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# taz.de -- Die Wahrheit: Im verbumfeiten Winterloch
> Die härteste Zeit für Redakteure ist angebrochen und verlangt nach
> hochluzider Füllmasse für den gigantischen Weißraum im Blatt.
Manchmal, wenn wir eine ganze Winterwoche lang auf die Nachrichtenticker
gestarrt haben und keine einzige komische Meldung durch den Nebel zum
Vorschein kam, dann wissen wir, es ist wieder da: das Winterloch. Früher,
als bekanntlich alles besser war, da gab es noch ein Sommerloch, das gern
auch „Saure-Gurken-Zeit“ genannt wurde, weil Politiker und überhaupt alle
Ferien machten und nichts, aber auch rein gar nichts geschah. In jener Zeit
muss Karl Kraus sein Bonmot von den „Locken, die auf der Glatze gedreht
werden“ in den Sinn gekommen sein, um zu verdeutlichen, dass
Berufsschreiber in themenarmen Zeiten noch aus dem letzten Dreck Gold
machen müssen.
Gefürchtet waren früher vornehmlich die sogenannten krummen Jahre, wenn bei
ungeraden Jahreszahlen keine Fußballwelt- oder -europameisterschaften
stattfanden und somit keine „Sommermärchen“ erzählt werden konnten. Meist
retteten dann die „Sommertiere“ die bedauernswerten Journalisten, die sich
irgendwelche Geschichten aus den Fingern saugten.
Kaimane und Krokodile, Kühe und Kängurus entliefen und wurden an Baggerseen
oder an Waldrändern als Gefahr gesichtet. Bären und Panther hielten als
Problemtiere die Öffentlichkeit in Atem, wurden eingefangen oder gleich
totgeschossen. Bis irgendwann verarmte Zirkusdirektoren auf den Dreh kamen,
ihren elenden Tieren die Käfigtüren zu öffnen, um aus der inszenierten
Flucht ihrer Elefanten Werbekapital zu schlagen. Ganze Zoos trieben sich
nun in der Provinz frei herum. Das Sommerloch begann immer früher, und
irgendwann wurden bereits im Frühjahr erste Sommertiere gesichtet, sodass
mehr und mehr ironische Berichte erschienen und die Berichterstattung
schließlich ganz eingestellt wurde.
Früher sorgten im Sommer die nach Aufmerksamkeit heischenden Hinterbänkler
für die heißen Themen: Mal sollte Mallorca zum siebzehnten Bundesland
ernannt, mal sollten Männer per Gesetz zum Sitzpinkeln gezwungen werden.
Bizarrer Quatsch aus dem Schattenreich der Politik, wohin sich die von
Boulevardmedien wie Bild und RTL aufgepimpten Scheindiskussionen schnell
wieder verflüchtigten, auch weil es politisch bald kein Sommerloch mehr
gab. Denn irgendwo war im Herbst immer eine Wahl und damit im Sommer
Wahlkampf, den vor allem rechte Politiker mit ihren ekligen Aufregern
füllten. Und weil Journalisten über jedes Stöckchen springen, das ihnen
hingehalten wird, nur um den verdammten Weißraum im Blatt zu füllen, waren
sie stets die dankbarsten Kunden der Weidels, Storchs und Gaulands, der
Führer der Sommerdrecksbande.
## Locken lassen grüßen
Der Sommer war eigentlich einmal die Zeit des Nachwuchses. Erfahrene
Kollegen rieten Greenhorns, die sich im Laufe des Arbeitsjahres mit
unverlangt eingesandten Texten für eine Veröffentlichung beworben hatten,
in der ereignisarmen Zeit wieder in Erscheinung zu treten. Selbst sonst
kaum erwünschte Jugend- und Modethemen wurden dann prominent präsentiert.
Und so entstanden Jugendbewegungen immer im Sommerloch: Die Hippies
betanzten den „Summer of Love“ der Sechziger, die Punks Seventyseven den
heißesten Sommer der Siebziger. Ganze Sommerlöcher wurden mit wechselnden
Lang- oder Kurzhaarfrisuren gefüllt. Kraus’ Locken lassen grüßen.
Doch temps perdu! Die Stunde des Sommerlochs hatte längst geschlagen.
