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# taz.de -- Debatte Seehofer, der Sündenbock: Wir alle müssen zurücktreten
> Die Rufe nach Rücktritt sind nur hilflose Reaktionen. Die
> Zivilgesellschaft hat versagt, denn Seehofer macht genau die Politik, für
> die er gewählt worden ist.
Bild: Die Bundeskanzlerin und ihr Innenminister: Eine Alternative dazu ist derz…
Er muss zurücktreten! Und sie erst! Und er sowieso! Egal ob es in den
vergangenen zwei Wochen um [1][Horst Seehofer], um [2][Angela Merkel] oder
doch um [3][Jogi Löw] ging: Überall erschienen Nachrufe zu Lebzeiten.
80 Millionen Deutsche haben ihren Sommerferienjob als Sofa-Bundestrainer
verloren. Jetzt spielen sie wieder Politikberater. Merkel muss weg, das ist
nicht mehr nur ein AfD-Sprechchor oder ein Graffiti in Jena-Lobeda oder
Berlin-Köpenick. Im Fall von Seehofers angekündigtem Rücktritt herrschte in
linken Kreisen Vorfreude und Untergangslust: Sollen sie doch alle baden
gehen.
Diese Haltung ist bequem. Ehrlich ist sie nicht.
Es war nicht ein Innenminister der CSU, der in den letzten Monaten versagt
hat. Der hat bloß die Politik gemacht, für die er gewählt wurde. Versagt
hat die demokratische Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft, wir.
Weil Seehofer, Merkel und Löw vorerst bleiben, wo sie sind, muss die
Rücktrittsforderung nun an einen anderen Adressaten gerichtet werden: an
uns, an die Zivilgesellschaft. Alle zurücktreten! Zumindest einen, besser
gleich zwei Schritte.
## Das Versagen der Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft hat es nicht geschafft, das apokalyptische Raunen in
Deutschland, das gegen alle Fakten aufrechterhalten wurde, zum Verstummen
zu bringen, durch Solidarität zum Beispiel. Sie hat es zugelassen, dass
Vertreter von Volksparteien Seenotrettung als [4][„Shuttle-Service]“
bezeichnen. Und ja, das Versagen der Zivilgesellschaft zeigt sich in der
Sprache und nicht in Gesetzesentwürfen.
Es gab in den vergangenen Jahren nur wenige Mobilisierungen gegen den
Rechtsruck, zu denen mehr als nur die üblichen Verdächtigen kamen. Es gab
keinen Aufstand gegen die fortgesetzte Beschneidung des Grundrechts auf
Asyl, das in der öffentlichen Debatte von einem Anspruch zu einem Almosen
verkommen ist. Bis auf ein paar Aktivisten auf dem Meer hat die
Zivilgesellschaft es versäumt, sich voll hinter das Asylrecht zu stellen.
Parlamentarische Politik aber war immer sensibel für Druck von unten, auch
und gerade unter der aktuellen Bundeskanzlerin. Alle großen Entscheidungen,
die von der Ära Merkel über den Tag hinaus bleiben werden, sind Ergebnisse
gesellschaftlicher Bewegungen. Merkel hat immer nur reagiert und politisch
nachvollzogen, was Jahre oder Jahrzehnte vorher erkämpft wurde: Die
Abschaffung der Wehrpflicht ist ein später Erfolg der Friedensbewegung, der
Atomausstieg begann nicht in Fukushima, sondern in Gorleben, und die Ehe
für alle ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes um
Gleichberechtigung.
Beim Streit ums Asylrecht dagegen hat die Zivilgesellschaft nur mit
Empörung reagiert, ohne dass daraus politisch etwas folgte. Warum?
Weil die Vorstellung einer Zivilgesellschaft, die in ihrem Humanismus
geeint ist, selbst naiv ist. In einer gespaltenen Gesellschaft, deren
Klassen hermetischer sind als eine Transitzone, muss die Hegemonie in
Debatten wie der um das Asylrecht erkämpft werden. Diesen Kampf verliert
der fortschrittliche Teil der Zivilgesellschaft gerade, jeden Tag ein
bisschen mehr.
## Blick in den Spiegel
Auch deshalb, weil sich auch manch liberaler Bürger entweder offen oder
heimlich weniger Flüchtlinge in Deutschland wünscht. Aber Seehofer die
Drecksarbeit machen lassen und sich dann über ihn aufregen, das ist bigott.
Manch einer, der in diesen Tagen in den Spiegel schaut (und damit ist nicht
die politische Illustrierte gemeint) und unter dem kalten Licht im
Badezimmer ehrlich zu sich selbst ist, wird einen kleinen CSU-Horst
entdecken. Dort, am Haaransatz.
