# taz.de -- Kontaktbereichsbeamtin am Alex: „Viele nennen mich Sheriff“ | |
> Für manche Berliner ist der Alex ein gefährlicher Ort. Sigrid Brandt hat | |
> ihn sich als Arbeitsplatz dagegen ausgesucht. Und einen ganz anderen | |
> Blick gewonnen. | |
Bild: Diesmal andersrum. Normalerweise ist die Weste unter dem Diensthemd | |
taz: Frau Brandt, tragen Sie Ihre Schutzweste freiwillig? | |
Sigrid Brandt: Ja. Ohne das Ding würde ich mich natürlich freier fühlen. | |
Aber so schnell kann man gar nicht gucken, wie einen jemand anzugreifen | |
versucht. Wenn es passiert, passiert es von jetzt auf gleich. | |
Ist es Ihnen schon passiert? | |
Nein. Ich achte sehr auf die Körpersprache. Die Stimme und die Sprache sind | |
mein wichtigstes Arbeitszeug. Wenn wir mit unserem Gegenüber reden, können | |
wir viele Situationen ganz anders gestalten, als wenn wir nur agieren. | |
Schwingt da Kritik an Kollegen und Kolleginnen mit? | |
Nein. Aber ich würde mir wünschen, dass die Menschen mehr miteinander | |
reden. | |
Hat es einen Grund, dass Sie die Schutzweste unter dem Polizeihemd tragen? | |
Wir als Kontaktbereichsbeamte sind dazu da, mit den Bürgern in Kontakt zu | |
treten. Dabei spielt auch das Äußere eine Rolle. Eine offen getragene | |
Schutzweste schafft Distanz. Viele Leute haben dann größere Probleme, auf | |
Polizisten zuzugehen. Mit einem freundlichen Aussehen hat man einen ganz | |
anderen Stand, als wenn da jemand steht, der zum Beispiel Handschuhe trägt. | |
Handschuhe sind bei der Polizei inzwischen fast der Normalfall. Wird das im | |
Kollegenkreis problematisiert? | |
Ich spreche das lieber direkt an. „Ist dir kalt, Kollege?“, frage ich | |
manchmal. „Wozu brauchst du die Handschuhe?“ Als Antwort kommt dann: „Das | |
habe ich so gelernt. Außerdem könnte es sein, dass ich gleich zupacken | |
muss“. – „Mach dich davon frei“, rate ich dann. | |
Wie kommt das an? | |
Nicht allen Kollegen gefällt das. Andererseits weiß ich, dass viele meine | |
direkte Art super finden, auch wenn man mir das nie offen sagen würde. Ich | |
bin eben nicht „normal“, in Anführungsstrichen. | |
Auf dem Alexanderplatz sind Sie seit fünf Jahren als Kontaktbereichsbeamtin | |
tätig. Wie groß ist Ihr Revier? | |
Das Revier ist der Alexanderplatz. Punkt! Galeria, Brunnen der | |
Völkerfreundschaft, Weltzeituhr und alles, was hinter dem Fernsehturm ist, | |
also auch die Wasserkaskaden und das Areal am Neptunbrunnen. Wir sind hier | |
zu dritt – zwei Kontaktbereichsbeamtinnen und ein Kontaktbereichsbeamter. | |
Unsere Dienststelle, das ist ein tolles Team. | |
Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen? | |
Wir sind nur zu Fuß unterwegs, unterhalten uns mit den Menschen, | |
beantworten viele Fragen. | |
Mit welchen Leuten haben Sie zu tun? | |
Viel mit Touristen. Sie wollen alles wissen: Wo ist die Weltzeituhr? Oder: | |
Wie viele Figuren hat der Neptunbrunnen? Es sollen 56 Figuren sein, ich | |
habe es aber leider noch nicht geschafft, alle zu zählen. Die Kontakte sind | |
ausgesprochen freundlich. Ich mach auch jeden Blödsinn mit – etwa wenn sie | |
ein Foto machen wollen. Dann sind da die Geflüchteten: Viele kommen zum | |
Alexanderplatz, um Landsleute zu treffen. Leider kommt es dabei auch öfter | |
zu Konflikten. | |
Was machen Sie in solchen Fällen? | |
Wenn wir merken, dass es Spannungen gibt, versuchen wir zu schlichten, | |
