| # taz.de -- Die Wahrheit: „Bsss wsss wsss …“ | |
| > Im Wahrheit-Interview spricht Fliegenpsychologe Dieter Neumann erstmalig | |
| > über das stetig summende und brummende Getier. | |
| Bild: Gemeine Stubenfliege, im Nachdenken begriffen | |
| taz: Herr Neumann, Sie sind Fliegenpsychologe … | |
| Dieter Neumann: Stubenfliegenpsychologe, genauer gesagt. | |
| Ist das Ihr Beruf? Oder mehr so ein Hobby? | |
| Von Haus aus bin ich Dreschmaschinenmechaniker, aber ich habe mich schon | |
| immer für Insekten interessiert. Mit sechzehn Jahren habe ich | |
| herausgefunden, dass Marienkäfer immer zum höchsten Punkt krabbeln und dann | |
| abheben. Man kann sie also auf dem ausgestreckten Zeigefinger nach oben | |
| laufen lassen, und wenn sie merken, dass nach der Fingerspitze nichts mehr | |
| kommt, breiten sie die Flügel aus und fliegen los. | |
| Können Sie das beweisen? | |
| Im Moment habe ich gerade keinen Marienkäfer zur Hand. Aber ich könnte | |
| ihnen allerlei über Stubenfliegen erzählen … | |
| Schießen Sie los! | |
| Für Laien gibt es keine großen Unterschiede zwischen den einzelnen | |
| Stubenfliegen. So nach der Devise: Kennt man eine, kennt man alle! Fakt ist | |
| jedoch: Keine Fliege gleicht der anderen. Weder äußerlich noch im | |
| Verhalten. Denken Sie beispielsweise an die Fliegen, die innen an einer | |
| Fensterscheibe sitzen, sagen wir mal: in einer Pizzeria. Oder bei Ihnen | |
| daheim in der Küche. Verhalten die sich alle gleich? Nein, weit gefehlt! | |
| Die einen holen immer wieder aus und bollern mit dem Kopf an die Scheibe, | |
| die anderen rennen auf dem Glas im Kreis herum, und wieder andere hocken | |
| ganz ruhig in einer Ecke und reiben ihre Vorderbeine aneinander oder putzen | |
| sich den Rüssel. Je nach Temperament und Charakter. | |
| Aber haben Stubenfliegen nicht auch viele Gemeinsamkeiten? | |
| Durchaus. Sie lieben zum Beispiel das Licht, so wie die meisten Insekten | |
| das tun. An einem Sommerabend habe ich in meinem Wohnzimmer mal extra alle | |
| Lampen angemacht und die Terrassentür offen gelassen. Das war die reinste | |
| Invasion! Ich habe jede Menge Fotos davon gemacht und einen Bericht | |
| darüber geschrieben und alles an die Wissenschaftszeitschrift Nature | |
| geschickt, aber die haben mir nicht mal geantwortet. | |
| Gibt es noch mehr Dinge, die Sie über Stubenfliegen herausgefunden haben? | |
| Einige, die ich untersucht habe, kennen kein Schamgefühl. Die paaren sich, | |
| auf Deutsch gesagt, in aller Öffentlichkeit. Und sie stehen auf | |
| Lebensmittel. Selbst auf angefaulte. Auf die sogar erst recht! Auch das | |
| habe ich experimentell nachgewiesen, allerdings eher aus Versehen, als ich | |
| mal über drei Wochen im Urlaub war und ein Bündel Bananen auf der | |
| Fensterbank liegen gelassen hatte. Dadurch bin ich dann auf die Idee | |
| gekommen, hier in meinem Keller Fliegen zu züchten und sie mit völlig | |
| verschimmeltem Essen zu füttern. | |
| Wie viele Fliegen besitzen Sie zurzeit? | |
| Das ist schwer zu sagen. So um die achtzehn Stück, würde ich mal schätzen. | |
| Ist das nicht etwas unhygienisch? | |
| Ach was. Fliegen sind äußerst reinliche Tiere. Das Einzige, was mich | |
