# taz.de -- Die Wahrheit: Die Würde des Windbeutels | |
> Frank Schirrmacher lebt! Vom Größten Feuilletonisten aller Zeiten zum | |
> Fahrradpfarrer – der ehemalige „FAZ“-Herausgeber weilt unter uns. | |
Zu Pfingsten erschien eine heftig diskutierte Biografie des ehemaligen | |
FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher. „Ein durch und durch boshaftes Buch“, | |
befand der Feuilleton-Chef der Süddeutschen Zeitung Andrian Kreye. Recht | |
hat er! Denn das grenzt schon an Boshaftigkeit, wenn der Biograf Michael | |
Angele („Schirrmacher: Ein Portrait“) nicht die wahre Lebensgeschichte des | |
Porträtierten erzählt. So wie es Schirrmacher selbst stets tat, wenn er zum | |
Beispiel seinem verblüfften Publikum berichtete, dass er einst als Sohn | |
eines Diplomaten in der äthiopischen Wüste entführt worden sei. | |
Nur wenige Eingeweihte wussten, dass die bizarren Ausschmückungen des | |
„fanternden Windbeutels“ (taz) nicht der Wahrheit entsprachen. Hinter der | |
glitzernden Fassade des Schwerintellektuellen traten erstaunliche Dinge zu | |
Tage: Der schon 1994 vom New Yorker Time Magazine in die Liste der 100 | |
einflussreichsten Personen der Welt gewählte illustre Leverkusener hatte an | |
der Gesamthochschule Siegen studiert und es dennoch zum König des Geistes, | |
zum Verkünder neuer Epochen, zum wichtigsten Deutschen seiner Zeit | |
geschafft. Das „Wunderkind“ (Bunte) versöhnte das Hochfeuilleton mit den | |
Boulevardgassen, die Natur- mit den Geisteswissenschaften. Er verkehrte in | |
den höchsten Kreisen, war ein Verehrer Helmut Kohls, duzte sich mit Tom | |
Cruise, beriet Angela Merkel – und mit all dem sollte auf einmal Schluss | |
sein? Aus, Sense, Ende? | |
Als Frank Schirrmacher im Jahr 2014 plötzlich und überraschend an | |
Herzversagen starb, war das Wehklagen allüberall groß. Hatte sich der ewige | |
Vor-, Nach- und Beiseitedenker wirklich einfach aus dem Staub gemacht? Ging | |
bei seinem seltsam abrupten Tod alles mit rechten Dingen zu? Hatte der | |
große Egomane Schirrmacher tatsächlich einen Abschied ohne Showdown, ohne | |
Applaus, ohne „Da capo“-Rufe gewählt? War er überhaupt tot? | |
Als im Frühjahr 2018 an Berliner Hauswänden die ersten Graffiti | |
(„Schirrmacher lebt!“) auftauchten, wurde Die Wahrheit misstrauisch. War | |
das nur ein ironisches Zitat, das den verblichenen Weltdenker in Beziehung | |
zu anderen historischen Größen setzen sollte? Weilte er wie Jesus und Elvis | |
immer noch unter uns? War Frank Schirrmacher ebenfalls auferstanden? Hatte | |
er sich heimlich seiner öffentlichen Existenz entledigt, um ein ganz neues, | |
sinnvolles Leben im Stillen zu führen? Ein ungeheurer Verdacht, der bald | |
schon erhärtet werden sollte. | |
## „Folge der Spur des Gegenteils!“ | |
Und so setzte Die Wahrheit eines ihrer bewährten Recherche-Teams auf den | |
„GröFAZ“, den Größten Feuilletonisten aller Zeiten an – ganz nach ihrem | |
bewährten journalistischen Motto „Warum recherchieren, wenn man schreiben | |
kann“. Ein Gesetz des investigativen Journalismus lautet: „Folge der Spur | |
des Geldes!“ Die Wahrheit ging einen Schritt weiter: „Folge der Spur des | |
Gegenteils!“ Was, wenn Schirrmacher sich plötzlich entschlossen hätte, zum | |
Antipoden eines intellektuellen Lautsprechers zu werden? Nur wo? Und vor | |
allem wie? | |
These eins: Um nicht erkannt zu werden, könnte der Frankfurter Allgemeine | |
Superstar ins zuverlässig unübersichtliche Berlin umgezogen sein. These | |
zwei: Statt einer vagen Existenz als Feuilletonist anzuhängen, könnte er | |
handfester Praktiker geworden sein. These drei: Nach seiner Auferstehung | |
wäre er sicher religiös geworden. Eins plus zwei plus drei ergibt zu | |
einhundert Prozent: Frank Schirrmacher lebt! In der Hauptstadt! Als | |