indem wir die Situation offen ansprechen. Na, und dann sind da natürlich | |
auch noch unsere Wohnungslosen. | |
Wo auf dem Alex halten sie sich auf? | |
Überall. 20 bis 30 sind hier fest. Vor drei Jahren hatten wir noch relativ | |
viele Wohnungslose, die gebürtige Deutsche waren. Jetzt haben wir sehr, | |
sehr viele Russen, Polen und Rumänen, die sich auch zusammentun, weil sie | |
sich als Gruppe sicherer fühlen. Zum Schlafen gehen sie lieber unter die | |
Brücken oder ganz woanders hin. Auf dem Platz haben sie Angst, nachts | |
beklaut oder drangsaliert zu werden. | |
Was zieht die Obdachlosen zum Alex? | |
Sie möchten Teil der Gesellschaft sein. Überwiegend sind sie als | |
Flaschensammler unterwegs. Bis 2016 lebte hier eine nette Dame, Anita. Sie | |
war Mitte 50. Wir mussten sie wegschicken, weil sie sehr viele Lebensmittel | |
gesammelt hat. Dadurch sind die Ratten gekommen. Man konnte sie nicht | |
überreden, die Sachen wegzuwerfen. Sie hat gesagt, sie warte auf ihren | |
Freund – der aber nie gekommen ist. Dann hatte sie offene Beine. Ich habe | |
ihr mal was aus der Apotheke geholt, weil sie sich geschämt hat, da | |
hinzulaufen. Das sind Kleinigkeiten, die einen Kontaktbereichsbeamten halt | |
auch ausmachen. | |
Was ist aus Anita geworden? | |
Kollegen haben ihr einen Wohnplatz besorgt. Es hieß, sie fühle sich da sehr | |
wohl. Aber wir haben keinen Kontakt mehr und wissen nicht, ob sie noch | |
lebt. Es kommt auch vor, dass auf dem Platz Menschen sterben. Das ist ja | |
letztendlich der Wohnort für sie. | |
Wie lange kann man so einen Job machen? | |
Bis ich in Pension gehe oder sage, ich habe kein Interesse mehr. Das ist ja | |
etwas Freiwilliges. Man kann niemanden dazu zwingen. Man sollte das mit | |
Respekt und Herzlichkeit machen. Aber das gilt für alle Berufe. | |
Wie werden Sie von den Leuten angesprochen? | |
Viele nennen mich Sheriff oder die Köppin vom Alexanderplatz. (lacht). | |
Sheriff – wie verstehen Sie das? | |
Das hat etwas Herzliches. Oder auch, wenn die Wohnungslosen manchmal rufen: | |
„Ey Brandi, Sheriff, komm mal her.“ Mehr Anerkennung kann man hier als | |
Mensch gar nicht kriegen. Nicht so: „Hey Bulle.“ Das ist schön. Das ist es, | |
was unsere Arbeit ausmacht. Das Miteinander. | |
Waren Sie schon Kontaktbereichsbeamtin, als der 21-jährige Jonny K. 2012 | |
auf dem Alexanderplatz ums Leben kam? | |
Ja, aber da war ich nicht im Dienst. | |
Das war der Wendepunkt. Ab da war man sich in der Politik einig: Es muss | |
was passieren. | |
Jonny K.s Schwester hat mit ihrem Aufruf zur Zivilcourage viel bewirkt. Das | |
Schlimme ist, dass sich die Leute nicht für andere einsetzen. Aber das ist | |
kein spezielles Problem des Alexanderplatzes. Das ist ein | |
gesellschaftliches Problem. | |
Ärgert es Sie, dass der Alex so einen schlechten Ruf hat? | |
Dafür, dass hier täglich 350.000 Menschen verkehren, finde ich, passiert | |
vergleichsweise wenig. Aber natürlich passieren tagtäglich Straftaten, auch | |
wenn wir aktiv sind. Das haben Sie doch selbst neulich bei der | |
Pressekonferenz erlebt. | |
Die beiden Senatoren für Inneres und Justiz hatten Anfang Juni zum | |
Alexanderplatz eingeladen, um den Medien zu zeigen, wie Rot-Rot-Grün die | |
Kriminalität bekämpft. Plötzlich rannte ein Ladendieb vorbei und hinter ihm | |
her Detektive. | |
Das kommt vor. Dadurch, dass wir als Polizei sichtbar sind, können wir | |
