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# taz.de -- Die Fruchtfliege und die Wissenschaft: Arme kleine Fliege
> Fruchtfliegen sind perfekte Labortiere. Doch die Fruchtfliegenforschung
> war jahrzehntelang ein Kampfplatz politischer Ideologien.
Bild: Die kleine Fruchtfliege auf einer Bananenschale
Der Schriftsteller und Gulag-Häftling Warlam Schalamow meinte, „ein
Schriftsteller darf nie außer Acht lassen, dass die Welt tausend Wahrheiten
kennt. Wie wäre das zu erreichen? Vor allem durch die ernsthafte Behandlung
lebenswichtiger Themen.“ Die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) ist ein
solches Thema.
In den dreißiger Jahren erforschte der sowjetische Genetiker Nikolai
Dubinin den Unterschied zwischen den in der Stadt lebenden Fruchtfliegen
und denen auf dem Land. Als nach dem Großen Vaterländischen Krieg die
kollektivierte Landwirtschaft vorangebracht werden sollte, war die
Genforschung noch nicht zu praktischen Vorschlägen in der Lage.
Stattdessen wurde politisch eine antigenetische „proletarische Biologie“
favorisiert. Im Wesentlichen bestand sie aus dem Amalgam einer
Obstsortenveredelung durch einen Gärtner und den Anbauverbesserungsideen
eines Agronomen. Dieser auch „schöpferischer Darwinismus“ genannte Ansatz
trat in der Sowjetunion gegen die neodarwinistischen Anhänger eines
„Mendelismus-Morganismus“ an, der dann noch durch das sich
biologisch-genetisch fundierende „Hitlerdeutschland“ diskreditiert wurde.
Dazu gehörte auch Dubinin mit seiner Fruchtfliegenforschung.
Alle Genetiker im Westen betrieben damals Drosophila-Forschung. Noch in den
siebziger Jahren bestand die Diplomarbeit bei den Biologen an der Freien
Universität Berlin darin, dass sie eine Fruchtfliegenpopulation am Leben
hielten, deren Gene sie zuvor mittels Röntgenstrahlen zu einer sichtbaren
Mutation veranlasst hatten (einige Mutanten vererben ihre künstlich
hervorgerufenen „Erbschäden“ noch heute). Wenn man nach so etwas im
Internet fahndet, findet man fast drei Millionen Einträge.
## Eine Fliege für alles
Am Modellorganismus Fruchtfliege wird heute so ziemlich alles erforscht:
vom freien Willen, der Schizophrenie und der Alkoholsucht, über
Depressionen, Aggressivität und Rheuma bis zum Geruchssinn, dem
Sexualverhalten und der Embryonalentwicklung. Für Letzteres erhielt die
Heidelberger Genetikerin Christiane Nüsslein-Volhard 1995 den Nobelpreis.
Darüber hinaus fand sie heraus: „Die Natur ist in gewisser Weise
kapitalistisch organisiert.“ Und nicht etwa kommunistisch!
Der Genetiker Dubinin gehörte des ungeachtet erst einmal zu den Verlierern:
1948 auf der großen sowjetischen Biologentagung der Lenin-Akademie der
Landwirtschaftswissenschaften wurde seine im Westen viel gelobte
Drosophila-Forschung als besonders unsinnig (bürgerlich) kritisiert. Der
Akademiepräsident Trofim Lyssenko sorgte dann dafür, dass Dubinin
Wiederaufforstungen wissenschaftlich begleitete – dazu wurde er in den Ural
geschickt.
In Budapest mussten die Genetiker feierlich ihre Drosophila-Sammlungen zu
den Latrinen tragen, wie der Genetiker und spätere Nobelpreisträger
Francois Jacob 1997 berichtete. Erst nachdem Chruschtschow in der
Versenkung verschwunden war, wurde Dubinin wieder geholt – zum Direktor des
Genetikinstituts berufen und mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet.
## Rehabilitation von Nazi-Biologen
Die sowjetischen Genetiker waren aber auch zuvor schon nicht ganz untätig
gewesen: Bereits in den zwanziger Jahren hatten sie zwei junge
Fliegenforscher, Nikolai Timofejew-Ressowski und seine Frau Elena, an das
Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch abgesandt. Dort
wurde sowohl an einer deutschen Atombombe als auch an einer biologischen
Fundierung der „Rassenpolitik“ gearbeitet. Die Formel dafür war: „1 Atom…
1 Gen“. Die Ressowskis erforschten mit Röntgenbestrahlung mutierte
Fruchtfliegen. Sie weigerten sich, sowohl in die UDSSR zurückzukehren als
auch einen Ruf an eine US-Universität anzunehmen. Mit dem Einmarsch der
Roten Armee wurden sie in Buch zunächst verhaftet und verhört, doch dann
sorgten um die sowjetische Genetik bekümmerten Natschalniks dafür, dass man
sie nur in den Ural verbannte, wo sie bald einen Thinktank der versprengten
Genetiker in Form von Sommer-Camps bildeten, ab 1955 durften die Ressowskis
auch wieder publizieren.
Noch schneller als ihre Rehabilitation verlief die des Nazibiologen Hans
Stubbe durch die Rote Armee. Er hatte bis 1944 noch die vom sowjetischen
Genetiker Wawilow angelegten landwirtschaftlichen Versuchsstationen, etwa
200, in „Sammelkommandos“ mit ausgeplündert ([1][siehe taz v. 24.11.2017]).
