| # taz.de -- Frauenrechtlerin über das Kopftuch: „Die Mädchen wollen das nic… | |
| > Der Staat sollte das Kopftuch für Grundschulkinder verbieten, sagt die | |
| > Autorin Sonja Fatma Bläser. Es entrechte sie und entfremde sie von den | |
| > Mitschülern. | |
| Bild: „Kinder in diesem Alter wollen so sein wie alle anderen“ | |
| Frau Bläser, als ich 1974 eingeschult wurde, bekamen wir Mädchen alle von | |
| der Verkehrswacht ein orangefarbenes Kopftuch geschenkt – damit man uns | |
| besser sehen kann. Das lässt sich in seiner Bedeutung mit dem islamischen | |
| Kopftuch nicht vergleichen – aber handelt es sich am Ende des Tages nicht | |
| auch um das: Ein simples Kleidungsstück, das Mädchen nicht automatisch | |
| entrechtet? | |
| Sonja Fatma Bläser: Nein, das islamische Kopftuch ist kein simples | |
| Kleidungsstück. Und ja, es entrechtet Mädchen, die sich nicht selbst dafür | |
| entschieden haben. Das ist das Problem. Die wohlmeinenden Deutschen, die | |
| das nicht sehen, haben meines Erachtens eine rosarote Brille auf. | |
| Wie oft treffen Sie in Grundschulen, in denen Sie über Islam und | |
| Frauenrechte aufklären, auf Mädchen mit Kopftüchern? | |
| Das kommt auf den Bezirk an. In Köln-Kalk oder Köln-Mülheim oder in | |
| Berlin-Neukölln, wo viele Muslime leben, kommt es regelmäßig vor, dass | |
| schon Achtjährige das Kopftuch tragen. | |
| Freiwillig oder erzwungen? | |
| In diesem Alter ist es selten freiwillig. Manchmal eifert ein Kind der | |
| Schwester oder einer Freundin nach. Aber die meisten Mädchen in diesem | |
| Alter wollen das nicht. | |
| Was treibt deren Eltern an? | |
| Sie wollen, dass die Mädchen sich an das Tuch gewöhnen. Sie sagen: Du | |
| willst doch ein „sauberes“ Mädchen sein. Du bist dann etwas Besonderes, | |
| wenn Du das Tuch trägst. Nicht wie die ehrlosen deutschen Mädchen. Oder der | |
| Onkel sagt: Du bist nur hübsch, wenn Du das Kopftuch trägst. Und es wird | |
| behauptet, dass muslimische Mädchen, die das Tuch nicht tragen, keine | |
| „richtigen“ Musliminnen sind. | |
| Und wie finden die Mädchen diese Beeinflussung? | |
| Sie wollen das nicht. Kinder in diesem Alter wollen so sein wie alle | |
| anderen. Diese Bürde des angeblich „Besonderen“, des „Sauberen“, das | |
| entfremdet sie von den anderen. Es heißt: Wer kein Kopftuch trägt, hat | |
| keine Ehre. Das Kopftuch treibt also einen Keil in die Klassen. Das ist das | |
| Gegenteil von dem, was Kinder in diesem Alter lernen sollten. Dazu kommt: | |
| Das Kopftuch soll ja eigentlich signalisieren, dass ein Mädchen zur Frau | |
| wird. Denken Sie mal daran, mit wem Sie über Ihre erste Menstruation | |
| gesprochen haben. Das ist ganz intim. Aber am Kopftuch wird das, was | |
| zwischen Ihren Beinen passiert, plötzlich für jeden auf der Straße sichtbar | |
| gemacht. Das wollen viele Mädchen nicht. | |
| Wird die Entwicklung eines muslimischen Mädchens durch das Kopftuch stärker | |
| eingeschränkt als die eines Kindes, das in einer | |
| fundamentalistisch-christlichen Familie aufwächst? | |
| Ich fürchte, das Kopftuch ist um ein Vielfaches wirksamer. Das Kind ist ja | |
| ständig in Angst. Beim Sport, auf der Klassenfahrt: Das Kopftuch verrutscht | |
| ja oft oder Haare gucken raus oder jemand kommt plötzlich in den Raum, wenn | |
