| # taz.de -- Arztsprechstunde für Geflüchtete: „Bin es gewohnt, zu improvisi… | |
| > Die Internistin Thea Jordan versorgt Geflüchtete ohne Papiere. Ein | |
| > Gespräch über psychische Erkrankungen aufgrund fehlender Perspektiven – | |
| > und Geduld. | |
| Bild: Ärztin Thea Jordan in der Flüchtlingskirche, wo sie ihre Sprechstunde h… | |
| taz: Frau Jordan, einmal pro Woche halten Sie eine medizinische | |
| Sprechstunde in der Kreuzberger Flüchtlingskirche. Wer kommt dort hin und | |
| mit welchen Beschwerden? | |
| Thea Jordan: Es kommen vorwiegend Geflüchtete, die keine | |
| Krankenversicherung und keine Aufenthaltserlaubnis haben – oder nur eine | |
| kurzfristige. Die Einrichtung ist also für Nichtversicherte gedacht. Es | |
| sind vor allem junge Männer, und sie haben sehr häufig psychische | |
| Erkrankungen. | |
| Welcher Art? Depressionen? | |
| Ja, vorwiegend. Viele haben zudem ein posttraumatisches Belastungssyndrom, | |
| was oft auch mit psychosomatischen Beschwerden einhergeht, also mit | |
| Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen. Dadurch kann die Depression | |
| sozusagen verdeckt werden. Relativ häufig haben die Männer Zahn- und | |
| Hautproblemen. Manche kommen mit alten Unfallerkrankungen, die nicht gut | |
| behandelt worden sind, aus welchen Gründen auch immer. Selten bestehen | |
| richtig schwere körperliche Erkrankungen wie Herz- und Lungenerkrankungen | |
| oder akute Unfälle – es sind ja junge Männer, die viel durchgemacht haben, | |
| aber relativ tough sind. Wenn wir dies feststellen, vermitteln wir sie | |
| natürlich weiter an Krankenhäuser, wo sie dann im Notfall auch als | |
| Nichtversicherte behandelt werden. | |
| Kommt es vor, dass jemand aus Angst vor der Polizei das nicht möchte? | |
| Ja, aber wir können die Leute beruhigen, in Berlin ist das Problem nicht so | |
| relevant. Es gab schon vor Jahren einen Brief des Senats an die hiesigen | |
| Krankenhäuser, in dem darauf hingewiesen wurde, dass die Krankenhäuser der | |
| Schweigepflicht unterliegen und sich Ärzte nicht strafbar machen, wenn sie | |
| Menschen ohne Papiere helfen. Das war ein großer Fortschritt. Es gibt zudem | |
| eine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz, die besagt, dass auch das | |
| medizinische Personal in den Krankenhäusern der Schweigepflicht untersteht. | |
| Neu in der Vorschrift ist, dass auch das im Nachhinein beschäftigte | |
| Personal bis zum Sozialamt nicht dazu verpflichtet ist, Namen zu nennen. Es | |
| gibt nur leider eine Gesetzeslücke: Wenn es um die Kostenübernahme geht, | |
| müssen die Sozialämter die Daten der Flüchtlinge mit der Ausländerbehörde | |
| abgleichen. Das bedeutet, dass am Ende doch der Name bekannt werden kann. | |
| Kommt das vor? | |
| Nein, de facto werden Namen nicht bekannt. Ich beschäftige mich schon über | |
| zehn Jahre damit, anfangs war das noch anderes. Aber seit sieben, acht | |
| Jahren haben wir nicht mehr gehört, dass die Schweigepflicht verletzt | |
| wurde. Gott sei Dank. | |
| Wie viele Menschen kommen denn so pro Sprechstunde? | |
| Das ist ganz unterschiedlich, manchmal nur einer, manchmal vier, fünf, | |
| sechs. Aber auch diese wenigen sind oft zeitintensiv. Zum Beispiel werden | |
| uns oft erkrankte Geflüchtete von der Asylverfahrensberatung, die auch hier | |
| in der Flüchtlingskirche arbeitet, geschickt. Wir müssen dann versuchen, | |
| für sie einen Facharzt zu finden, der ihre gesundheitlichen, meist | |
| psychischen Probleme bestätigt und behandelt, damit dies Eingang ins | |
| Asylverfahren finden kann. | |
