# taz.de -- Die Wahrheit: Rhetorische Registratur | |
> Die Woche der verschwundenen Politiker (5): Der FDP-Mann Wolfgang | |
> Mischnick und der große Mischnick-Blöff. Voilà un homme! | |
Bild: Astreines Pokerface mit Nasenfahrrad: Wolfgang Mischnick | |
Schon 1954 strebte der damals 33-jährige Vollblutpolitiker Wolfgang | |
Mischnick erfolgreich in den Bundesvorstand der FDP und schraubte sich von | |
dort aus systematisch an die Spitze der FDP-Bundestagsfraktion, deren | |
Vorsitz er von 1968 bis 1991 innehatte. | |
Anschließend rumorte er noch einige Jahre im Kuratorium der | |
Karl-May-Stiftung, im Kuratorium der Deutschen Sporthilfe und in der | |
Sepp-Herberger-Stiftung, bis er 2002 auf Nimmerwiedersehen verschwand – auf | |
dem Weg zum Zigarettenautomaten, sagen die einen; durch das Fenster des | |
Hinterzimmers in einem Kegelclub in Bad Soden, sagen die anderen. Eine | |
zehnminütige Großfahndung des Bundeskriminalamts verlief ergebnislos. | |
Seither ist Mischnick verschollen. Seine Anhänger wollen das | |
freidemokratische Urgestein zwar hier und dort gesichtet haben – unter | |
anderem hinter den Zinnen einer Sandburg am Strand von Terschelling, in | |
einem finnischen Jacuzzi, auf dem Kilimandscharo und an Bord eines | |
Tretboots auf der emsländischen Mittelradde –, doch stichhaltige Hinweise | |
auf Mischnicks Aufenthaltsort liegen bis heute nicht vor. Inzwischen mehren | |
sich sogar die Zweifel, ob Mischnick jemals gelebt hat. Im Deutschen | |
Bundestag wäre man jedenfalls auch ohne ihn gut ausgekommen. | |
## Nasenfahrradträger | |
Viele Male hat er hinnehmen müssen, „daß die Abgeordneten, wenn er ans Pult | |
trat, das Plenum verließen“, schrieb der Sozialdemokrat Klaus Bölling 1982 | |
in sein Tagebuch „Die letzten 30 Tage des Kanzlers Helmut Schmidt“ über | |
Mischnick, der rhetorisch ungefähr so begabt war wie eine gebraucht | |
gekaufte Hängeregistratur. Es passte ins Bild, dass er sich beizeiten ein | |
unförmiges Nasenfahrrad mit treckerreifengroßen Gläsern zugelegt hatte. | |
Damit führte er nicht nur den Mitgliedern des Hohen Hauses, sondern auch | |
den Menschen draußen im Lande vor Augen, welch geringen Wert er darauf | |
legte, sich als the sexiest member of parliament zu profilieren. Das | |
konnten andere ohnehin besser: Josef Ertl, Hermann Höcherl, Ignaz Kiechle | |
oder Eugen Glombig. | |
Und dennoch war Mischnick, sofern er tatsächlich gelebt haben sollte, eine | |
Ausnahmeerscheinung in der deutschen Nachkriegspolitik. Davon zeugt das | |
1984 im Verlag C. Bertelsmann erschienene Standardwerk „Typisch Mischnick. | |
Ein schlagkräftiger Liberaler“ („Anekdotisch und karikiert vorgestellt von | |
Horst Dahlmeyer“). Es versammelt einige der Aussprüche, mit denen Mischnick | |
der politischen Debatte seinen persönlichen Stempel aufgedrückt hat: | |
„Politik ist nicht nur eine Frage der Mehrheiten, sondern vor allem des | |
Willens und des Wollens.“ – „Ohne eine gute Kommunalpolitik ist ein Staat | |
nicht lebensfähig.“ | |
Das eigentliche Kernstück dieses Buchs bilden jedoch die zündenden | |
Anekdoten, in denen man Mischnick als Skatspieler kennenlernen kann. Unter | |
der Überschrift „Training“ heißt es dort beispielsweise: „Kurz vor einem | |
Leichtathletik-Wettkampf trainierte Wolfgang Mischnick die deutsche | |
Diskuswerferin Liesel Westermann auf seine Art. Er drosch mit ihr und einem | |
Parteifreund einen zünftigen Skat. Die Sportlerin gewann gegen die beiden | |
Männer. ‚Dieses Training war psychologisch richtig‘, berichtete Mischnick | |
später, ‚die Liesel hat nachher sehr gute Weiten erzielt.‘ “ Noch | |
spritziger ist eine Geschichte mit dem Titel „Einladung“: „Wolfgang | |
Mischnick wird von überallher zum Skatspielen eingeladen. Originell war die | |
Begründung, die ein Mann aus Köln an Mischnick nach Bonn schrieb: ‚Ich | |
möchte mit Ihnen Skat spielen, um festzustellen, ob Sie auch beim Spiel so | |
überzeugend zielbewußt und standhaft sind wie in der Politik.‘ “ Voilà un | |
homme! | |
Den Gipfel seiner Erzählkunst erklimmt der Herausgeber aber in einer | |
Anekdote mit der Headline „Super“: „Am 17. Januar 1977 jubelte Mischnick: | |
‚Das ist ja wie ein Lotto-Gewinn.‘ Grund: Exakt um 23.18 Uhr spielte er das | |
Spiel der Spiele – einen Grand ouvert. Mit am Tisch saßen seine | |
Fraktionskollegen Hans-Günther Hoppe, Kurt Jung und Richard Wurbs. Und das | |
war der Super-Grand-ouvert: Kreuz-Bube, Pik-Bube, Karo-Bube, Herz-As, Herz | |
10, Herz-König, Herz-Dame, Herz 8, Herz 7 und Karo-As. Im Skat lagen | |
Herz-Bube und Karo 9. Wolfgang Mischnick war in Vorhand; Kollege | |
Hans-Günther Hoppe saß.“ | |
Die Story geht aber noch weiter: „Professor Dr. Burkhard Rauhut, Direktor | |
des Lehrstuhls für Statistik und Wirtschaftsmathematik an der Technischen | |
Hochschule Aachen, zum Vorgang: ‚Das ist sensationell. Wenn ein Skatspieler | |
täglich 100 Spiele macht, hätte er alle paar Millionen Jahre einmal die | |
Chance, diesen Grand ouvert zu spielen.‘ Die Millionen Jahre währten kaum | |
mehr als ein Jahr: Bereits im Juli 1978 war beim Turnier in St. | |
Peter-Ording der nächste Grand ouvert fällig: Dieses Mal mit Kreuz-Bube, | |
Herz-Bube, Herz-As, Herz 10, Herz-Dame, Herz 9, Herz 8, Karo-As und Karo | |
10.“ | |
Seien wir also froh, dass Wolfgang Mischnick inzwischen nicht mehr so viel | |
von sich reden macht. | |
22 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Henschel | |
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