| man es gerade nicht trägt. Jemand könnte das meinen Eltern erzählen- und | |
| die bestrafen mich dann. Der Druck, zu versagen, ist riesengroß. Dieses | |
| Kind geht nicht mehr einfach schwimmen, rennt nicht mehr herum und spielt | |
| wild. Das Kopftuch ist eine andauernde körperliche und psychische | |
| Disziplinierung – und zwar in einem prägenden Alter. Es wird dann zu einer | |
| zweiten Haut. Wenn es später ablegen möchte, entstehen furchtbare Ängste. | |
| Bei mir selbst war das so. | |
| Sie haben das Tuch als Kind auch getragen? | |
| Ja. Und als ich es abgelegt habe, war es schrecklich. Ich dachte: Alle | |
| bestrafen mich. Die Familie, die Gesellschaft, Gott. Ich hatte Alpträume | |
| davon, wie Gott mich bestraft. Und meine eigene Gruppe, zu der ich gehörte, | |
| schloss mich aus. Vorher war ich ein Vorbild und nun plötzlich eine | |
| Verräterin. Man ist ja eigentlich eine große Familie gewöhnt – und | |
| plötzlich ziehen sich alle zurück. Das ist ganz furchtbar. | |
| Was machen Sie, wenn Sie in den Grundschulen auf Kinder mit Kopftuch | |
| treffen? | |
| Meistens geht es bei unseren Gesprächen zuerst um andere Themen, vor allem | |
| um Gewalt. Kinder erleben die Zwangsheirat der Schwester oder der Cousine | |
| oder hören von einem Ehrenmord. Und dann bekommen sie eine unglaubliche | |
| Angst, dass Ihnen das auch passieren könnte, wenn Sie etwas falsch machen. | |
| Gewalt, die man selbst auch erleben könnte, ist ein sehr wirkungsvolles | |
| Instrument der Disziplinierung. Wir erklären, dass der Islam weder | |
| Zwangsheiraten noch das Kopftuch vorschreibt, anders, als Ihre Verwandten | |
| oft behaupten. Unsere Botschaft ist: Gott liebt jedes Kind! Aber die Ängste | |
| sind groß. Wenn ich nicht mache, was meine Familie sagt, komme ich | |
| vielleicht nicht in den Himmel. Diese religiöse Angst ist viel größer als | |
| jedes Argument. Wir bieten natürlich auch an, mit den Eltern zu sprechen. | |
| Und was entgegnen die Ihnen? | |
| Zu solchen Gesprächen kommt es leider oft gar nicht. Die Mädchen wissen, | |
| dass den Eltern nicht recht ist, wenn Sie in der Schule über solche Themen | |
| reden. Das geht die Schule und die Frau Bläser nichts an, das ist die | |
| verbreitete Haltung. Wenn ich die Eltern doch zu Gesicht bekomme, ist es | |
| auch nicht so einfach: In konservativen Familien ist natürlich gar nicht | |
| diskutierbar, ob das Kopftuch nun islamisch geboten ist oder nicht. Der | |
| Imam hat es gesagt und fertig. Manche verstehen es auch politisch: Wir | |
| wollen ein Zeichen setzen und je früher wir damit anfangen, umso besser. | |
| Und dann gibt es die vielen Familien, denen es um die Kontrolle der Töchter | |
| geht. Die Tochter soll nicht so werden wie „die Deutschen“, heißt es dann | |
| pauschal. Sie soll „sauber“ sein, nicht leicht zu haben, wie angeblich die | |
| anderen alle. | |
| Und was bleibt Ihnen denn dann zu tun übrig? | |
| Dann beginnt die Arbeit. Es geht um einen Prozess, in dem Eltern Vertrauen | |
| in ihre Kinder gewinnen: Die Tochter wird nicht „leicht zu haben“ sein, | |
| nur, weil sie erst mit 14 entscheidet, ob sie ein Kopftuch trägt. Oder: wie | |
| kann man denn mit der religiösen Verwandtschaft reden, wenn die Tochter | |
| kein Tuch trägt. Welche Argumente gibt es dann? Aber es gibt genügend | |