| Wenn Sie sagen, es gibt viele psychische Erkrankungen: Kommt das eher von | |
| Erfahrungen auf der Flucht oder von Geschehnissen in der Heimat? | |
| Ich denke, es ist meistens eine Gemengelage. Aber wir sind keine | |
| Psychiater. Meine Freundin, die hier mit mir arbeitet, ist | |
| Allgemeinmedizinerin, ich bin Internistin, und um die Leute nicht akut zu | |
| traumatisieren, fragen wir nur oberflächlich. Dennoch kann ich sagen, dass | |
| es oft eine Traumatisierung in Etappen ist. Häufig haben die jungen Männer, | |
| meine Langzeitbeobachtung sind die Afrikaner vom Oranienplatz, schon im | |
| Heimatland böse Dinge erlebt. Viele sind aus ihrer Heimat, wo sie arm | |
| waren, nach Libyen gegangen. Dort haben sie gearbeitet und ganz gut | |
| verdient, manche hatten eigene kleine Firmen und Angestellte. Als aber | |
| Gaddafi 2011 gestürzt wurde, wurden sie aus Libyen vertrieben. Sie sind mit | |
| Booten nach Lampedusa gekommen. Das war sicher nicht so lustig. Nach einem | |
| Jahr haben die Italiener den Flüchtlingen Geld gegeben mit der Auflage, das | |
| Land zu verlassen und nach Norden zu gehen. In Deutschland haben sie dann | |
| die nächste Traumatisierung durch das lange Warten, den fehlenden | |
| Aufenthaltsstatus und die Perspektivlosigkeit erfahren. Und ich denke, zum | |
| Teil auch durch Rassismus. | |
| Wie können Sie in solchen Fällen überhaupt helfen? | |
| Wir können erst einmal mit ihnen reden, zuhören und versuchen, sie | |
| aufzufangen. Außerdem gibt es ein Netzwerk von psychiatrischen | |
| Einrichtungen, in das wir die Patienten vermitteln können. | |
| Also es gibt auch ehrenamtlich arbeitende Psychologen? | |
| Gibt es. Zudem hat ja ein Teil der Männer inzwischen zumindest eine Duldung | |
| für ein halbes Jahr und ist damit auch krankenversichert. Wir versuchen, | |
| diese zu niedergelassenen Ärzten zu überweisen. Aber Termine bei Fachärzten | |
| sind ja, wie Sie wissen, oft schwer zu bekommen. Und für die medizinische, | |
| insbesondere für die psychische Behandlung ist meist ein Dolmetscher nötig | |
| – aber der wird nicht von der Kasse bezahlt. Die Einrichtungen in Berlin | |
| sind relativ zahlreich und das Netz von Psychiatern und Dolmetschern ist | |
| relativ groß, aber immer noch nicht ausreichend. | |
| Warum sind Sie eigentlich Ärztin geworden? | |
| Ach, das ist so lange her. Ich bin in einer Arztfamilie groß geworden. Seit | |
| ich elf, zwölf Jahre alt war, wollte ich Ärztin werden. Nach einigen | |
| Schwierigkeiten konnte ich in Leipzig, später in Berlin Medizin studieren. | |
| Es war schwierig, weil Ihre Eltern schon Ärzte waren? | |
| Ja, sie waren eben nicht Arbeiter oder Bauern. | |
| Wie hat es trotzdem geklappt? | |
| Es war so: Ich habe 1960 angefangen zu studieren. Zu dieser Zeit gab es | |
| ganz wenige Ärzte in der DDR, viele gingen in den Westen. Deshalb bekamen | |
| einige Ärzte, mein Vater war zu dem Zeitpunkt in einem Krankenhaus | |
| angestellt, einen sogenannten Einzelvertrag. In diesem stand drin, dass | |
| ihre Kinder, wenn die Leistungen stimmen, einen Studienplatz bekommen. Das | |
| war so eine „Festhalteklausel“. Meine beiden Geschwister waren schon in den | |
| Westen gegangen, weil sie keinen Studienplatz bekommen hatten … | |
| … sie wollten auch Ärzte werden? | |
| Ja, und haben dann auch im Westen studiert. Mein Vater ist zum Ministerium | |
| für Hoch- und Fachschulwesen gegangen und hat es geschafft, dass ich | |
| angenommen wurde. Nach dem Studium habe ich in Berlin meine | |
| Facharztausbildung gemacht. Ich habe lange im Krankenhaus gearbeitet und | |