| manchmal stört, ist das Brummen. Das ist selbst im ersten Stock noch gut zu | |
| hören. Vor allem nachts. Aber wenn man sich die Zeit nimmt, einer Fliege | |
| zuzuhören, dann merkt man, dass das auch was Melodiöses an sich hat. Bei | |
| einer habe ich mal mitgeschrieben. Das klang ungefähr so: „Bsss wsss wsss … | |
| wsss wsss wsss … wsss wsss wsss bsss bsss wssssssss … bsss wsss wsss wsss �… | |
| bsss wsss …wsss wsss bsssss …“ | |
| Wir haben ’s kapiert. | |
| Nein, haben Sie nicht! Normale Fliegen hören sich anders an. Und zwar so: | |
| „Wrrsss bssswss brrwsss … brwsss brwsss …“ | |
| Und das finden Sie alles in Ihrer Freizeit heraus? | |
| Nein. Ich habe umgesattelt. Seit Anfang Mai bin ich hauptberuflich | |
| Fliegenpsychologe. | |
| Können Sie davon leben? | |
| Mit dem Existenzgründerkredit, den meine Bank mir gegeben hat, komme ich | |
| erst einmal über die Runden. | |
| In Ihrem Portfolio bezeichnen Sie sich als fliegenpsychologischer | |
| Dienstleister. Worin besteht ihr Dienstleistungsangebot? Und an wen ist es | |
| gerichtet? | |
| Ich berate Mitbürgerinnen und Mitbürger im Großraum Hamburg im Umgang mit | |
| Stubenfliegen, trage zu einem vertieften Verständnis zwischen Mensch und | |
| Fliege bei und erforsche auf Wunsch auch die Psyche ausgewählter | |
| Einzelexemplare. | |
| Und wie groß ist die Nachfrage? | |
| Mein Kundenstamm befindet sich zurzeit noch im Aufbau. | |
| Was sind das denn für Leute, die sich an Sie wenden? | |
| Vorvergangenen Montag hatte ich etwa einen Einsatz in Eppendorf. Da war | |
| einer Radfahrerin eine Fliege in den Hals geflogen. | |
| Und was haben Sie da gemacht? | |
| Na ja … da gab es nicht mehr viel zu tun. Die Fliege war schon tot. | |
| Und sonst? Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus? | |
| Ganz unterschiedlich. Jetzt im Sommer steht natürlich mehr auf der Agenda | |
| als in der fliegenarmen Jahreszeit. Nächste Woche halte ich auf der Insel | |
| Scharhörn einen Vortrag über linkshändige Fliegen … | |
| Auf Scharhörn? Da wohnt doch überhaupt niemand. | |
| Doch. Der Vogelwart. | |
| Und der interessiert sich für linkshändige Fliegen? | |
| Das weiß ich noch nicht, aber ich hoffe, dass er kommen wird. Auf Scharhörn | |
| ist ja sonst nichts los. Auf alle Fälle werde ich eine Fliege mitbringen, | |
| die ich für linkshändig halte, weil sie beim Gehen immer zuerst das vordere | |
| linke Bein hebt. | |
| Und wenn der Vogelwart nicht kommt? | |
| Dann hat er eben Pech gehabt. | |
| Nun denn. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg, Herr Neumann! | |
| Wollen Sie schon los? Ich habe Ihnen doch noch gar nichts von dem | |
| Forschungsprojekt erzählt, das ich im Auftrag des | |
| Bundesbildungsministeriums durchführen möchte! Mir ist nämlich aufgefallen, | |
| dass Fliegen gern an Kuhaugen lutschen, und ich habe 200.000 Euro | |
| beantragt, um dieses Phänomen mal genauer unter die Lupe nehmen zu können … | |
| Klingt spannend. Darauf kommen wir vielleicht im nächsten Sommerloch | |
| zurück. Einstweilen vielen Dank für das Gespräch und alles Gute! | |
| 28 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerhard Henschel | |
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