| Eltern, die das alles gar nicht interessiert. | |
| Deshalb wollen Sie ein staatliches Kopftuchverbot in Grundschulen, wie Ihre | |
| Landesregierung es prüft? | |
| Ja. Aber ich sehe auch, dass man auch so ein drastisches Mittel einbetten | |
| muss. Man muss den Muslimen erklären, dass es nicht gegen sie geht, sondern | |
| um die Rechte ihrer Kinder. Schulen und Moscheen müssen daran mitarbeiten. | |
| Die Eltern müssen gestärkt werden, nicht bevormundet. | |
| Nun darf man ja in das Erziehungsrecht der Eltern nur eingreifen, wenn das | |
| Kinderwohl gefährdet ist. Kann man das Kopftuch so einordnen? | |
| Ja, das Kopftuch gefährdet das Kindeswohl. Genau deshalb muss der Staat | |
| handeln. Aber dann müsste man doch sicher auch sagen: Die Beschneidung | |
| eines kleinen Jungen gefährdet das Kindeswohl mindestens genauso, oder? | |
| Ja. Die Beschneidung sollte auch verboten werden. Auf den Jungen liegt doch | |
| auch dieser furchtbare Druck: Wer nicht beschnitten ist, ist kein richtiger | |
| Mann. Der kann in der Dusche vor den anderen nicht bestehen. Es gibt | |
| Menschen, die fragen den Metzger ihres Halal-Fleisches, ob er denn auch | |
| „rein“ ist! Viele junge Männer haben uns schon gesagt, dass sie sich nicht | |
| hätten beschneiden lassen, wenn sie selbst hätten entscheiden dürfen. Ich | |
| bin dafür, dass Kinder, bis sie religionsmündig sind, überhaupt nicht | |
| religiös „behandelt“ werden dürfen. | |
| Im Moment dreht sich die gesamte Debatte um die Muslime. Religiös | |
| „behandelt“ werden aber etwa auch christliche Kinder, besonders in | |
| fundamentalistischen Gemeinden. Allein die Konzepte von Sünde und Hölle | |
| sind ja quasi dazu da, dass Kinder Angst bekommen. Bedeutet Ihre Forderung | |
| dann auch: Keine Taufe, kein Adventssingen in der Schule, keine Firmung? | |
| Es geht mir nicht um die Abschaffung der Religion, der religiösen Bildung | |
| oder des Adventssingens. Kinder sollen all das kennen und genießen. Es geht | |
| um Eingriffe in ihre Freiheit und ihre Rechte. Über die müssen sie selbst | |
| entscheiden können. | |
| Taufe und Firmung? Ja oder Nein? | |
| Ich würde mir wünschen, dass Kinder religiöse Entscheidungen über ihr Leben | |
| selbst treffen können und der Staat dafür Sorge trägt. Wir können trotzdem | |
| religiöse Feste wie den Advent oder das Zuckerfest zusammen feiern, auch in | |
| der Grundschule. | |
| Ihre Landesregierung in Nordrhein-Westfalen wird nicht die Kindstaufe | |
| abschaffen wollen, wenn ich mal eine Prognose wagen darf. Würden Sie in | |
| Kauf nehmen, dass ein einseitiges Gesetz verabschiedet wird, das lediglich | |
| gegen den Islam gerichtet ist – obwohl Sie persönlich lieber eine | |
| Gesamtlösung hätten? | |
| Ja. Eine Ungleichbehandlung würde ich im Fall des Kopftuchs für die Kinder | |
| in der Grundschule in Kauf nehmen. Weil unser Problem im Moment hier liegt. | |
| Dass die Islamfeinde Ihnen dann applaudieren, ist Ihnen egal? | |
| Das kann ich nicht verhindern. Aber wenn wir die Rechte der Kinder und der | |
| Frauen im Islam nicht endlich ernst nehmen, dann können Sie der AfD erst | |
| recht weiter beim Wachsen zusehen. | |
| 16 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Heide Oestreich | |
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