1945 unterstellten die Sowjets ihm jedoch sofort die in Ostdeutschland
verstaatlichten Saatzuchtfirmen und deren Zeitschriften, zudem ernannten
sie ihn zum Direktor des Instituts für Kulturpflanzenforschung in
Gatersleben, wo die Genkritiker inzwischen immer mal wieder Versuchsfelder
mit genmanipulierten Nutzpflanzen zerstören: Das heutige Leibniz-Institut
für Pflanzengenetik ist für die linken Ökologen Zentrum eines gewissenlosen
Machbarkeitswahns, der schon den Mutationserzeuger Hans Stubbe in der
Nazizeit beseelt hatte. Er selbst brachte es in der DDR bald zum obersten
Biologen mit Sitz in der Volkskammer.
2001 erschien eine Biografie von Edda Käding mit dem nichts sagen wollenden
Titel „Engagement und Verantwortung“. Stubbes Genetikkollegen sind ihm noch
immer dankbar, dass er sie vor den „Verirrungen“ der „proletarischen
Biologie“ bewahrte, wie sie auf diversen Internetplattformen kundtun. Dazu
trug zur Glasnost-Zeit auch der „Persilschein“ bei, den der renommierte
sowjetische Schriftsteller Daniel Granin Nikolai Timofejew-Ressowski mit
einer verharmlosenden Biografie „Sie nannten ihn Ur“ ausstellte. Zuvor
hatte sich bereits Stubbe ähnlich freundschaftlich über den Kollegen aus
der Nazizeit gegenüber den sowjetischen Behörden geäußert.
## Perfekte Labortiere
Umgekehrt veröffentlichte Christa Wolf 1969 ein allzu freundliches Gespräch
mit Stubbe. Linke Wissenschaftshistoriker aus dem Westen, wie Susanne Heim
und Karl-Heinz Roth (in: „Der Griff nach der Bevölkerung, Aktualität und
Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik“), befassten sich 1986 etwas
kritischer und genauer mit der Fruchtfliegenforschung der Ressowskis und
auch mit Stubbes genetischer Forschung (an Löwenmäulchen). Ironischerweise
sind beide Mutationserzeuger im Laufe ihres Lebens mehrmals selbst mutiert:
Stubbe vom unpolitischen Biologen zum Nazi-Genetiker zum kommunistischen
Wissenschaftspolitiker, Timofejew-Ressowski vom sowjetischen Jungbiologen
zum „bedeutendsten Genetiker des ‚Dritten Reichs‘“ zum sowjetischen
Genetikretter.
Die Zeit schrieb 2011: „Den Schlüssel zum Erfolg tragen die Winzlinge (sie
sind im Schnitt drei Millimeter lang) in den Genen. Die Fruchtfliegen
besitzen nur vier Chromosome, sie lassen sich leicht züchten und haben eine
kurze Generationenfolge. Das macht sie zu perfekten Labortieren.“
Ihre Karriere begann 1910, als der US-Genetiker Thomas Hunt Morgan unter
den rotäugigen Fliegen einen weißäugigen Mutanten entdeckte. Er züchtete
und kreuzte ihn weiter – und bekam dafür 1933 den Nobelpreis. Zuvor hatte
schon sein US-Kollege Hermann Joseph Muller künstliche Mutationen mittels
Röntgenbestrahlung bei den Fruchtfliegen erzeugt, er bekam dafür 1946 den
Nobelpreis und wurde 1947 Präsident der Genetic Society of America.
Muller war zunächst nach Deutschland gegangen, wo er mit den Ressowskis in
Buch zusammenarbeitete. Als kommunistischer Sympathisant zog er auf Anfrage
des Genetikers Nikolai Wawilow in die Sowjetunion, wo er ein Institut
leitete und seine „eugenischen Träume“ in einen „Plan“ fasste, den er
Stalin vorlegte: „Aus dem Dunkel der Nacht“. Dieser bestand aus „positiver
Euthanasie“, das heißt, die Sowjetfrauen sollten alle mit Samen von großen
Genies – wie „Darwin und Lenin“ – künstlich befruchtet werden, um
bevölkerungspolitisch voranzukommen. Die Frauenverbände und die
Gewerkschaften protestierten heftig.
## Auf dem Rücken der Fliege
Muller distanzierte sich zwar von der deutschen „negativen Euthanasie“,
also der Auslöschung Minderwertiger zwecks „Aufartung“: „Wahre Eugenik k…
nur im Sozialismus verwirklicht werden!“, aber der „Lyssenkoismus“ trieb
ihn dann 1936 doch aus dem Land und zurück nach Amerika, wo er 1939 für den
7. International Congress on Genetics ein neues „Geneticists’ Manifesto“
vortrug, in dem es darum ging, die komplette Weltbevölkerung genetisch zu
optimieren. „Unsere Verantwortung wird dadurch ins Riesengroße wachsen!“
To cut a long shitstory short: Dieses ganze reaktionäre Zeugs, das
inzwischen zigtausende Genforscher beschäftigt, wurde und wird auf dem
Rücken der armen kleinen Fruchtfliege ausgetragen, ist das nicht traurig?
Aber wir können einiges an ihr wiedergutmachen, indem wir ihr immer etwas
angeschnittenes Obst hinlegen, sie lebt von diesen vergärenden Stellen –
und ist deswegen ihr Leben lang betrunken, ohne dass ihr das schadet, im
Gegenteil: Zur Paarung tanzen die Männchen in Reihen vor den Weibchen.
Diese legen ihre fast unsichtbaren Eier anschließend auf die Tanzfläche des
Obststückchens, auch im Winter, vorausgesetzt, man hat eine
Zentralheizung. Wenn es demnächst auch draußen wieder wärmer wird und es zu
viele Fruchtfliegen geworden sind, wird man sie leicht wieder los: Man
nimmt ihr einfach das Obst wieder weg. Sie verlassen dann die Wohnung, wie
der Drosophila-Experte des Nabu, Julian Heiermann, versichert. Aber wer
will das schon?
21 Apr 2018
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## AUTOREN
Helmut Höge
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