Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- US-Einwanderungspolitik unter Trump: Die Kinder der Anderen
> Die US-Kultur ist von der Empathie mit alleingelassenen Heranwachsenden
> geprägt. Umso schlimmer sind Bilder von weggesperrten Migrantenkindern.
Bild: Wurde unter Zwang von seiner 16-jährigen Tochter getrennt: Jose, ein Vat…
Tom Sawyer war ein Waisenkind. Huckleberry Finn fehlte die Mutter, sie ist
gestorben, und sein Vater war ein Trinker. Am Beginn der modernen
amerikanischen Literatur, oder zumindest an einem ihrer Anfänge, standen
Heranwachsende, die sich, teilweise allein gelassen, auf eigene Faust durch
das Leben schlagen mussten.
Das taten Tom und Huck dann auch, aber was für Ängste und innere Konflikte,
wie viel Unsicherheit sie dabei durchzustehen hatten! Gerade die Einfühlung
in diesen komplizierten Seelenhaushalt wurde literarisch produktiv. Im
ersten Band wird er von einer traditionellen Lausbubenanmutung zum Teil
noch verdeckt. Im zweiten Band aber, der aus der Ich-Perspektive
Huckleberry Finns erzählt wird und dessen Einfluss auf die Literatur man
kaum überschätzen kann, bricht die komplexe Psychologie auf.
Angesichts der Bilder von [1][alleingelassenen Kindern in den facilities an
der Südgrenze der USA] gibt es Anlass, sich daran zu erinnern. In Mark
Twains Klassiker ist eine große Empathie mit dem Schicksal von
Heranwachsenden und auch Alleingelassenen spürbar – und sie ist dann in den
Vereinigten Staaten kulturstiftend geworden.
In „Findet Nemo“, um einen großen Schritt in die populäre Filmkultur zu
machen, werden Ozeane durchschwommen und zig Abenteuer bestanden, um einen
kleinen Fisch zu retten, der von seinem Vater getrennt wurde. Ein
Kinderfilm? Nicht nur. Man braucht nur den animierten Figuren in die Augen
zu sehen, um zu erahnen, wie viel Wissen um die Kinderschrecken des
Verlorenseins hier am Werk war.
Das Werk des Filmregisseurs Steven Spielberg ist sowieso von vor Schrecken
aufgerissenen Kinderaugen geradezu durchzogen. Und auf Netflix läuft gerade
die Serie „Lost in Space“. In ihr lässt sich die Einfühlung in Gefahr und
Rettung sogar mit zutiefst amerikanischen Siedlermythen in Verbindung
bringen. Die Robinsons, so geht die Geschichte, wollen der unbewohnbar
gewordenen Erde entkommen und auf einem fremden Planeten siedeln, dabei
gibt es Schwierigkeiten. Und der handlungsleitende Punkt ist: Niemand wird
zurückgelassen, die ganze Gruppe kämpft um jedes einzelne Leben, erst recht
um jedes Kinderleben. Nebenbei: Als Siedler in diesem Sinne lassen sich in
der gegenwärtigen politischen Situation die Migranten verstehen.
## Absolut unamerikanisch
Es ist ein Schock für sich, wenn man von diesem kulturellen Hintergrund aus
auf die Bilder der [2][ihren Eltern entrissenen Kinder] in den USA schaut.
Da arbeitet dann nicht nur Empörung in einem, sondern auch das sprachlos
machende Gefühl, die Welt nicht mehr zu verstehen.
Kinder in Drahtkäfigen! Erschütternde Berichte wie der einer
US-Kongressabgeordneten; eine Mutter hatte ihr erzählt, wie sie mitten in
der Nacht von ihrem neben ihr schlafenden Kind weggerissen worden war –
ohne sich wenigstens verabschieden zu können. Und noch immer fehlen Pläne,
wie man die Kinder und ihre Eltern wieder zusammenbringen kann.
Das ist alles nicht nur furchtbar, es ist vor allem auch so dermaßen
unamerikanisch. Kinder ohne Eltern in einschüchternder Lage, das ist in der
US-Kultur doch eigentlich das Schlimmste, was passieren kann! Im
übertragenen Sinne kommt dann in der Fiktion immer gleich die Kavallerie.
Dabei geht es keineswegs nur um die Verteidigung traditioneller
Familienwerte. In der US-Kultur bis hin zu solchen Mainstreamserien wie
„Lost in Space“ ist vielmehr auch ein Wissen darüber enthalten, was das
Alleingelassenwerden in den Psychen von Kindern ausrichten kann, von
Traumatisierungen bis hin zu seelischen Fluchten in Ich-Panzerungen.
Auch dieses Wissen ist in den USA eigentlich kulturstiftend, bis heute.
„Batman“, die Saga um den dunklen Ritter, ist im Kern nichts anderes als
die Geschichte eines traumatisierten Jungen, der sich in das Rächer- und
Schützer-Imago eines Superhelden rettet. Und wer könnte je diese
schockhafte Einsicht in dem Oscar-Gewinner „Moonlight“ vergessen, als in
einem waghalsigen Schnitt aus dem sensiblen und weichen Jugendlichen der
ersten beiden Teile der verhärtete und muskelbepackte junge Erwachsene des
Schlussteils geworden war.
