscheint. Die Gleichung geht trotzdem auf.)
In Wahrheit wurde es auch damals danach immer nur Winter, und wir bekamen
keine Luft durch unsere verrotzten Nasen, während wir neue Mäander auf
Ringbuchdeckel zeichneten. Die Strecke von der ersten ordentlichen
Hausaufgabe im Heft bis zu Kraut und Rüben konnte mit 2 mal pi durch x
errechnet werden, wobei der Faktor x direkt proportional zur Einsicht in
die Realität wuchs, also jene Erkenntnis, die da lautet, dass man auch im
neuen Schuljahr wieder an einen zu kleinen Stuhl gefesselt in einem Raum
hockt, der nach alten Socken riecht, während vorne einer redet, den man
nicht abstellen kann.
Seitdem ist vieles besser geworden. Ich habe eine Fernbedienung, ich liege
auf dem Sofa, und es riecht nach Restsommer. Hefte und Ringbücher sind
wegen einer schweren Allergie aus meiner Umgebung verbannt, obwohl ich
immer noch dem Charme eines neuen Notizbuches sekundenschnell erliegen
kann. Denn das neue Büchlein wird endlich meine großen, wahren Gedanken
aufnehmen können, die unmöglich in der alten Kladde einen Platz finden
können, neben so profanen Notizen wie „Protokoll verschicken“ und
„Rückfahrkarte!“.
Auch erscheint mir der Spätsommer stets als die beste Zeit, um neue Romane
anzufangen, obwohl ich mir spätestens Weihnachten eingestehen muss, dass
die Grundidee nicht so toll war, auch dieses neue Buch also bloß wieder
eines von mir werden wird und dass es außerdem völlig unmöglich ist,
zwischen Ferienende und Weihnachten einen ganzen Roman fertigzubekommen.
Jedenfalls schafft man es nicht, wenn man zwischendurch noch Protokolle
verschicken und Rückfahrkarten kaufen muss.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, wusste schon Adenauer oder irgendein
anderer Clown, der mal eine Republik gestartet oder einen sonstigen
Bockmist losgetreten hat, und deswegen kann man gar nicht oft genug
anfangen, aber am allerbesten eben doch dann, wenn die Wespen schwärmen und
das Fallobst auf die Birne rumst. Das ist verzweifeltes Aufbäumen gegen
den Lauf der Welt, wie wir ihn kennen.
Es nährt die heimliche Hoffnung, dass diesmal der Spätsommer über
Weihnachten hinausreichen möge und vielleicht einfach unmerklich in den
Frühling übergehen wird, ohne Bronchitis, Glatteis, Älterwerden und all den
Quatsch, den keiner braucht. So soll es sein. Und hiermit werde ich
versetzt nach Klasse 50.
8 Aug 2018
## AUTOREN
Susanne Fischer
## TAGS
Ferien
Schule
Erinnerung
Peter Sloterdijk
Georgien
Starbucks
Sprachkurse
Sozialverhalten
Buchhandel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Sloterdijk und Lothar Deich
Den einen großen Philosophen kennt die Welt, den anderen bisher nur ein
enger Kreis Eingeweihter. Das wird sich ab heute ändern.
Die Wahrheit: Puscheliges St. Georg
Die Georgien-Woche der Wahrheit: Zu Recht ist der Hamburger Stadtteil in
diesem Jahr endlich Partner der Frankfurter Buchmesse.
Die Wahrheit: Spiritueller Zucker
Die Frau ist beseelt – von dem Getränk, das sie in der Fremde zu sich
genommen hat. Was aber, wenn sie die ganze Wahrheit über „Chai Latte“
erfährt?
Die Wahrheit: In Laff wiss se Läidies
Für die Alten in Deutschland gilt Käfighaltung. In den Volkshochschulen des
Landes werden sie zum Zwecke lebenslangen Lernens kaserniert.
Die Wahrheit: Ich voll aggro
Bei den Unverschämtheiten fremder Leute hilft nicht einmal die stärkste
aller möglichen Waffen: das süffisante Grinsen.
Susanne Fischer: Regaldinosaurier
Vorschlag: Ein Ablasshandel für Bücherkäufer, sie müssen sie ja nicht
lesen. Dafür gibt's Bonuspunkte und man darf sich an der Supermarktkasse
vordrängeln.
Die Wahrheit: Weltfischbrötchentagebuchnotiz
Von der „Currywurst des Nordens“ und dem wahrscheinlich längst vergessenen
„Rundstück warm“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.