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# taz.de -- Ex-Heimkind über Schwarze Pädagogik: „Ein Held war ich nie“
> Wolfgang Rosenkötter hat sich erst 40 Jahre nach der quälenden Zeit an
> sein Leben in der Anstalt erinnert. Dann verfilmte er seine Geschichte,
> um zu warnen.
Bild: Kann bis heute nicht bei Licht schlafen: Wolfgang Rosenkötten
taz: Herr Rosenkötter, Sie sind Sozialwissenschaftler und waren selbst
Heimkind. Wie prägte Sie diese Zeit?
Wolfgang Rosenkötter: Ich bin, nachdem ich mit 17 Jahren aus dem Kinderheim
Freistatt kam, nicht wieder nach Hause gegangen. Denn ich konnte meinem
Vater nicht verzeihen. Zunächst wurde ich Krankenpfleger, später holte ich
mein Abitur nach und studierte.
Sie waren von 1962 bis 1965 in der Anstalt „Bethel“. Wie sehr hing Ihnen
diese Zeit nach?
Nach meiner Entlassung hatte ich diese Erfahrungen 40 Jahre lang verdrängt.
Erst als 2005 das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski
herauskam, habe ich und auch andere Heimkinder uns mit unserer Geschichte
konfrontiert.
Wie erfuhren Sie von dieser Entwicklung?
Ein Kollege machte mich auf einen Fernsehbeitrag aufmerksam. Dann erfuhr
ich, dass in Freistatt eine Lesung mit dem Autor geplant war. Drei Wochen
lang hatte ich Bauchschmerz und schlaflose Nächte, dann rang ich mich
durch, hinzufahren.
Wie war das für Sie?
Chaotisch. Da waren viele Ehemalige, die weinten und schimpften. Es war
wichtig, das rauszulassen. Nach der Lesung kam ich mit dem Leiter der
Jugendhilfe in Freistatt ins Gespräch. Er fragte mich, ob ich bereit wäre,
Obmann für die heutigen Jugendlichen zu sein, die dort oder in Wohngruppen
in der Umgebung leben. Ich sagte zu.
Das heißt, Sie waren von da an wieder regelmäßig dort.
Ich musste ja nicht, ich übernahm diese Aufgabe gern. Bethel hat sich
damals ihrer Vergangenheit gestellt. Früher waren dort sechs Häuser mit 400
Jungen. Jetzt gab es dort nur noch das eine Haus, zufällig das, in dem ich
damals lebte, und eine Wohngruppe. Und es gab auch noch die Akten. Der
Leiter war damit einverstanden, dass jeder, der das will, einen Antrag
stellen kann und dann eine Kopie seiner Akte bekommt. Ich schrieb dann
einen Artikel über meine Ankunft in Freistatt – dem „Vorhof zur Hölle“.
Was war das Schlimmste?
Es war alles schlimm. Wir mussten sechs Tage die Woche ins Moor zum
Torfstechen und durften zunächst nur Holzbotten tragen, die an den Füßen
schmerzten. Nach drei Monaten wurden die Botten weggenommen und ich bekam
Gummistiefel. Drei Tage später bin ich geflohen. Als ich zurückgebracht
wurde von meinem Vater, kam ich für drei Wochen in eine Zelle unterm Dach.
Als ich wieder runterkam, stand der Hausvater im Aufenthaltsraum. Ich
musste im Entengang um den Billardtisch laufen. Jedes Mal, wenn ich
hochkam, schlug er mich mit dem Stock. Das Zweitschlimmste war, dass mein
Vater mir nicht glaubte, dass ich geschlagen wurde, obwohl ich ihm die
Striemen zeigte. Er sagte einfach, Diakone machen so etwas nicht.
Im Film Freistatt gibt es eine harte Szene, in der Ihre Mutter Sie unter
dem Vorwand zurückbringt, sie wolle das Heim angucken. Dann fährt sie
einfach weg und lässt Sie zurück.
Ja. Im Film sind die Rollen vertauscht, dort ist es meine Mutter, die mich
hinbringt. In Wirklichkeit hatte ich damals aber gar keinen Kontakt zu ihr.
Der Film zeigt, wie Sie als junger Mann mit nacktem Oberkörper in dicken
Seilen hängen.
Das gab es. Bis 1963 waren diese Fesseln üblich. Man wurde dort, wenn man
in der Zelle war, für ein paar Stunden eingehängt.
Unfassbar. Und diese Erinnerung kam erst 2005 wieder hoch?