| dann in einer Poliklinik. | |
| Als junge Frau wollten Sie ins Ausland, in Entwicklungsländern helfen. | |
| Ja, das wollte ich schon ganz früh zu Beginn des Studiums und dann später | |
| in den 1980ern noch mehr. Ich wollte einfach raus aus der DDR. Und | |
| Entwicklungshilfe gab’s ja auch in der DDR, sie haben – wie der Westen – | |
| Ärzte in ihre „Bruderländer“ geschickt. | |
| Hatten Sie eine bestimmte Idee, wohin? | |
| Auf jeden Fall weit weg, nicht nach Ungarn usw. Ich hatte mir eine Grenze | |
| gesetzt, dass ich es erst mache, wenn der Sohn 18 ist – und dann kam die | |
| Wende. | |
| Sie haben dann in einer Poliklinik gearbeitet. Können Sie für LeserInnen, | |
| die es nicht wissen, kurz erklären, wie die medizinische Versorgung in der | |
| DDR funktionierte? | |
| In der DDR arbeiteten fast nur angestellte Ärzte. Die Krankenhäuser waren | |
| hauptsächlich unter staatlicher, kommunaler oder kirchlicher Trägerschaft. | |
| Es gab nur wenige niedergelassene Ärzte, die die Praxis von den Eltern | |
| übernommen hatten. Ansonsten gab es in der ambulanten medizinischen | |
| Versorgung angestellte Ärzte in staatlichen Arztpraxen und Polikliniken | |
| unter Verwaltung der Kommunen, von Betrieben und Krankenhäusern, wo | |
| Fachärzte vieler Richtungen unter einem Dach tätig waren. Die Polikliniken | |
| waren unterschiedlich groß; insbesondere in kleineren Städten sowie auf dem | |
| Land gab es neben den Arztpraxen auch sogenannte Ambulatorien mit nur zwei, | |
| drei Fachärzten. | |
| Das klingt nicht schlecht. | |
| Ja, ich finde die Polikliniken von der Idee heute noch sehr gut. Man konnte | |
| einen Patienten, wenn nötig gleich im Haus zum Röntgen oder einem anderen | |
| Facharzt schicken. Mit den ärztlichen Kollegen konnte man sich über | |
| Problemfälle unterhalten. Wenn eine Schwester fehlte, konnte zum Beispiel | |
| jemand aus einer anderen Abteilung aushelfen, und medizinische Geräte | |
| wurden zum Teil gemeinsam genutzt. Das Geld spielte eine nicht so große | |
| Rolle, es gab weniger Bürokratie und keine Konkurrenz unter den Kollegen. | |
| Das war dann nicht schön für Sie, dass die Polikliniken nach der Wende | |
| abgewickelt wurden? | |
| Es war eine schlimme Zeit. Ich wollte mich nicht niederlassen, ein bisschen | |
| aus Trotz, aber auch weil ich es nicht eingesehen habe, dass man dieses | |
| Modell in einer pluralen Gesellschaft kaputt machen muss. Wir haben fünf | |
| Jahre lang mächtig gekämpft und immerhin erreicht, dass der | |
| Einigungsvertrag noch eine Zusatzklausel erhielt. Sonst wären wir | |
| tatsächlich 1995 einfach abgewickelt worden. | |
| Aber so konnten Sie es verhindern? | |
| Ja, aber ich nicht allein. Und nur in Berlin und Brandenburg. In | |
| Brandenburg hat sich Regine Hildebrandt massiv dafür eingesetzt. In Berlin | |
| war es nicht die Politik, die hinter dem Erhalt der Polikliniken stand, die | |
| Berufsverbände noch weniger. Es waren der damalige Ärztekammerpräsident | |
| Ellis Huber, mehrere Poliklinikärzte und eine Handvoll Politiker. Das war | |
| ja ein sozialistisches Modell. Jetzt haben wir sie wieder. | |
| Sie meinen die Medizinischen Versorgungszentren? | |
| Ja, dass sie wieder kommen, war uns damals schon klar. Aber diese | |
| Ärztehäuser sind insofern etwas anderes, als sie meist private Träger haben | |
| – und dann häufig kommerzielle Interessen dahinter stecken. | |
| Wie kamen Sie nach der Wende zur Flüchtlingshilfe? | |
| Ich bin erst einmal durch eine Westberliner Kollegin in die | |
| Obdachlosensprechstunde gekommen. Das habe ich ein, zwei Jahre ehrenamtlich | |
