# taz.de -- Gewalt in Nahost: Wut in Gaza | |
> Es herrschen Arbeitslosigkeit und Armut. Wer sich trotz Israels | |
> Scharfschützen an den Protesten beteiligt, hat nichts zu verlieren, | |
> analysieren Beobachter. | |
Bild: Dienstag in Gaza: Palästinensische Demonstranten flüchten vor Tränengas | |
JERUSALEM taz | Selbst bei „optimistischer Rechnung waren es am Montag | |
nicht mehr als 50.000 Demonstranten“, die sich an den Protesten an der | |
Grenze vom Gazastreifen zu Israel beteiligt haben, sagt der | |
palästinensische Politologe Mhkaimar Abusada. Dabei leben in Gaza rund | |
zwei Millionen Menschen. Die Hamas rufe zwar dazu auf, am „Großen Marsch | |
der Rückkehr“ teilzunehmen, letztendlich entscheide aber jeder für sich. Er | |
selbst verbietet seinen Söhnen, an den Protesten an der Grenze | |
teilzunehmen. | |
Die hohe Risikobereitschaft der Männer, die sich bis dicht an den Grenzzaun | |
heranwagen, wohl wissend, dass auf der anderen Seite die israelischen | |
Scharfschützen auf sie zielen, erklärt der Politologe mit der | |
hoffnungslosen Lage in Gaza. „Vor allem Jugendliche denken, dass sie nichts | |
zu verlieren haben. Sie empfinden das Leben im Gazastreifen wie einen | |
langsamen Tod.“ | |
Bei rund 40 Prozent liegt die Arbeitslosenquote, frisches Trinkwasser und | |
Strom gibt es nur sporadisch. Dazu kommt, dass Israel und Ägypten die | |
Grenzen geschlossen halten. Als das größte Freiluftgefängnis der Welt | |
bezeichnen Palästinenser den Gazastreifen. Dem erbärmlichen Leben zögen | |
deshalb viele besonders religiöse Männer den Freitod vor. „Die Muslime | |
gehen davon aus, als Märtyrer direkt ins Paradies zu kommen, wenn sie sich | |
für ihr Heimatland opfern.“ | |
Nichtsdestotrotz sei Israel „an diesem Wahnsinn“ Schuld, der umgehend | |
gestoppt werden müsse. Abusada fordert eine internationale unabhängige | |
Untersuchung, „ob es den USA gefällt oder nicht“. | |
Auch Omar Schaban, Wirtschaftswissenschaftler und Leiter des | |
palästinensischen Forschungsinstituts Pal-Think for Strategic Studies in | |
Gaza, denkt, dass die hohe Arbeitslosigkeit und Armut vor allem junge | |
Palästinenser dazu motiviere, an den Demonstrationen teilzunehmen. „Niemand | |
will sterben“, betont Schaban, sondern die Leute „wollen auf ihre Not | |
aufmerksam machen“, die immer unerträglicher werde. | |
Hauptgrund dafür sei die Belagerung, die seit der Machtübernahme der Hamas | |
über den Gazastreifen vor elf Jahren begann. Ägypten müsse die Grenze | |
öffnen, was möglich wäre, sobald die Fatah erneut das Kommando über den | |
Gazastreifen bekommt. Der Wirtschaftswissenschaftler appelliert an die | |
arabischen Staaten, ihren Einfluss auf die Führungen von Hamas und Fatah | |
geltend zu machen, um den Zwist beizulegen, der mit Grund für die Not sei. | |
## Für die Islamisten ist ein Krieg nicht wünschenswert | |
Ungeachtet der zahlreichen Toten am Montag hält sich die internationale | |
Solidarität mit dem Gazastreifen in Grenzen und bleibt vorerst „überwiegend | |
deklarativ“, resümiert Barak Ben-Zur vom Internationalen Antiterrorinstitut | |
in Herzlia. Nur drei Länder, Südafrika, die Türkei und Neuseeland, riefen | |
wegen des harten Vorgehens der Armee gegen die Demonstranten ihre | |
Botschafter zurück. Das sei für Israel „keine allzu erschreckende Bilanz“. | |
Eine Untersuchung der Ereignisse, die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats auf | |
Initiative Kuwaits gefordert hatten, blockierten die USA per Veto. Israel | |
