| # taz.de -- Kolumne Nachbarn: Sehr kurze Liebesgeschichten | |
| > Jeden einzelnen Liebhaber habe ich mit seinen Geschenken in eine | |
| > Schatulle verschlossen – außer Rafiq. Er schenkte mir mein Leben. | |
| Bild: Könnte auch ein Apfel sein? | |
| Von dem Herzen, das mein Freund in der zweiten Klasse auf meinen Stuhl | |
| gemalt hat, dachte ich, es sei ein Apfel. Ich malte ihm daher zwei grüne | |
| Blätter hinzu. Auf das eine Blatt schrieb ich den Anfangsbuchstaben seines | |
| Namens, auf das andere meinen vollständigen Namen! | |
| Die getrocknete Rose, die mein Freund in der Mittelschule in mein | |
| Biologiebuch in den Teil über die Fortpflanzung von Menschen hineingelegt | |
| hatte, gab ich ihm zurück mit einem kleinen Zettel, auf dem stand: Eine | |
| Rose ist eine Pflanze, du Dummkopf! | |
| Den Anhänger mit dem Buchstaben „K“, den mir mein Freund in der Oberstufe | |
| überreichte und von dem er behauptete, dass er von einem unbekannten | |
| Verehrer sei, habe ich lange Jahre aufbewahrt. Im Nachhinein stellte ich | |
| fest ich, dass ich ihn an dem Tag verloren habe, an dem ich erfuhr, dass | |
| der unbekannte / durchaus bekannte Verehrer bei einem Autounfall umgekommen | |
| war. | |
| Den kleinen von der Natur in Form eines seitlichen Gesichtsprofils mit | |
| spitzer Nase geschliffene Stein, den ich im ersten Studienjahr von meiner | |
| ersten Liebe geschenkt bekommen habe, habe ich bis heute noch in einer | |
| Schatulle mit allerlei Krimskrams. Und das, obwohl unsere Liebe nur einen | |
| einzigen Tag und wenige Stunden hielt! Am Morgen des ersten Tages sagte er | |
| zu mir: „Ich liebe dich!“ In diesem Moment hatte ich Flugzeuge im Bauch. | |
| Am zweiten Tag sagte er zu mir: „Ich mache mir Sorgen um dich, und das | |
| meinetwegen! Lass uns Freunde bleiben!“ Also trennten wir uns. Wir haben | |
| uns danach nicht mehr gesehen oder miteinander telefoniert, bis der Krieg | |
| ausbrach. Er rief mich einmal an und bat mich, auf mich aufzupassen. Wenige | |
| Tage nach seinem Anruf wurde er im Krieg getötet. | |
| ## Die Stelle zwischen zwei Brusthügeln | |
| Den viereckigen in Silber eingefassten Türkisstein, der an einer Kette an | |
| einer strategischen Stelle zwischen meinen Brusthügeln hängt, bekam ich von | |
| dem Mann geschenkt, von dem ich annahm, dass ich meine restlichen Tage mit | |
| ihm verbringen werde, nachdem ich sein Gedicht gelesen hatte. Er sagte mir, | |
| dass ihn genau diese Stelle zu diesem Gedicht inspiriert hatte! | |
| Wenige Monate später zeigte mir meine Freundin einen Brief ihres Geliebten. | |
| Es war ein Gedicht, in dem er sehnsuchtsvoll die Stelle zwischen ihren | |
| Brüsten beschrieb, an der der viereckige Türkisstein hängt! Den Türkisstein | |
| habe ich noch immer in der Schatulle. Was ihn aber angeht, so hatte er ab | |
| diesem Tag keine Geliebte mehr, die sich eine seiner Türkissteinketten an | |
| ihren Hals hängen würde! | |
| Rafiq, ein Kriegskamerad in Syrien, hatte mein Leben mehrmals vor Schützen | |
| und Hinterhalten gerettet. Ich war mir sicher, dass ich es fortan mit ihm | |
| verbringen würde. Für seine Rettung und seine Opferbereitschaft schulde ich | |
| ihm auf ewig Dank und Anerkennung. Während ich hier fernab der Heimat die | |
| Freiheit genieße, zahlte er dort einen hohen Preis. Ich erfuhr vor nicht | |
| allzu langer Zeit, dass er in seiner Gefängniszelle in der Heimat gestorben | |
| ist. Diese Nachricht ist bislang unbestätigt geblieben! | |
| In der Schatulle mit Krimskrams befinden sich verschiedene Geschenke, | |
| manche aus Silber, andere wiederum nicht. Bei einigen erinnere ich mich | |
| nicht mehr daran, wer sie mir geschenkt hat. Dennoch habe ich jeden | |
| Einzelnen, dessen Geschenk ich in der Schatulle verschlossen habe, zusammen | |
| mit seinem Geschenk in der Schatulle eingeschlossen. | |
| Rafiq, der Kriegskamerad, hat mir nie Silber, Türkis, oder einen Stein | |
| geschenkt, die ich mit ihm zusammen in der Schatulle verschließen könnte! | |
| Aber er schenkte mir mein Leben von Neuem, eine festgefahrene | |
| Vergangenheit, eine sorgenvolle Gegenwart und eine unbekannte Zukunft. | |
| Aus dem Arabischen Mustafa Al-Slaiman | |
| 25 Jun 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Kefah Ali Deeb | |
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