# taz.de -- Kolumne Nachbarn: Eine fünfstellige Nummer | |
> Ein junger Mann verschwindet. Einfach so, wie verdampft. Die Mutter | |
> wendet sich an die Behörden. Jahre später bekommt sie Besuch. | |
Bild: „Das Café, das er aufsuchen wollte, liegt wenige Meter hinter dem Kont… | |
Er war zweiundzwanzig Jahre alt und studierte an der Universität. Mit viel | |
Liebe und Geduld hatte ich ihn großgezogen. Er war mein Kind, er war mir | |
ein Freund, wir waren uns gegenseitig eine Stütze. | |
Eines Tages verließ er das Haus und kehrte nicht wieder zurück. Er sagte | |
mir, er würde seine Freunde treffen. Ich kannte sie alle. Eine Stunde | |
später rief mich einer seiner Freunde an und fragte nach ihm. Er sagte, | |
mein Sohn sei nicht zur Verabredung gekommen. Er sagte noch, er habe | |
versucht, ihn anzurufen, aber sein Handy sei ausgeschaltet gewesen. | |
Seitdem kam mein Sohn nie wieder nach Hause. Das Kind der Nachbarn | |
erzählte, es habe ihn beim Verlassen des Hauses gesehen. Er sei mit ihm | |
noch zwei Straßen weitergegangen. Kurz vor einem Kontrollposten der Armee | |
hätten sich ihre Wege getrennt. Das Kind der Nachbarn sei abgebogen, | |
während mein Sohn weitergegangen sei, um seine Freunde in einem Café zu | |
treffen. Das Café, das mein Sohn aufsuchen wollte, liegt am Ende der | |
Straße, nur wenige Meter hinter dem Kontrollposten. Das war damals alles, | |
was ich über den Verbleib meines Sohnes erfuhr. | |
Fortan nutzte ich jede Gelegenheit, nach meinem Sohn zu fragen. Ich | |
erkundigte mich bei den zuständigen Behörden, bei den Krankenhäusern und | |
bei den Sicherheitsorganen. Stets bekam ich dieselbe Antwort: „Bei uns ist | |
er nicht, wir wissen nichts.“ | |
## Besuch | |
So kam es, dass mein Sohn einfach verschwand. Als wäre er verdampft. Weg, | |
als hätte er sich in Luft aufgelöst. Mein Sohn war weder hier noch dort; er | |
war einfach nirgendwo. | |
Das ist nun fünf Jahre her. Jetzt sind wir im Juli 2018. Eines Tages in | |
diesem Jahr klopfte ein fremder Mann an meine Tür. Er begrüßte mich und | |
übergab mir einen verschlossenen Umschlag. Ohne ein Wort zu sagen, drehte | |
er sich um und ging fort. | |
In dem Umschlag befanden sich der Ausweis, die Armbanduhr, das Handy und | |
300 syrische Lira. Das war alles, was mein Sohn bei sich getragen hatte, | |
als er das Haus verließ. Er wurde ein Jahr nach seiner Verhaftung im | |
Gefängnis getötet. Ich wusste nicht einmal, dass mein Sohn verhaftet worden | |
war. Und stellen Sie sich das vor: Erst vier Jahre nach seinem Tod erfuhr | |
ich, dass er getötet wurde. | |
Ich weinte bei allen Sicherheitsbehörden und flehte die Beamten an, mir zu | |
sagen, wo mein Sohn begraben oder verbrannt worden war, falls sie ihn | |
verbrannt hatten. Ich flehte sie an, mir zu sagen, welche Vorwürfe gegen | |
meinen Sohn erhoben worden waren. Ich fragte sie, wie sie ihn getötet | |
hatten. | |
## Ein Zettel | |
Nie erhielt ich eine Antwort auf meine Frage. Sie forderten mich auf, mit | |
meinen Fragen aufzuhören. Doch am Ende übergaben sie mir einen kleinen | |
Zettel, auf dem eine fünfstellige Nummer stand. Sie sagten: „Das war der | |
Name Ihres Sohnes während seiner Haft.“ | |
Ich trage den Namen meines Sohnes immer bei mir. Die fünfstellige Nummer. | |
Das ist sehr schwer und schmerzhaft! | |
Ich wünschte, sie hätten mir nicht vom Tod meines Sohnes erzählt. Ich | |
wünschte, ich hätte nie erfahren, dass sie meinen Sohn getötet hatten. So | |
hätte ich zumindest noch die Hoffnung, dass mein Sohn eines Tages | |
zurückkehrt. Denn ich lebte von der Hoffnung auf seine Rückkehr. Ich | |
wünschte, sie hätten meinen Sohn an einem Ort begraben, den ich erreichen | |
kann. Wenn ich wüsste, wo mein Sohn begraben wurde, könnte ich sein Grab | |
besuchen und meine Trauer stillen. Ich hätte sein Grab mit Rosen bepflanzt, | |
denn er liebte Rosen. | |
Selbst mit der Hoffnung waren sie bösartig zu mir. Ich wünschte, mein Herz | |
wäre nicht so schwarz geworden wie ihre Herzen. | |
Das erzählte mir eine syrische Mutter. | |
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman | |
16 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Kefah Ali Deeb | |
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