Ja. Wir haben alle nur Angst gehabt. Man stand ständig unter Angst, weil
man nie wusste, was bringt die nächste Stunde, und aufpassen musste, dass
man nichts verkehrt macht. Wir schliefen mit 40 Kindern in einem Saal. Wir
hatten nichts, außer unseren Nachthemden, der Zahnbürste und der
Arbeitskleidung im Keller. Genauso schlimm war aber auch, dass wir uns
gegenseitig das Leben schwer machten. Wir waren ja 40 Jungen im Alter von
13 bis 21 Jahren. Die Diakone wandten das System der Kollektivstrafe an.
Wenn einer was gemacht hat, wurden alle bestraft. Und der Verursacher wurde
dann von allen anderen bestraft, mit einer Schlappenparade – auch ich habe
erfahren, was das bedeutete: Ich lag am Boden und jeder schlug mir mit
einer nassen Gummisohle auf den Hintern. Ich hatte ständig Angst: vom
ersten bis zum letzten Tag.
Sie hatten das so lange verdrängt. Wie gelang es Ihnen, alles wieder in
eine zeitliche Abfolge zu bringen?
Bei der Einrichtung Freistatt weiß ich vom ersten bis zum letzten Tag
genau, was da vor sich ging. Das habe ich in Stichpunkten notiert. Doch bei
den beiden anderen Heimen, in denen ich vorher war, kann ich mich nicht an
Einzelheiten erinnern. Wir ehemaligen Heimkinder gründeten damals einen
Verein und schrieben eine Petition an den Bundestag. Der führte dann zum
„Runden Tisch Heimerziehung“. Da habe ich damals aber nicht mitgemacht. Ich
zog mich zurück.
Warum?
Am Tisch saßen auch die Rechtsanwälte der Institutionen und haben uns, die
rund 800.000 ehemalige Heimkinder, mit einem Fond von 120 Millionen Euro
abgespeist. Wir hätten da mehr rausholen müssen.
Gab es Institutionen, die Ihr Leid bezweifelten?
Es gab Kirchenvertreter, die von bedauernswerten Einzelfällen sprachen. Ich
war dabei, wie in einem Mädchenheim ältere Nonnen meiner Mitstreiterin ins
Gesicht sagten, sie würde lügen. Sie behaupteten einfach das Gegenteil und
sagten, sie hätte nie Erbrochenes essen müssen. Strafrechtlich ließ sich
nichts mehr aufklären. Die Vorfälle waren verjährt.
Im Heim in Freistatt starben doch sogar Kinder.
Das stimmt. Es gab in Freistatt zwischen 1950 und 1970 Todesfälle, von
denen ich weiß. Sie werden aber als Selbsttötung darstellt. Wir haben auch
überlegt, vor dem EU-Menschenrechtsgerichtshof zu klagen. Aber das wäre
aussichtslos.
Nun wurde Ihre Geschichte verfilmt. Wie kam es überhaupt dazu?
Der Regisseur Marc Brummund ist in der Nähe des Heims in Freistatt
aufgewachsen. Doch er hat als Kind von diesen Dingen nichts mitbekommen. Er
entschied sich, einen Film über die Schwarze Pädagogik in der Heimerziehung
zu drehen und fragte bei der Diakonie in Bethel an, ob sie ihm Zeitzeugen
nennen könnten. Er lebt wie ich in Hamburg, so kam ich ins Spiel. Wir
trafen uns zwei Jahre lang alle zwei Monate zu Gesprächen. 2013 begann der
Dreh, 2015 kam der Film in die Kinos.
Die bösen Figuren leben nicht mehr. Gab es dennoch Gegenwind?
Kaum. Denn andere ehemalige Heimkinder haben mir unzählige Male bestätigt,
dass es in Freistatt so zuging. Auch die Angehörigen eines ehemaligen
Hausvaters bestätigte mir, dass ihr Vater ein Schläger war. Und die
wissenschaftliche Aufarbeitung der Studie „Endstation Freistatt“ spricht
auch klare Worte.
Im Film hatten Sie Kontakt zur Tochter des Hausvaters und bitten sie, einen
Brief abzuschicken.
Die Liebesgeschichte ist in den Film eingespielt, um ihn peppiger zu
machen. Wir hatten nie Kontakt zu den Mädchen.
Wie finden Sie den Film?
Ich finde ihn sehr gut. Er zeigt das, was geschehen ist: die Wahrheit. Ich
bin mit dem Film seit 2015 als Zeitzeuge unterwegs, um die damalige
Schwarze Pädagogik zu zeigen und dazu beizutragen, dass so etwas nie wieder
vorkommt.
Wie beschreiben Sie Ihre Rolle in Freistatt?
Ich war rebellisch, habe mich gegen das System dort gewehrt. Aber nach der
zweiten vergeblichen Flucht sagte ich mir: Du musst mit den Wölfen heulen.
