# taz.de -- Susanne Fischer: Regaldinosaurier | |
> Vorschlag: Ein Ablasshandel für Bücherkäufer, sie müssen sie ja nicht | |
> lesen. Dafür gibt's Bonuspunkte und man darf sich an der Supermarktkasse | |
> vordrängeln. | |
Die Leute lesen nicht mehr. Das kann man überall sehen. Als ich neulich ein | |
Eisenbahnabteil betrat, in dem fünf Menschen mit je einem Buch in der Hand | |
saßen, suchte ich gleich nach der versteckten Kamera. Die Mitreisenden | |
würden gewiss in zehn Sekunden aufspringen und eine „April, | |
April“-Choreografie für mich aufführen. Stattdessen grunzten sie aber auf | |
meinen freundlichen Gruß hin bloß, in ihre Lektüre versenkt. Wahrscheinlich | |
befanden wir uns auf einer Zeitreise. | |
Wenn man der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ist, gibt man ungern | |
zu, dass das Lesen nicht mehr zu den hundert hipsten | |
Freizeitbeschäftigungen gehört. Der Branchenverband informierte jüngst die | |
Öffentlichkeit darüber, was die Menschen vom Buch abhält: Sie fühlen sich | |
von der Schnelllebigkeit des Alltags überfordert. | |
Ich sehe sie alle vor mir, die Möchtegernleser. Sie versuchen verzweifelt, | |
ihr Bücherregal zu erreichen, notfalls auf allen Vieren, aber ihr Handy ist | |
schneller. Es wirft sich ihnen in den Weg: Wisch mich! Klick mich! Hier | |
gibt’s das Neueste! Ich bin’s, ohne mich bist du nichts! | |
Der deutsche Durchschnittsdussel verbringt drei Stunden pro Tag online. Mit | |
nichts Wichtigem, wie ich mal vermute. Irgendwer in dieser Republik muss | |
übrigens täglich noch viel länger im Internet herumirren, um meine | |
Fehlzeiten dort auszugleichen. Falls es sich um dieselbe Person handelt, | |
die auch meinen Fernsehkonsum übernommen hat, tut mir das Wrack herzlich | |
leid. Ich kann aber trotzdem nicht helfen. Höchstens ab und zu ein paar | |
Hirnzellen spenden. | |
In Wahrheit geht es dem Börsenverein nicht um die Leser, sondern um die | |
Käufer: In den vergangenen vier Jahren haben sechs Millionen Deutsche keine | |
Bücher mehr erworben, die das vorher durchaus noch taten. Dort sitzt der | |
Stachel. Vielleicht könnte man gegen den Niedergang der Branche einen | |
Ablasshandel erfinden? Die Millionen kaufen wieder Bücher, sie müssen sie | |
ja nicht lesen. Dafür bekommen sie kulturelle Bonuspunkte und dürfen sich | |
an der Supermarktkasse vordrängeln. | |
Statt diesen treulosen Tomaten hinterherzuheulen, könnte der Börsenverband | |
ja mich fragen, warum ich eigentlich noch lese. Warum bin ich so uncool und | |
kaufe Bücher, obwohl sie weder blinken noch piepen? Die peinliche Wahrheit | |
lautet: Ich lese, weil mich die Schnelllebigkeit des Alltags überfordert. | |
Der Mahlstrom von Nachrichten, Klatsch und Twittergewitter treibt mich ans | |
rettende Ufer meiner überquellenden Regale. Dort ist es ruhig und schön, | |
dort öffnen sich Türen in andere Zeiten und Länder, die man in aller Muße | |
durchschreiten kann. | |
Dass ich nicht mehr mitreden kann, nehme ich dafür in Kauf. Wenn ich mich | |
doch mal in die Welt traue, muss ich dauernd rufen: Wer? Was? Als ob ich | |
schwerhörig wäre. Und alle anderen dann im Chor: Den kennst du! Der war in | |
der Castingshow! Der hat dieses „BamBamBam“ gesungen! Der hat sieben | |
Fantastilliarden Follower! Ach so, na dann. Nee, kenne ich nicht. | |
13 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Fischer | |
## TAGS | |
Buchhandel | |
Digitalisierung | |
Konsum | |
Sprachkurse | |
Ferien | |
Sozialverhalten | |
Schwarzfahren | |
Familie | |
Andrea Nahles | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: In Laff wiss se Läidies | |
Für die Alten in Deutschland gilt Käfighaltung. In den Volkshochschulen des | |
Landes werden sie zum Zwecke lebenslangen Lernens kaserniert. | |
Die Wahrheit: Ferienendblues | |
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, letzterer gebärdet sich stets anders: | |
Vom sich Aufbäumen gegen den Lauf der Zeit handelt dieser Text. | |
Die Wahrheit: Ich voll aggro | |
Bei den Unverschämtheiten fremder Leute hilft nicht einmal die stärkste | |
aller möglichen Waffen: das süffisante Grinsen. | |
Die Wahrheit: Schwarzfahrer unter sich | |
True story: Wenn Männer zwischen allen Abteilen stehen, kann es schnell um | |
politisch inkorrekte Dinge gehen. Oder um Fahrkarten. | |
Die Wahrheit: Weltfischbrötchentagebuchnotiz | |
Von der „Currywurst des Nordens“ und dem wahrscheinlich längst vergessenen | |
„Rundstück warm“. | |
Die Wahrheit: Alte Liebe Schwarz-Weiß-Blau | |
Hineingeboren in eine HSV-Familie, geht es nicht anders: Nach 100 Jahren | |
wird jetzt im Abstieg nicht ohne uns gelitten und gestorben. | |
Die Wahrheit: Ich als SPD-Vorsitzende | |
Einmal Andrea Nahles sein, verspricht der wüste Fiebertraum, in dem | |
Biathleten und andere Schießbudenfiguren angefeuert werden. |