| # taz.de -- Gärnter Tim R. über sozialen Ausschluss: „Ich fühlte mich jede… | |
| > Der Gärtner Tim R. sieht Probleme auf die Gesellschaft zukommen. Er ist | |
| > hochsensibel und möchte, dass ihm die Leute zuhören. | |
| Bild: „Alle sitzen auf einem hohen Ross und ich komme auf einem Esel“: Gär… | |
| taz: Herr R., was heißt es für Sie, zu sprechen? | |
| Tim R.: Das heißt für mich, etwas weiterzugeben. Meistens vor allem Wissen, | |
| aber auch Einstellungen und Ideen. Deshalb bedeutet mir dieses Gespräch | |
| auch viel, weil ich so etwas noch nie machen konnte. Ich glaube, ich habe | |
| etwas zu erzählen, wovon auch andere profitieren können. Für mich spielt | |
| Hochsensibilität eine große Rolle. | |
| Ist das ein persönliches Interesse? | |
| Ja, weil ich mich selber zugehörig fühle und Probleme auf mich zukommen | |
| sehe. Das größte ist eine generelle Oberflächlichkeit der Menschheit an | |
| sich. Ich befürchte, dass daraus gravierende Probleme für die gesamte | |
| Gesellschaft entstehen. | |
| Wir sind uns auf einer Diskussion über „Männlichkeit und Feminismus“ mit | |
| dem [1][Zeit-Journalisten Jens Jessen] begegnet. Wie kommen Sie dazu, sich | |
| für dieses Thema zu interessieren? | |
| Ich kam durch Zufall darauf, weil ich in einer Facebook-Gruppe davon | |
| erfahren habe. Die heißt „Neu in Hamburg“ und das ist eine tolle | |
| Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. Das ist mir wichtig, weil sie in | |
| meinen alten Freundeskreis jetzt alle heiraten und Kinder kriegen. Das | |
| führt dazu, dass ich mit denen weniger Zeit verbringen kann. Das ist | |
| schade, weil ich sehr darauf angewiesen bin, mich mit Leuten auszutauschen. | |
| Wenn ich das nicht machen kann, drehe ich mich mit meiner üppigen | |
| Gedankenwelt nur noch um mich selbst. Das tut mir nicht gut. Das hängt wohl | |
| auch mit der Hochsensibilität zusammen. | |
| Erklären Sie das mal. Das ist für mich schwer zu greifen. | |
| Hochsensibilität bedeutet Dinge ins Bewusstsein zu lassen, die andere | |
| automatisch ausblenden. Das bezieht sich auf alle Sinneseindrücke. Man kann | |
| sich das so vorstellen, wie die Kanarienvögel, die früher in Kohlenkeller | |
| gesetzt wurden, um zu gucken, ob Kohlenmonoxid entstanden ist. Diese | |
| Kanarienvögel waren die ersten, die daran gestorben sind, weil sie so | |
| empfindlich waren. Menschen, die hochsensibel sind, sind wie diese | |
| Kanarienvögel. Sie merken als erstes, wenn was im Argen ist. | |
| Sie bringen das, was Sie erleben in ziemlich abstrakte Begriffe… | |
| Ja, und ich spreche sehr bildlich, das mache ich andauernd. | |
| Was passiert denn bei Ihnen genau? | |
| Es gibt den Moment der Reizüberflutung. Das ist ein negativer Aspekt. Der | |
| Filter für das Bewusstsein ist weiter und länger offen als bei anderen. Ich | |
| nehme Sachen wahr, die anderen entgehen: Geräusche, vor allem Licht – ich | |
| habe empfindliche Augen. Beim Autofahren weiche ich öfter Schlaglöchern | |
| aus. Ich habe so meine Spleens entwickelt. | |
| Wie kamen Sie dazu, ins Hamburger Gängeviertel zu dieser Diskussion zu | |
| gehen? | |
| Mir ist bewusst geworden, dass Frauen nach meinem subjektiven Gefühl | |
| schlechter behandelt werden. Ich muss gestehen, ich kannte [2][den Text | |
| „Der bedrohte Mann“ von Jens Jessen] nicht und war auf das Thema sehr | |
| allgemein eingestellt. Ich sehe das Machogehabe auf dem Vormarsch. Unter | |
| Männern ist man schon fast gefordert, schlecht über Frauen zu reden. Ich | |
| kann mir nicht vorstellen, dass das alles nur Spaß sein soll. | |
| Sie haben sich zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass Sie es als | |
| Hauptschüler nicht gelernt haben, zu diskutieren. Warum habe Sie das | |
| gesagt? | |
| Ich fühlte mich ein bisschen angegangen. Ich hatte das Gefühl, das in dem | |
| Raum eine gewisse intellektuelle Stimmung in der Luft lag. Es wird von | |
