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# taz.de -- Türkei vor der Präsidentenwahl: Erdoğan kriegt die Wirtschaftskr…
> In einem Monat ist Wahl in der Türkei. Präsident Erdoğan könnte scheitern
> – an Wirtschaftsdaten und an einem Anti-AKP-Bündnis.
Bild: Auf den türkischen Baustellen wird es leerer: Arbeiter auf dem neuen Flu…
Istanbul taz | Diskussionsrunden im türkischen Fernsehen tendieren zur
Langeweile. Schließlich kommen Kritiker der Regierung gar nicht mehr zu
Wort. Umso überraschender war vor einigen Tagen ein fulminanter Auftritt
des Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince in CNN-Türk. Ein
regierungsnaher Journalist hatte sich länglich darüber ausgelassen, dass
Ince völlig chancenlos sei, weil er schon innerhalb seiner eigenen Partei,
der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, keine Unterstützung habe.
Plötzlich meldete sich Ince wutentbrannt per Telefon. „Die Journalisten tun
mir leid, die gezwungen sind, solchen Unsinn zu verbreiten“, sagte er. Weil
die Moderatorin Hande Fırat, die Frau, die in der Putschnacht im Juli vor
zwei Jahren Präsident Erdoğan per Smartphone zu einer Rede an die Nation
verhalf, ihn einfach reden ließ, kam Ince zu seinem ersten und bislang
einzigen TV-Auftritt in einem der großen Fernsehsender.
Ince nutzte die Situation, um Erdoğan an zwei neuralgischen Punkten
anzugreifen. Er werde sich für die Wiederherstellung einer unabhängigen
Justiz einsetzen, die dann auch einen juristisch tragfähigen
Auslieferungsantrag für Fethullah Gülen an die USA stellen werde. „Das ist
ja bis jetzt nicht passiert, wie mir die US-Botschaft sagt“, behauptete
Ince.
Die Intervention bei CNN-Türk ist ein Beispiel dafür, wie der
Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei versucht, den
amtierenden Präsidenten an seinen Schwachpunkten anzugreifen. Erdoğan, so
die Behauptung der Opposition, handelt völlig anders als er redet. Das
betreffe nicht nur die angeblichen Bemühungen, Gülen nach Ankara zu
bringen, sondern auch die angebliche Unterstützung der Palästinenser.
Erdoğan inszeniere sich als größter Palästinenserunterstützer, doch mit
Israel brechen will er nicht, ist der Tenor.
## Glaubwürdigkeit verloren
Dabei geht es nicht so sehr um die einzelnen Themen, es geht um die
Glaubwürdigkeit Erdoğans insgesamt. Hasan Cemal, einer der bekannten
liberalen Veteranen des türkischen Journalismus, der sich heute nur noch im
Internet äußern kann, schrieb kürzlich, Erdoğan und seine AKP konnten im
Jahr 2002 die Wahlen gewinnen, weil die Mitte-rechts- und
Mitte-links-Parteien, die bis dahin das Land regiert hatten, in der
Wirtschaftskrise von 2001 jede Glaubwürdigkeit verloren hätten. Jetzt drohe
Erdoğan nach 16 Jahren an der Regierung dasselbe Schicksal.
Erstmals seit Jahren ist es wieder so, dass die meisten Gespräche in der
Türkei sich um die Wirtschaftsmisere und nicht mehr um Terror, Säkularismus
versus Islam, oder Identität drehen, Themen, die die letzten zehn Jahre
dominiert haben. Zwar schweigen sich die gelenkten Massenmedien dazu aus,
doch die Leute wissen, was sie selbst täglich erleben.
Durch den immer weiteren Verfall der türkischen Währung steigen die Preise
für Verbraucher täglich. Tanken wird täglich teurer, Fleisch und andere
Lebensmittel verteuern sich auch. Dabei steigt die Arbeitslosigkeit
insbesondere bei Jüngeren. Im Alter von 16 bis 24 Jahren sind bereits über
20 Prozent arbeitslos, berichtete die linke Zeitung Birgün am Montag. Auch
der Bausektor, jahrelang Erdoğans Wundermittel, um die Wirtschaft zu
puschen, schwächelt. Verkäufe von Privatwohnungen sind eingebrochen,
Gewerbeimmobilien stehen leer.