Logischerweise wurde ein Herbsttag zum endgültigen Schlusspunkt der
Sommerlochzeit: der Elfteseptember. Seit den Anschlägen auf das World Trade
Center in New York befindet sich die Welt in einem Fieberzustand, der zu
verlogenen Kriegen und gefaketen Präsidenten geführt hat. Jeder
Kirchturmbrand wird zum globalen Ereignis, in dem kein Platz mehr für ein
entspannendes Sommerloch ist.
Aber wo ein Ende ist, da ist immer auch ein Anfang. Und es ward das
Winterloch geboren. Im Rhythmus des Jahres wurde Weihnachten als
Familienfest immer wichtiger – nach dem Rattenrennen in der
Vorweihnachtszeit, wenn alle gestresst herumlaufen und sich dumm und
dämlich kaufen, nur um beim Fest in eine Art Erschöpfungsstarre zu fallen.
Huckenvollgefressen und -gesoffen können allenfalls noch englischer Fußball
und „Sissi“-Filme im Fernsehen beglotzt werden, sonst rührt niemand mehr
einen Arbeitsfinger, erst recht nicht der Berufsschreiber, dem alle Themen
wie angeschimmelt vorkommen: Trump, Nordkorea, #MeToo … nichts Neues im
globalen Staate Dänemark anno 2018.
Mittlerweile kann zum Beispiel niemand mehr den „#MeToo“-Quark hören mit
seinen seltsam altertümlichen Lauten wie dem „Sluuuuusch“, diesem Geräusc…
das entsteht, wenn Männern das Hirn in die Hoden rutscht. Gerade Frauen
überhören es leider meist bei Männern, die über Macht verfügen und die
meinen, in Hotelzimmern ihre Familienjuwelen aus geöffneten Bademänteln
heraushängen lassen zu müssen. Der Rest ist bedauerlicherweise nicht
Schweigen.
Schweigen wir hier aber von Donald Trump und Kim Jong Un – zwei Arschgeigen
wie vom anderen Stern, die sich in jedes Loch drängen, solange es ihnen nur
Aufmerksamkeit bringt. Der blonde Feuerkopf und der dicke Hefekloß als
düstere Protagonisten eines Winterlochs, das jeden Verstand und Witz in
sich hineinzusaugen scheint.
## Polternde Zirkuswagen
Zu Beginn des Jahres 2018 herrscht ein Zustand lähmender Erschöpfung. Die
bunten Bilder aus der Weltpolitik ziehen an den Betrachtern vorbei wie
polternde Zirkuswagen. Von den irrsinnigen Gestalten der Welt- bis
Lokalpolitik durch die Manege getrieben, sind sämtliche Themen derart
durchgenudelt, dass niemand mehr eine Idee entwickelt.
Die schlimmste Woche für Redakteure ist inzwischen die zweite im Januar,
wenn man sich nicht mehr durchhangeln kann mit Rückblicken aufs vergangene
oder Ausblicken aufs kommende Jahr, mit Glossen auf Trendforscher, die
stets um die Jahreswende herum aus ihren Höhlenbauten herauskrabbeln, um
den nach Zukunftsaussichten gierenden Menschen die neuesten Moden
vorherzusagen. Ein Horx von einem Murks wird da zusammengelabert, dass es
nur so eine irrlichternde Art hat.
Und an dem Punkt soll man als Redakteur Seiten füllen, soll eine hochluzide
Glosse zu einem aktuellen Ereignis produzieren, der man mit ein paar
geübten Kniffen nicht nur eine gesamtgesellschaftlich relevante, sondern
auch noch komische Richtung gibt. Und steht letztlich doch allein da, weil
erst ein Artikel ausfällt, dann ein zweiter Autor absagt, schließlich ein
dritter scheitert. Allein darf man den riesigen Raum für Notizen mit einem
Nottext füllen, 6.300 Zeichen kurz vor Redaktionsschluss in die Tasten
hauen. Und schuld ist das verbumfeite Winterloch! Es wird Zeit für den
Frühling.
13 Jan 2018
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Sommerloch
Journalismus
Frank Schirrmacher
Andrea Nahles
Kevin Kühnert
Saudi-Arabien
Italien
Kulturgeschichte
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