| einem Hauptschüler nicht erwartet und ihm nicht zugetraut, das der in einen | |
| solchen Raum geht. Ich wollte ein Statement setzen und darauf hinweisen, | |
| dass ich auch als nicht Studierter bei sowas mitmachen kann. Ich bin | |
| Handwerker, habe eine normale Schulbildung genossen und weiß, dass Menschen | |
| auf Gymnasien und Universitäten anders geformt werden. | |
| Machen Sie öfter Ausschlusserfahrungen? | |
| Ich will sowas in Zukunft öfter machen. Vor allem, weil ich seit ein paar | |
| Jahren das Gefühl habe, das ich nicht so richtig weiterkomme im Leben. Ich | |
| glaube, das jetzt was gefunden zu haben, woran ich mich weiterentwickeln | |
| kann. | |
| Gerade die feministische Praxis ist sehr darauf aus, gesellschaftliche | |
| Ausschlussmechanismen zu reflektieren. Da werden etwa aus Handwerkern | |
| Handwerker*innen, damit sich alle Geschlechter angesprochen fühlen. Können | |
| Sie damit was anfangen? | |
| Ja, ich kann da was mit anfangen. Es wirkt aber auf mich anstrengend – | |
| etwas gekünstelt. Irgendwo hat das Thema auch seine Grenzen. Ich möchte, | |
| auch wenn es Frauen in meinem Beruf gibt, ihnen doch ungern körperlich | |
| anstrengende Arbeiten zumuten. Der körperliche Verschleiß ist enorm und ich | |
| finde Frauen haben so etwas nicht verdient. Aber wer sich dazu entscheidet | |
| soll damit glücklich werden. | |
| Eine Feminist*in würde das jetzt nicht so stehen lassen. | |
| Wahrscheinlich nicht, das ist auch sehr kontrovers. Auch ich bin in diesem | |
| Thema alles andere als perfekt. | |
| Was bedeutet es für Sie Hauptschüler zu sein? | |
| Ich bin eigentlich ganz glücklich gewesen, dass ich es so gemacht habe. | |
| Doch heutzutage werden die Leute als minderwertig erachtet. Ich bin aber | |
| der Meinung, dass auch Hauptschüler zu Berufen in der Lage sind, für die | |
| andere studieren. | |
| Sie fordern die Berechtigung ein, nicht perfekt sein zu müssen? | |
| Ja. Ich hatte das Gefühl: Alle anderen sitzen auf einem hohen Ross und ich | |
| komme auf einem Esel. | |
| Wo liegt für Sie der Unterschied? | |
| Ich hatte das Gefühl, mich zu freuen, wenn ich dazu gehören dürfte. Das ich | |
| das mit dem Hauptschulabschluss ausgesprochen habe, war aber auch so ein | |
| Türeintreten meinerseits. Das mache ich manchmal, um mir Gehör zu | |
| verschaffen. | |
| Wer entscheidet denn darüber, wer durch die Tür kommt? | |
| Ich fürchte, das kann ich nicht sagen. Ich wollte wahrgenommen werden. Ich | |
| mache kaum etwas ohne Hintergedanken. Wenn ich etwas sage, rechne ich mir | |
| fast schon vorher aus, was könnte darauf folgen. | |
| Hat das etwas mit einer Angst oder Unsicherheit zu tun? | |
| Vielleicht auch das, sicherlich. Ich bin ein schüchterner Typ. Das führte | |
| auch dazu, dass ich erst eine Freundin im Leben hatte – und ich bin 32. Ich | |
| sehe mich in einer Sackgasse. Ich finde es ist nötig, das mal | |
| auszusprechen. Denn so gewinne ich eine Souveränität. Das hat etwas zu tun | |
| mit Asexualität. | |
| Wie meinen Sie das? | |
| Ich habe keinen Sexualtrieb. Ich bin zwar dazu in der Lage, es ist also | |
| nicht so, dass mich das anekeln würde. Vielleicht bin ich auch eher | |
| demisexuell, also eigentlich nur normal. Das heißt ja nur, dass man zu | |
| sexuellen Handlungen in der Lage ist, aber nur mit einer romantischen | |
| Grundstimmung. Ich bin auf einem Feldzug der persönlichen Antwortsuche. So | |
| würde ich das beschreiben. | |
| Was muss passieren, damit Sie sich an einem Ort wohl fühlen? | |
| Mir gefallen Orte, wie diese extrem gute Bar, in der ich gerade war: das Le | |
| Lion in der Nähe des Hamburger Rathauses, diese Atmosphäre… Ein bisschen | |
| gehoben, gedimmtes Licht, eine hohe Kunst von Getränken. Das ist ein | |
| hochwertiger, überlegter Lebensstil mit einer ausführenden Kunst, das ist | |
| das allergrößte für mich. Wäre es nicht so teuer, wäre ich da viel öfter. | |