| gemacht. Anfang der 1990er Jahre kamen sehr viele Flüchtlinge aus | |
| Exjugoslawien auch nach Berlin, so dass ich erstmals mit dem Thema | |
| Flüchtlingsmedizin konfrontiert wurde. | |
| Aber die waren ja nicht illegal. | |
| Schon, aber das ist ein anderes Arbeiten mit Menschen aus einem anderen | |
| Kulturkreis – und das kannten wir Ost-Leute nicht. Die Sprache ist anders, | |
| die Menschen schildern und erleben ihre Krankheiten anders – das empfand | |
| ich zunächst als Herausforderung. | |
| Wie ging es weiter? | |
| Ich war in der Ärztekammer in der Fraktion Gesundheit engagiert, das war | |
| und ist eine liberale, fast linke Fraktion. Dadurch bin ich 2004 über eine | |
| Kollegin in den Menschenrechtsausschusses der Ärztekammer gekommen und bin | |
| dort mit der Flüchtlingsproblematik in Berührung gekommen. Im Ausschuss | |
| haben wir vom grünen Tisch aus versucht, die Politik zu überzeugen, dass | |
| auch Menschen ohne Papiere eine vernünftige Gesundheitsversorgung bekommen. | |
| Bei dem Hungerstreik der Geflüchteten auf dem Pariser Platz 2013 haben | |
| einige Kollegen aus dem Ausschuss und ich dort geholfen. | |
| Auch auf dem Oranienplatz? | |
| Ja, anfangs nicht so regelmäßig. Aber später, als die Flüchtlinge den | |
| Oranienplatz verlassen mussten und von der Caritas in einem Heim in der | |
| Residenzstraße untergebracht wurden, waren einige Kollegen und ich | |
| kontinuierlicher vor Ort. Damals gab es übrigens relativ viele organische | |
| Krankheiten, einige waren richtig schwer krank – aber offensichtliche | |
| psychische Probleme waren nicht so häufig. | |
| Die Männer hatten ja auch eine Aufgabe, einen Kampf – da wird man nicht | |
| depressiv, oder? | |
| So ist es, sie hatten ein Anliegen, wollten etwas erreichen. Als sie | |
| erfahren hatten, dass ihre Vereinbarung mit dem Senat nicht eingehalten | |
| wurde, führte dies zu großer Enttäuschung und Frustration. Anschließend | |
| wurden sie in verschiedenen Unterkünften der beiden Kirchen untergebracht. | |
| So geht das seit fünf Jahren. | |
| Wie ist das, wenn Sie als Ärztin in einer Stadt, wo es eigentlich alles | |
| gibt, genug Geld, Hochleistungsmedizin – trotzdem oft nicht helfen können? | |
| Es ist deprimierend. Schlimm war es auch vor dem Lageso (Landesamt für | |
| Gesundheit und Soziales, Anm. d. Red.) im Flüchtlingssommer 2015, als | |
| Tausende dort gestrandet waren, nichts funktionierte und alles von | |
| Ehrenamtlichen gemacht werden musste. Aber nach diesen Erfahrungen bin ich | |
| daran „gewöhnt“, dass man viel improvisieren muss – und es oft unheimlich | |
| lange dauert, bis man etwas erreicht. Trotzdem frustriert es, zu sehen, wie | |
| einige Männer vom Oranienplatz zum Beispiel immer kränker werden und | |
| deprimiert sind. Einfach durch die lange Zeit ohne Arbeit, Geld, Wohnung | |
| und Perspektive. Dazu kommt der Druck von ihren afrikanischen Familien, sie | |
| zu unterstützen. Und sie können eben kaum aufgefangen werden, weil die | |
| sozialen Bedingungen weiterhin sehr schlecht sind und ja zur Gesundung dazu | |
| gehören. | |
| Denken Sie deswegen manchmal ans Aufhören? | |
| Nein, das nicht. Das liegt aber auch am Beruf, man lernt Geduld zu haben. | |
| Um über eine lange Zeit helfen zu können, muss man empathisch bleiben, aber | |
| versuchen, die persönliche Betroffenheit zu minimieren. | |
| 22 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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| Jens Spahn | |
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