## Eigentor in London
Als Erdoğan kürzlich auf einer hochkarätig besetzten Investorenkonferenz in
London davon sprach, er werde nach seiner Wiederwahl die Zügel bei der
Zentralbank selbst in die Hand nehmen, war das das Signal für weitere
Investoren, die Türkei zu verlassen. Das Hauptproblem für die türkische
Wirtschaft, stellte eine Analyse des Finanzdienstleisters Bloomberg
kürzlich fest, ist die Person und die Politik des Präsidenten selbst. Der
Wirtschaftshistoriker Russel Napier prophezeite in der NZZ sogar eine neue
weltweite Wirtschaftskrise, die von der Zahlungsunfähigkeit der Türkei
ausgehen werde. Er vermutet, dass die Türkei bald Kapitalverkehrskontrollen
einführen wird.
Das spricht sich langsam auch bei den WählerInnen herum. Es gibt keine
Umfrage, die Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen am 24. Juni bei über 50
Prozent sieht, in der Regel bei 42 oder höchstens 43 Prozent. Ein zweiter
Wahlgang wird immer wahrscheinlicher. Dabei wird es hilfreich sein, dass
die CHP und die neu entstandene rechtsnationale IYİ-Partei (Gute Partei)
gemeinsam mit zwei kleineren Parteien eine Wahlallianz gebildet haben, in
der sie sich verpflichten, den jeweils anderen Kandidaten in einem zweiten
Wahlgang zu unterstützen. Muharrem Ince und die Kandidatin der IYİ-Partei,
Meral Akşener, liegen in den Umfragen beide bei gut 20 Prozent.
Dadurch könnte die kurdisch-linke HDP eine Schlüsselrolle spielen, und zwar
nicht nur in einem zweiten Wahlgang bei den Präsidentschaftswahlen, sondern
auch bei den parallel stattfindenden Parlamentswahlen. Auch wenn die HDP
von der oppositionellen Wahlallianz ausgeschlossen blieb, haben diese
Parteien doch ein großes Interesse daran, dass sie die 10-Prozent-Hürde
schafft und ins Parlament kommt. Scheitert sie, würden ihre Mandate
verteilt und die AKP würde 50 bis 60 Mandate dazugewinnen.
Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass auf der Kandidatenliste der CHP für
die Parlamentswahlen bekannte linke Namen fehlen. Offenbar hat die
CHP-Führung nichts dagegen, wenn viele linke Türken die HDP wählen, um
diese über die 10 Prozent Hürde zu bringen.
Richtig spannend wird es mit der HDP aber, wenn es einen zweiten Wahlgang
bei den Präsidentschaftswahlen gibt. Im Interview mit taz-gazete wich die
Kovorsitzende Pervin Buldan der Frage aus, ob die HDP in einem zweiten
Wahlgang Muharrem Ince oder gar die rechte Meral Akşener gegen Erdoğan
unterstützen würde. Tapfer behauptete sie, sie gehe davon aus, dass ihr
Kandidat Selahattin Demirtaş in die Stichwahl kommt. Doch es gibt auch
jetzt schon Stimmen innerhalb der HDP, wie Mithat Sancar, die Unterstützung
für Ince in Aussicht stellen.
Obwohl sich mittlerweile immer mehr WählerInnen vorstellen können, dass
Erdoğan, oder aber seine AKP, tatsächlich die Wahlen verliert, stellen sich
gleichzeitig viele die Frage, ob er eine solche Wahl überhaupt anerkennen
würde. Erdoğan, mutmaßt eine Kolumnistin in der oppositionellen Cumhuriyet,
würde wohl „so oft wählen lassen, bis das Ergebnis stimmt“.
24 May 2018
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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