Aktuell gibt es keine Alternative zu Merkel und Seehofer in der
Migrationsfrage. Die SPD ist zu sehr mit der Flucht ihrer Wähler
beschäftigt, die Linke vertritt keinen Internationalismus, die Grünen
wollen mal die Partei des Humanismus sein und sind dann doch wieder für die
Benennung sicherer Herkunftsländer. Und im progressiven Teil der
Zivilgesellschaft herrscht Fassungslosigkeit und Ohnmacht vor der Weltlage.
Denn während sich die Regierung auf einen Kompromiss einigt, der kein
Kompromiss ist, sondern eine Radikalisierung, bleibt die Welt nicht stehen.
Während sich CDU und CSU nachts in den Parteizentralen treffen, steigen
Menschen in Libyen in wacklige Boote, ertrinken im Mittelmeer und fliehen
immer mehr Syrer vor den Bomben Assads und Putins.
## Ertrunken im Mittelmeer
[5][1.000 Menschen sind in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken.] Wie leicht
so ein Satz von der Hand geht und wie unfassbar er dabei ist. Die Antwort
der Bundesregierung und der EU: Deals mit Autokraten, Kriminalisierung von
Hilfe auf dem Mittelmeer. Lager an der deutschen Grenze.
Man kommt sich komisch vor, das zu schreiben: Diese 1.000 Menschen haben
die gleichen Menschenrechte wie wir. Ihnen zu helfen ist eine Pflicht.
Moralische Argumente sind unter Verdacht geraten. Auch das ist ein Ergebnis
der Radikalisierung der Mitte.
Europa ist kein Raum für Frieden und Freiheit mehr, sondern für die
Verteidigung von Privilegien. Es geht nicht um Rechtspopulismus, das war
schon immer ein schlechter Begriff. Es geht um Rechtsradikalismus. [6][In
Polen wird der Rechtsstaat abgeschafft], i[7][n Österreich bedroht eine
Regierung nach CSU-Vorbild die Pressefreiheit], i[8][n Ungarn regiert ein
Antisemit]. Und in Deutschland zerlegen sich die Volksparteien selbst.
All das ergibt eine riesiges politisches Vakuum, innerhalb wie außerhalb
des Parlaments. Man muss es nur füllen. Aber womit?
## Ein politisches Projekt muss her
Will der progressive Teil der Zivilgesellschaft wieder handlungsfähig
werden, muss auf Empörung und Ohnmacht ein politisches Projekt folgen. Das
ist nach dem historischen Niedergang der Linken auch 30 Jahre später nicht
absehbar. Am Nationalstaat und den Bürgerrechten in seinen Grenzen
festzuhalten, das kann es nicht sein.
Weil das kompliziert ist, taugt Seehofer als politischer Sündenbock. Der
hat auch keinen Masterplan, auch wenn er so tut. Im Streit der Union geht
es nicht um eine vermeintliche Flüchtlingskrise, das ist nur der Anlass,
sondern um eine Krise des Nationalstaats und seiner Parteien.
Die große, nicht wirklich befriedigende Antwort auf die Herausforderung der
Migration ist: Offene Grenzen für Kapital und Informationen, aber nicht für
Menschen, das funktioniert nicht. Heute kommen Turnschuhe leichter über das
Mittelmeer als Menschen in Booten. Aber das wird nicht so bleiben.
2015 wird sich wiederholen, Migranten werden sich dann nicht von
Transitzentren aufhalten lassen. Diese Erkenntnis ist für den progressiven
Teil der Gesellschaft unbequem. Aber zurücktreten können wir als
Zivilgesellschaft nicht, auch wenn wir das vor lauter Ohnmacht gerne
wollten. Aber wir können zurücktreten. Das Einzige, was gegen Ohnmacht
hilft, ist Selbstermächtigung.
7 Jul 2018
## LINKS
[1] /Streit-zwischen-CDU-und-CSU/!5517199
[2] /Kommentar-zum-Koalitionskrach/!5511382
[3] /Pro--Contra-Bundestrainer-Joachim-Loew/!5513921
[4] /Seenotrettungsschiff-vor-Malta/!5516647
[5] /Notrettung-durch-Frontex-im-Mittelmeer/!5518770
[6] /Kommentar-Justizreform-in-Polen/!5518965
[7] /Rechtspopulisten-bedrohen-Pressefreiheit/!5498689
[8] /Milliardaer-George-Soros/!5495835
## AUTOREN
Kersten Augustin
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Flüchtlinge
Horst Seehofer
Rücktritt
Nationalstaat
Horst Seehofer
Schwerpunkt Angela Merkel
Schwerpunkt Angela Merkel
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