Ich habe einfach nur noch gehofft, dass es bald vorbei ist.
In einer Szene bekommen alle Kinder zur Strafe kein Essen und Sie flitzen
raus und stehlen im Garten Gemüse. Entspricht das der Realität?
Ja. Kein Essen war als Strafe ganz schlimm. Wir mussten ja sechs Tage in
der Woche hart im Moor arbeiten.
Dann schnappt der Hausvater Sie und drückt Sie in einem Regenfass unter
Wasser.
Auch das war wirklich so.
Was hieß es, sich zu wehren?
Wenn die Brüder sagten, es gibt nichts zu essen, sagte ich: Das geht nicht,
wir müssen morgen schwer arbeiten. Schon hieß es, du kommst einen Tag in
die Zelle, oder es gab eine Backpfeife. Außerdem habe ich bei der Arbeit im
Moor den Mund aufgemacht, wollte auch den anderen helfen. Das kam bei den
Erziehern gar nicht gut an.
Waren Sie ein Held?
Ein Held war ich nie. Die anderen akzeptierten mich mit der Zeit und
schlugen mich bei Kollektivstrafen nicht mehr. Aber auch ich habe mich
angepasst. Im Film ist am Ende Wolfgang der Kapo und ruft: Antreten zum
Appell!
Sie hofften auf ein baldiges Ende. Wussten Sie, wann es so weit ist?
Nein. Es gab damals die Fürsorgeerziehung per Gericht, da musste ein Kind
mindestens zwölf Monate ins Heim. Bei mir hat der Vater diese „Freiwillige
Erziehungshilfe“ beantragt. Theoretisch konnte er mich jederzeit rausholen.
Nur hätten dann die Erzieher einen Antrag auf Fürsorgeerziehung stellen
können.
Wie gelang es Ihnen, rauszukommen?
Sie waren bei mir nach 17 Monaten der Meinung, dass man mich wieder auf die
Menschheit loslassen kann. Eines Morgens hieß es: Du bleibst heute hier und
gehst nicht ins Moor. Ich fuhr dann zu einem Bekannten der Familie, der mir
geschrieben und Hilfe angeboten hatte. Der hat mich erst mal aufgepeppelt.
Ich machte dann in Hamburg als erster Junge ein freiwilliges soziales Jahr.
Was war mit Ihrem Vater?
Ich habe ihn erst viel später wiedergesehen, wir beide konnten aber über
meine Zeit im Heim nicht sprechen.
Warum gab er Sie ins Heim?
Ich wuchs bei meinem Vater auf, war nach der Schule oft allein zu Hause.
Ich kam aus einem Akademikerhaushalt. Mein Vater war Rechtsanwalt und
konnte nicht verwinden, dass sein Sohn nur einen Volksschulabschluss hatte.
Dann brach ich zwei Mal eine kaufmännische Lehre ab. Daraufhin wandte sich
mein Vater ans Jugendamt. Die sagten: Schick ihn ins Heim, da lernt er
Struktur.
Belastet es Sie heute noch, den Film zu zeigen?
Anfangs schon. Aber das ist für mich auch eine Therapie. Es ist für mich
eine Mission, die Geschichte der Schwarzen Pädagogik zu erzählen. Ich habe
vor zwölf Jahren auch eine Therapie gemacht, die mir sehr half. Dennoch
habe ich heute noch ein Déjà-vu, wenn ich Schlüssel klappern höre. Ich kann
auch nur bei Licht schlafen und sitze in Räumen mit dem Rücken zur Wand.
Wieso dauert es 40 Jahre, bis die Wahrheit ans Licht kam?
Diese Verdrängung ist Selbstschutz gewesen. Es bedarf einer Person von
außen, die den Finger in die Wunde legt und dafür sorgt, dass man den
Betroffenen glaubt.
Wie ist Ihr Leben heute?
Bis zu dieser Konfrontation war mein Leben von vielen Brüchen geprägt. Dass
ich im Heim war, konnte ich nicht mal meiner früheren Frau oder meinem Sohn
erzählen. Seit 2006 lebe ich mein drittes Leben. Es ist das beste bisher.
Ist es für Sie an der Zeit, sich anderen Themen zuzuwenden?
Das ist nie gut, weil die Geschichte sich wiederholt. Auch heute werden
Kinder in Heimen unterdrückt und gequält. Es wird leider so weitergehen,
wenn wir nicht aufklären. Ich setze mich heute für Kinderrechte ein und ich
wünsche mir einen Kinderschutzbeauftragten.
18 Jun 2018
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Pädagogik
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