## Gewünschter Effekt: Abschreckung
Verhärtungen. Panzerungen. Genau, dachte man beim Sehen, genau. Genau das
passiert, wenn Heranwachsende den Eindruck entwickeln müssen, sich nur auf
eigene Faust gegen die Schrecken der Welt wappnen zu können. So wie in den
vergangenen Tagen, davon ist auszugehen, die weggesperrten Kinder der
Einwanderer in die USA.
Wie nun lassen sich also die schrecklichen Vorgänge am Grenzzaun und die
Bilder von ihnen verarbeiten? Das rationale Kalkül dahinter hat Gustav
Seibt in der SZ herausgearbeitet. Es gibt einen systemisch gewünschten
Effekt dieser Bilder, und der lautet Abschreckung. Mögliche Migranten
sollen dazu gebracht werden, gar nicht erst aufzubrechen.
Das ist sicherlich die eine Seite der Medaille. Doch da gibt es auch noch
eine Rückseite – die schiere Fassungslosigkeit darüber, wie weit
amerikanische Behörden dabei gehen, zum vermeintlichem Schutz des eigenen
Landes Grundsätze zu opfern, auf denen dieses Land doch aufgebaut ist.
Dieses Erschrecken lässt sich mit politischen Rationalisierungen nicht
leicht beruhigen. Und auch nicht mit der Analyse, dass sich Trump, der über
seine Pressesprecher das Vorgehen an der Grenze den US-Demokraten in die
Schuhe schieben wollte, schlicht in den Wirkungen verkalkuliert hat.
Ein möglicher Verarbeitungsansatz wäre, daran zu erinnern, dass
US-amerikanische Ideologie und US-amerikanische Wirklichkeit in vielerlei
Hinsicht zwei verschiedene Paar Schuhe waren und noch sind. Zum Glück lässt
sich dagegen wiederum einwenden, dass der Umgang mit den Kindern große
Empörung und Widerstand in den USA selbst hervorgerufen hat. Das aktuelle
Cover des New Yorker etwa zeigt verschreckte Kinder, die sich im Kleid der
Freiheitsstatue verstecken.
## Tiefe Zerrissenheit des Landes
So zeugt die tobende Debatte in den USA von einer tiefen Zerrissenheit des
Landes. Sie geht keineswegs nur Amerikaner an. In Deutschland ist es noch
nicht so lange her, dass man weiß, wie wichtig frühkindliche Beziehungen
für die Persönlichkeitsentwicklung sind. Um dieses Wissen zu erlangen, war
Psychologie wichtig; um es zu popularisieren und durchzusetzen aber eben
auch die US-amerikanische Populärkultur. Man will die US-Öffentlichkeit, so
hilflos das auch sein mag, also geradezu rütteln, das alles jetzt nicht
zurückzudrehen.
Es gibt noch einen zweiten Verarbeitungsansatz. In seinen Reden und Tweets
lässt Präsident Trump keine Gelegenheit aus, die Einwanderer in die USA
abzuwerten und als mögliche Verbrecher und im Grunde als Abschaum
darzustellen. Offenbar glaubt er die US-amerikanische Isolierung vom Rest
der Welt bis zu dem Punkt treiben zu können, an dem die zutiefst
amerikanischen Rettungsreflexe den eigenen Kindern gegenüber damit
einhergehen können, die Kinder der Anderen ganz anders zu behandeln bis
dahin, sie ihren Eltern zu entreißen und zu inhaftieren.
Wenn er damit durchkommen sollte, wäre es so, als hätte es Tom Sawyer nie
gegeben.
30 Jun 2018
## LINKS
[1] /Familientrennungen-in-den-USA/!5511548
[2] /Familientrennungen-an-der-Grenze/!5511673
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
Donald Trump
Einwanderungspolitik
USA
USA
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
USA
Schwerpunkt USA unter Donald Trump
## ARTIKEL ZUM THEMA
Honduraner auf dem Weg in die USA: Karawane löst Getrumpel aus
US-Präsident Trump will Soldaten an die Südgrenze schicken, um Honduraner
fernzuhalten. Mexiko bittet das UNHCR um Hilfe.
Protest gegen US-Einwanderungspolitik: Zehntausende gegen die Regierung
In verschiedenen US-Städten protestieren Demonstranten gegen die Trennung
von Familien an der Grenze zu Mexiko. Es dürfe „keine Kinder mehr in
Käfigen“ geben.
Migrantenkinder an US-Grenze: Familien müssen vereint werden
Ein Gericht urteilt, dass an der US-Grenze getrennte Familien in 30 Tagen
zusammengeführt werden müssen. Es ist ein weiterer Denkzettel für
US-Präsident Trump.
Konflikt um Papierlose in den USA: Keine Toleranz für „Null Toleranz“
In New York ist jetzt eine vierte Frau mit ihren Kindern im Kirchenasyl vor
der Abschiebung bewahrt worden. Allerlei Prominenz solidarisiert sich.
Trumps Migrationspolitik: Misshandlung hinter Gittern?
US-Medien berichten, Migrantenkinder seien in Lagern mit Medikamenten
ruhiggestellt worden. Auch zu Kindesmissbrauch soll es gekommen sein.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.