# taz.de -- Schulunterricht für Flüchtlinge in Polen: Nicht mit polnischen Ki… | |
> Die polnische Regierung will Flüchtlingskinder nicht mehr auf öffentliche | |
> Schulen schicken. Stattdessen sollen sie in ihrer Asylunterkunft lernen. | |
Bild: Gemeinsam lernen, miteinander sprechen und malen: Dass es so bleibt, ist … | |
WARSCHAU taz | „Mussa, komm runter! Spielen!“, schreit der achtjährige | |
Marek aus ganzer Kehle. Im ersten Stock der Warschauer | |
Tadeusz-Gajcy-Grundschule erscheint ein tschetschenischer Knirps kurz am | |
Fenster, hält triumphierend einen Fußball in die Höhe und ist zwei Minuten | |
später auf dem Schulhof. „Marek, Mussa!“, ruft die Schuldirektorin Wiesła… | |
Dziklińska ihnen zu: „Da hinten!“ Sie zeigt auf den Platz hinter dem | |
Freiluft-Fitness-Studio. „Da kann wenigstens kein Fenster zu Bruch gehen.“ | |
Und dann erzählt die Schulleiterin, wie gut Flüchtlingskindern wie Marek | |
das Umfeld tut. „Wir sehen förmlich, wie sie an der Schule aufblühen. Sie | |
lernen Polnisch, finden neue Freunde und vergessen langsam das | |
Schreckliche, das sie in ihrem Leben schon gesehen haben.“ Nach einer Pause | |
sagt sie: „Ich hoffe, nach den Ferien sehen wir alle wieder!“ | |
Sicher ist dies keineswegs. Denn das polnische Innenministerium plante noch | |
Anfang des Jahres, Flüchtlingskinder aus den öffentlichen Schulen | |
herauszuholen und demnächst nur noch in Asylbewerberheimen unterrichten zu | |
lassen – auf Antrag der Kommunen. Tatsächlich hatte schon der Bürgermeister | |
eines Warschauer Vororts so massive Probleme mit Rechtsradikalen, dass er | |
diesen Wunsch geäußert hat. | |
Doch die [1][nationalpopulistische Recht und Gerechtigkeit (PiS)], die seit | |
Ende 2015 mit absoluter Mehrheit regiert und auch den Innenminister stellt, | |
hetzt bei jeder Gelegenheit gegen „Migranten“. Im Wahlkampf giftete | |
Parteichef Jaroslaw Kaczyński, dass die Flüchtlinge „gefährliche | |
Krankheiten“ wie die Cholera, die Ruhr und Parasiten einschleppten. | |
Erst Schlagzeilen wie „Bildungsghetto für Flüchtlinge“, „Kinder eines | |
schlechteren Gottes“ und „Segregation in der Schule“ ließen das | |
Innenministerium zurückrudern. Lautstark dementierte es die Absicht, den | |
Schulunterricht für Ausländerkinder in die Asylbewerberheime zu verlegen. | |
Vom Tisch ist die geplante Verordnung damit noch nicht. Niemand kann sich | |
sicher sein, dass sie nicht doch plötzlich zu den Kommunalwahlen im Herbst | |
in Kraft tritt. | |
## Negative Anwesenheit | |
In der Begründung Anfang des Jahres hatte es noch geheißen, dass nicht nur | |
Ausländerkinder in polnischen Schulklassen die Lust am Lernen verlören, | |
weil sie noch zu wenig Polnisch sprächen und dem Unterricht nicht folgen | |
könnten. Vielmehr wirke sich auch ihre Anwesenheit in öffentlichen Schulen | |
„negativ und demotivierend“ auf polnische Kinder aus. | |
Würden die kleinen Tschetschenen, Iraker [2][und Ukrainer] hingegen die | |
ganze Zeit im Heim bleiben, glaubte das Innenministerium, könne dies sogar | |
„die negative Haltung der lokalen Bevölkerung ihnen gegenüber verringern“. | |
„Das ist offene Diskriminierung“, empört sich Hawra Elbazdukajewa, eine | |
Tschetschenin, die vor knapp zwanzig Jahren mit ihrem Mann und zwei Kindern | |
aus einem Dorf bei Grosny floh. Heute arbeitet sie in der Stiftung | |
MultiOcalenie, die sich um die Integration der anerkannten Asylbewerber und | |
Flüchtlinge kümmert. „Es war [3][noch nie leicht für Flüchtlinge in Polen… | |
allein schon deshalb, weil die Asylbewerberheime an den Ortsgrenzen liegen. | |
Da gibt es kaum öffentliche Verkehrsmittel.“ | |
Elbazdukajewa erinnert sich an die Schikanen: dass ihre beiden Kinder um 5 | |
Uhr morgens aufstehen mussten, um pünktlich in der Schule zu sein. Die | |
Baracken, in denen die Familie hausen musste. Der kilometerweite Fußweg | |
durch den Wald. Doch für ihre Kinder sei die Schule enorm wichtig gewesen: | |