könne sich in New York auf „die absolute Rückendeckung der USA verlassen“, | |
sagt Ben-Zur, räumt jedoch ein, dass der Mangel an konkreten | |
internationalen Maßnahmen nicht unbedingt nur Gutes bedeuten muss. „Wenn es | |
der Hamas nicht gelingt, eine neue Welle der Unterstützung für ihre Sache | |
in der Welt zu erreichen, könnte das zu noch mehr Gewalt führen.“ | |
Ein Krieg sei für die palästinensischen Islamisten allerdings keinesfalls | |
wünschenswert. Die Lektion aus dem letzten Krieg sei, dass „die Macht der | |
Hamas, Israel wehzutun, begrenzt ist, umgekehrt Israel aber der Hamas | |
großen Schaden zufügen kann“. Denkbar wäre vielmehr neuer Terror, sei es im | |
Grenzgebiet zum Gazastreifen, im Westjordanland oder auch innerhalb | |
Israels. „Es könnte überall passieren.“ | |
Vorläufig bleibt sogar die Solidarität der Palästinenser im Westjordanland | |
begrenzt. Die Demonstrationen in Ostjerusalem und in Ramallah, an denen nur | |
einige Hundert Palästinenser teilnahmen, hatten nicht das Ende der | |
Belagerung Gazas zum Ziel, sondern sie galten dem Protest gegen die | |
Entscheidung von US-Präsident Donald Trump, mit der Botschaft von Tel Aviv | |
nach Jerusalem umzuziehen, was umgekehrt der Hamas zusätzlichen Zündstoff | |
für die Gazaunruhen brachte. | |
## Unterschätzte Symbolik | |
Jihia al-Sinwar, Chef des Hamas-Politbüros, sprach im Vorfeld des | |
Blutvergießens von der emotionalen Bindung seines Volks zu Jerusalem. | |
Keinesfalls dürfe man die Symbolik unterschätzen, warnt der Terrorexperte | |
Ben-Zur. Zwar ginge es „nur um ein neues Schild“, das die US-Amerikaner an | |
das frühere Konsulatsgebäude geschraubt hätten. Doch welches | |
Sprengpotenzial „Gefühle im politischen Kontext haben können, wissen wir, | |
seit (der frühere Oppositionsführer Ariel) Scharon im September 2000 den | |
Tempelberg besuchte“ und damit die Zweite Intifada in Gang brachte. | |
Aktuell mangele es den Palästinensern an muslimischer Unterstützung. „Sogar | |
Marokko und Jordanien haben nicht großartig gegen Trump protestiert“, fällt | |
Ben-Zur auf. Einzig der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan rief auch | |
den Botschafter aus Washington zu Beratungen in die Heimat ab. | |
Ob Israel die hohe Zahl von Todesschüssen hätte verhindern können, müssen | |
„Untersuchungen der IDF (Israelische Verteidigungsarmee) zeigen“, meint | |
Ben-Zur. Von Beginn an sei klar gewesen, dass die Hamas darauf abzielt, | |
Tausende Menschen nach Israel eindringen zu lassen. „Wie soll man das | |
stoppen?“, fragt der Terrorexperte selbst. „Vielleicht müssen wir für | |
50.000 Demonstranten 50.000 Soldaten rekrutieren und sie mit Knüppeln | |
bewaffnen.“ 60 Tote an einem Tag, räumt Ben-Zur indes ein, „ist jenseits | |
aller Logik“. Das Blutvergießen werde neuen Zorn schaffen. | |
Einen Ausweg sieht der Terrorexperte nicht. Die Regierung in Kairo habe den | |
Versuch eines Dialogs unternommen und ist damit gescheitert. Die Hamas sei | |
„nicht bereit zu einem Fortschritt in kleinen Schritten“. Der Islam „ist | |
schwarz-weiß“, was sich auch an dem Brandanschlag letztes Wochenende am | |
Grenzübergang für Güterverkehr Kerem Schalom zeige. Radikale Palästinenser | |
legten den einzigen Kanal für Nahrungsmittel und Medikamente lahm. Erst am | |
Dienstag konnte der Übergang so weit wiederhergestellt werden, dass 300 | |
Lastwagen aus Israel kommend mit lebensnotwendiger Ware den Gazastreifen | |
erreichten. | |
15 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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