Pfarrer! | |
Belege für diese Theorie ließen sich leicht finden. Man muss nur wissen, wo | |
man suchen muss – zum Beispiel im „Amtsblatt für öffentliche | |
Bekanntmachungen“, wo Bestallungen amtlich eingesetzter Seelsorger | |
veröffentlicht werden. Und tatsächlich entdeckte das Wahrheit-Team im | |
Jahresanzeiger 2018 für den Bezirk Treptow-Köpenick eine auffällige Person. | |
Ein gewisser Franz Schumacher (!) wurde kürzlich als Fahrradpfarrer für den | |
Ortsteil Alt-Treptow verpflichtet. | |
Wie die zuständige Behörde auf Anfrage bestätigte, hatte sich Schumacher | |
einen Tag nach dem offiziellen Tod Schirrmachers am 12. Juni 2014, einem | |
Freitag dem 13. (!), im Berliner Pastoralkolleg am Kreuzberger | |
Marheinekeplatz für die Schnellausbildung zum Straßenseelsorger angemeldet. | |
2017 machte er seinen Abschluss als Barfußpastor mit Schwerpunkt Zweirad. | |
Vor der Kirche in Alt-Treptow treffen wir Schumacher dann auch – nach | |
Wochen eines komplizierten Mail-Verkehrs. Denn Schumacher wollte erst | |
nichts mit uns zu tun haben. Als er endlich in ein Gespräch einwilligte, | |
hatte er zwei Bedingungen: keine Fotos und kein Wort über seine | |
Vergangenheit. | |
Franz Schumacher ist ein Mann in den besten Jahren, schlank ist er | |
geworden, die frische Luft, in der er den ganzen Tag unterwegs ist, tut ihm | |
sichtlich gut. „Ich wollte raus aus den stickigen Büros und hin zu den | |
Menschen und damit letztlich zu den Fahrrädern“, gesteht Schumacher, der | |
jetzt langes Haar trägt, das er zu einem zotteligen Zopf zusammengeflochten | |
hat. Fahrräder sind seine große Leidenschaft, an ihnen will er, wie er | |
sagt, seine tiefe Humanität beweisen: „Sehen Sie, überall gibt es große | |
Fahrradständer. Und darin hängen oft diese Fahrradleichen. Niemand kümmert | |
sich um sie. Ich will ihnen ihre Würde zurückgeben, will sie in der | |
schweren Zeit unterstützen und ihnen eine letzte Ruhestätte besorgen.“ | |
Deshalb sei er „Fahrradleichenbestatter“ geworden, wie sich Schumacher auf | |
seiner Visitenkarte ausweist. | |
## „Man muss diese jungen Menschen verstehen“ | |
Ansonsten arbeite er mit der „Soko Poser“ zusammen und versuche, zwischen | |
Fahrrad-Posern und der Polizei zu vermitteln. „Man muss diese jungen | |
Menschen verstehen, die alles in ihre Räder investieren und sie mit neuen | |
Felgen, Spiegeln und Griffen aufmotzen.“ In der Szene, die sich gern | |
samstagabends auf erleuchteten Plätzen in Köpenick trifft, um Rennen zu | |
fahren, seien zum Beispiel gerade „Büffelhörner“ der letzte Schrei, | |
Lenkergriffe aus Kork, die den Stellenwert des Fahrers enorm erhöhten. Ob | |
er sie deshalb auch an seinem Fahrrad habe, fragen wir den nun Errötenden. | |
„Nein, das entlastet meine Handgelenke“, versichert Schumacher. | |
Kein Wort zu seiner Vergangenheit ist ihm zu entlocken, und dann äußert er | |
sich doch zögerlich: „Ich bin wie Thomas Manns Figur des Cipolla in ,Mario | |
und der Zauberberg' eine Zwiebel, die sich aus ihren Lebenshäuten | |
herausschält. Auch ich war ein hypnotisierender Zauberkünstler, der zum | |
Schluss mit einem Schuss fallen musste.“ | |
Schumacher ballt dämonisch seine Faust. Unwillkürlich ist er für einen | |
Moment in den Jargon seiner intellektuellen Jahre verfallen. Doch wie ein | |
Geist in der Flasche verschwindet der Schirrmacher stracks im Schumacher. | |
Schon wendet sich der sanftmütige Fahrradpfarrer wieder seinem neuen | |
Lebenssinn zu und streichelt mild eine rostige Möhre von Zweirad, die es | |
nach den Ewigen Jagdgründen verlangt. Lassen wir auch Frank Schirrmacher | |
dort ruhen, wo er hingehört. | |
26 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Michael Ringel | |
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