der Kontakt mit den polnischen Kindern, das Lernen, aber eben auch Spiel | |
und Spaß. | |
## Wichtig für die Entwicklung | |
Die füllige Mittvierzigerin holt ein paar Fotos aus ihrer Geldbörse und | |
erzählt: „Sowohl meine große Tochter als auch mein kleiner Sohn haben | |
schnell Polnisch gelernt und sich gut integriert.“ | |
Zum Warschauer Asylbewerberheim für Frauen und Kinder im Stadtteil Targówek | |
Fabryczny führt ein schlammiger Fußpfad vorbei an einem laut rumorenden | |
Betonmischwerk. Das einstöckige Barackengebäude diente einst Arbeitern als | |
billige Unterkunft. | |
Heute ist es im Besitz der Lubliner Firma Nakon, die hier für den | |
polnischen Staat ein Flüchtlingsheim mit Vierbettzimmern betreibt. | |
„Insgesamt verfügt Polen über elf Asylbewerberheime. Dieses hier in | |
Warschau-Targówek ist das einzige nur für Frauen mit Kindern“, erläutert | |
Jakub Dudziak von der Warschauer Ausländerbehörde. Hier sind 70 Kinder und | |
38 Mütter untergebracht. | |
Angesicht der Zahlen von Millionen Flüchtlingen, die Polens Premier Tadeusz | |
Morawiecki gern ins Feld führt, klingen die „1.400 Ausländer, die zurzeit | |
in Polens Asylbewerberheimen wohnen“, doch recht bescheiden. „Dazu kommen | |
allerdings noch rund 1.800 Asylbewerber, die auf dem freien Markt eine | |
Wohnung mieten und von uns einen Mietzuschuss bekommen“, so Dudziak. | |
## Überfordernde Situation | |
Rund die Hälfte aller Asylbewerber in Polen seien unter 18 Jahre alt. Von | |
diesen rund 1.600 Kindern sei wiederum rund die Hälfte schulpflichtig. | |
Derzeit gehen diese Kinder alle in öffentliche Schulen – noch. | |
Im kleinen Spielzimmer vergnügen sich zwei kleine Jungs und ein Mädchen. | |
Die Kinder kommen aus Tschetschenien und Irak. Darunter der vierjährige | |
Aslan. Als seine Mutter das Zimmer betritt, stürmt er ihr entgegen. Er will | |
auf den Schoß genommen werden. Dann deutet er auf ein Plätzchen, ohne ein | |
Wort zu sagen. | |
Mariam hält ihn schützend umschlungen. „Er redet fast gar nichts. Das war | |
wohl alles zu viel für ihn: der Streit zu Hause, dann unsere Flucht, das | |
Warten an der weißrussischen Grenze, und hier nun die vielen fremden | |
Menschen, die alle in verschiedenen Sprachen sprechen.“ Aslan knabbert an | |
einem Keks und lauscht aufmerksam. | |
„Ich möchte, dass er in einen polnischen Kindergarten und dann in eine | |
polnische Schule geht. Er braucht dringend eine feste Tagesstruktur. Die | |
hat er hier im Heim nicht“, sagt seine Mutter, die ihren Nachnamen nicht | |
nennen will. Zu unsicher fühlt sie sich derzeit in Polen. Die Heimleiterin | |
Anna Milewska nickt zustimmend: „Die psychische Situation der Kinder ist | |
sehr schwer. Die Schule außerhalb des Heims ist sehr wichtig für sie, der | |
Kontakt mit polnischen Kindern.“ | |
## Einfach nur ein Kind | |
Mariam ist zwar keine politisch Verfolgte, dennoch darf sie in Polen | |
bleiben. Zwar spricht sie nach zwei Jahren immer noch kein Polnisch, doch | |
sie hofft, dass ihr auch „in Freiheit“, wie sie sagt, noch ein bisschen | |
geholfen wird. In einem Monat muss sie das Heim verlassen und dann ihr | |
Leben selbst in die Hand nehmen. Sie lächelt schüchtern: „Alles wird gut.“ | |
In der Tadeusz-Gajcy-Schule endet die Pause. „Vor unseren 220 Schülern sind | |
70 Ausländer. Davon kommen 50 aus dem Asylbewerberheim in Targówek“, sagt | |
Schulleiterin Wiesława Dziklińska. Sie beugt sich kurz zu zwei Kindern aus | |
Tschetschenien herunter und gibt ihnen ein kleines Päckchen bunte Knete. | |
„Natürlich gibt es manchmal Probleme. Aber für uns hier an der Schule ist | |
jedes Kind einfach nur ein Kind, egal ob Ausländer oder nicht. Wir wollen | |
keines von ihnen missen.“ Sie hofft, dass das Innenministerium ihr keinen | |
Strich durch die Rechnung macht. | |
19 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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