| Das ist ja wieder Ausschluss. | |
| Ich könnte mir vorstellen, dort an einem einzigen Abend 200 Euro | |
| auszugeben. | |
| 200 Euro nur für Cocktails? | |
| Tatsächlich ja. Das ist es mir wert. Aber ich könnte mir das nur ein bis | |
| zweimal im Jahr erlauben. Ich interessiere mich für die Handwerklichkeit, | |
| die da hintersteckt. Ich habe dem Barmann zugeschaut und war total | |
| begeistert, weil ich das auch hobbymäßig mache. Das war Kunst in Gläsern | |
| und das führt dazu, dass dort eine bestimmte Hintergrundstimmung herrscht, | |
| die ich für wertvoll erachte. | |
| Wie muss eine Gesprächssituation beschaffen sein, in der Sie sich wohl | |
| fühlen? | |
| Im Grunde fühle ich mich in jedem Gespräch wohl, in dem ich das Gefühl | |
| habe, dass man mir wirklich zuhört. Das ist nicht so oft der Fall. In | |
| meinem Dorf bin ich im örtlichen Schützenverein, es ist da selten passiert, | |
| dass ich mal einen ganzen Abend lang mit einer Person unterhalten habe. | |
| Aber deswegen gehe ich da überhaupt hin. Würde ich in meinem alten | |
| Freundeskreis erzählen, dass ich zu einer Diskussion über Männlichkeit und | |
| Feminismus gehe, ich würde, überspitzt gesagt, gesteinigt werden. | |
| Sie sind umgeben von Machos? | |
| Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber ja. Wobei ich bei vielen auch das Gefühl | |
| habe, sie reden nur so, um nicht das Gesicht zu verlieren. | |
| Wie haben Sie das geschafft? | |
| Ein bisschen durch Anpassung. Ich habe mich selber runtergeregelt und bin | |
| dann zu den ganzen typischen Saufveranstaltungen und Mallorca-Partys | |
| mitgefahren. Ich fühlte mich jedes Mal nicht wohl, habe es aber gemacht, um | |
| nicht als Außenseiter dazustehen. Aber ich wusste auch, dass ich da nicht | |
| finde, was ich suche. | |
| Gehören Sie eigentlich in die Stadt? | |
| Das würde ich gar nicht mal sagen. Das wäre auch schwierig, weil mich da | |
| auch viele Sachen zu sehr stören. Aber den Schlag Menschen, den ich suche, | |
| den gibt es eher in der Stadt. Auch auf dem Dorf leben gute Menschen, aber | |
| jemanden zu finden, der auf der gleichen Wellenlänge sendet, das ist nahezu | |
| unmöglich. | |
| Fühlen Sie sich unterdrückt? | |
| Nein, nicht unterdrückt. Aber ich empfand es schon oft als | |
| Zeitverschwendung, meine Zeit so zu verbringen. Diskutiert wird nur im | |
| alkoholisiertem Zustand – und am nächsten Tag kann sich keiner mehr | |
| erinnern. Die Gesellschaft ist hart, ignorant und zu schnell geworden und | |
| sie wird immer noch schneller und größer werden, immer effektiver und es | |
| sollen immer noch mehr Ressourcen verbrannt werden, obwohl wir doch längst | |
| wissen, dass das nicht funktionieren wird. | |
| Sie arbeiten als Landschaftsgärnter. Sehen Sie Parallelen zwischen dem | |
| Zwischenmenschlichen und dem Verhalten gegenüber der Natur? | |
| Ja. Das liegt auch in der Natur der Theorie, die ich in der Ausbildung | |
| gelernt habe. Zum Beispiel kommt daher auch das Insektensterben. Weil man | |
| die ganze Landwirtschaft auf viel mehr Effektivität getrimmt hat und jetzt | |
| merkt, dass da nur noch Monokultur blüht. Durch die verschwinden die | |
| Insekten, die ja auf Wiesenblumen gehen. Hätte man sich das nicht vorher | |
| denken können? Ich denke schon. | |
| Wie sieht der typische Garten bei Ihnen aus? | |
| Es gibt Kunden, die auch mal ein Unkraut stehen lassen und denen jede Blüte | |
| wichtig ist und andere, die ihren Garten auf todschick trimmen wollen und | |
| die sich nur für die Optik interessieren. Dieser Drang nach Optik ist | |
| absolut unnatürlich. Selbst Rollrasen ist eine Monokultur, die nur am Leben | |
| bleibt, wenn Menschen dafür sorgen. | |
| Wie viele Leute haben denn einen Rollrasen? | |
| Das werden immer mehr. | |
| 10 Jul 2018 | |
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| Lena Kaiser | |
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