vielleicht das eine oder andere verhindern. Aber es kann auch sein, dass | |
genau ein Haus weiter jemand abgestochen, drangsaliert oder beleidigt wird. | |
Die neue Polizeiwache am Alex erfüllt auf alle Fälle einen guten Zweck: | |
Viele Leute sagen, dass sie sich dadurch sicherer fühlen. Dieses | |
Bangemachen und das absichtliche Hochhalten der Angst in den Medien finde | |
ich schlimm. Über die Not und das Elend, die es hier gibt, wird dagegen | |
kaum geschrieben. | |
Worauf wollen Sie hinaus? | |
Verhungern tut hier keiner. Es gibt viele Organisationen, die hier tätig | |
sind. Aber was ist mit den vielen alten Leuten, die rund um den | |
Alexanderplatz leben? Hier haben ja sehr viele Häuser noch einen | |
Altbestand an Mietern. Früher hat man sie noch gesehen in den alten Cafés: | |
Da saßen ältere Damen und haben ein Stückchen Kuchen gegessen. Das findet | |
heute überhaupt nicht mehr statt. | |
Woran liegt das? | |
Die Rente reicht vielleicht gerade, um die Miete zu bezahlen. Sie schämen | |
sich, zum Amt zu gehen. Es gibt ältere Menschen, die sind so arm, dass sie | |
fast verhungern. Wie das aussieht, habe ich erlebt, als ich noch auf einem | |
Abschnitt in Charlottenburg war. Bei einem Einsatz in einer Wohnung habe | |
ich die alte Dame gefragt, wo ihre Katze sei. Ich hatte eine geöffnete Dose | |
Katzenfutter gesehen. „Ich mache mir gerade etwas zu Essen“, hat sie | |
gesagt. Sie könne sich kein Fleisch leisten, im Katzenfutter sei auch | |
Fleisch drin. Ich bin da geblieben, um mitzuessen. Mein Kollege meinte: „Du | |
spinnst.“ | |
Warum haben Sie das gemacht? | |
Es ging mir darum, einem Menschen, der nichts hat und teilen möchte, | |
Wertschätzung zu erweisen. | |
Wie hat es geschmeckt? | |
Es war gut zubereitet, aber ich würde es nicht jeden Tag essen wollen. | |
Haben Sie es als Frau schwerer oder leichter in dem Job als ein Mann? | |
Wir Frauen haben es leichter. Männer haben ja die Tendenz aufzumuskeln. Ich | |
benutze gern das Beispiel von den Hunden – ich habe ja welche: Wenn sich | |
zwei Rüden begegnen, kommt es sofort zum Konflikt. Mit einem Wohnungslosen, | |
der gerade etwas entwendet hat, brauche ich aber nicht harsch umzugehen, | |
wie das leider manchmal bei Kollegen vorkommt. Klar riecht er auch nach | |
Urin und Kot. Aber er ist trotzdem ein Mensch. | |
Haben Sie überhaupt keine Konflikte mit Leuten? | |
Natürlich gibt es auch kritische Momente. Wenn ich bei einer | |
Verkehrskontrolle merke, mein Gegenüber ist sehr angespannt, erwarte ich, | |
dass er die Hände aus der Hosentasche nimmt. Es geht auch um einen | |
respektvollen Abstand. Klar werde ich auch mal angepöbelt. „Kennen wir | |
uns?,“ frage ich dann. – „Nö, aber du bist Bulle.“ Ich: „Und? Auch h… | |
einem Bullen steckt ein Mensch.“ | |
Was wünschen Sie sich für den Alex? | |
Mehr Bänke und ein schönes Café mitten auf dem Platz am Neptunbrunnen, von | |
wo aus man sehen kann und gesehen wird. Das würde manche Leute vielleicht | |
davon abhalten, dort Zoff zu machen. Und eine Dusche! Viele Touristen | |
sagen, sie würden sich gern mal kurz abduschen – und auch unsere | |
Wohnungslosen. Die Toilette am Volleyballfeld ist schon sehr gut. Klar, | |
wird da auch mal gedealt und ein Schuss gesetzt. Aber wir wissen wenigstens | |
immer, wo die Menschen sind. | |
25 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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