| # taz.de -- Kapitalismuskritisches Schulmaterial: Attac erklärt Marktwirtschaft | |
| > Viele Wirtschaftsverbände verteilen Schulmaterial. Kritik am | |
| > Wirtschaftssystem findet sich darin nicht. Deshalb bringt Attac nun | |
| > eigene Unterlagen heraus. | |
| Bild: Mit ein bisschen Phantasie sehen Sie hier eine Hochhausspitze. Achja: Auc… | |
| Stell dir vor, du hast drei Gummibärchen. Jeden Monat musst du mindestens | |
| zwei Gummibärchen konsumieren (so wie man im richtigen Leben Essen, Miete | |
| und Kleidung bezahlen muss). Für deinen Lebensunterhalt musst du arbeiten. | |
| Dein Chef hat 20 Gummibärchen und zahlt dir vier Gummibärchen pro Monat. | |
| Agiere möglichst geschickt, um viel von den Bärchen zu haben. Zum Beispiel, | |
| indem du um dein Gehalt verhandelst, einen Streik organisierst oder sparst. | |
| Die Gummibärchen-Aufgabe stammt aus dem Bildungsmaterial „Kapitalismus – | |
| oder was?“ und soll Schüler*innen der fünften bis zehnten Klasse an die | |
| Funktionsweisen der Marktwirtschaft heranführen. Entwickelt hat sie das | |
| globalisierungs- und kapitalismuskritische Netzwerk Attac. Ähnlich, wie die | |
| Marktwirtschaft anhand von Gummibärchen erläutert wird, werden Themen wie | |
| der „Homo oeconomicus“, die Privatisierung von Krankenhäusern oder die | |
| Solidarische Landwirtschaft spielerisch behandelt. Seit Ende letzten Jahres | |
| stehen die Unterlagen auf der Seite [1][www.attac.de/bima] kostenlos zum | |
| Download bereit. Im Herbst sollen Lehrer*innen dort auch Material zum Thema | |
| zehn Jahre Finanzkrise finden. | |
| Kostenlos zur Verfügung gestellte Schulmaterialien gibt es im Internet | |
| zuhauf. Vor allem Firmen aus der Metall- und Elektronikindustrie, den | |
| Bereichen Energie und Umwelt oder auch Banken bieten Unterrichtsmaterialien | |
| an. 2013 zählten Augsburger Wissenschaftler 17.000 Angebote von | |
| Unternehmen. Eine aktuelle Studie legt nahe, dass jedes sechste der | |
| untersuchten Unternehmen Materialien bereitstellt. Firmen und Verlage | |
| begründen ihr Engagement damit, dass das unternehmerische Denken der | |
| Schüler*innen gefördert werden soll. Denn ökonomisch denkende Bürger*innen, | |
| so die Argumentationslinie von Lobbyist*innen, sorgen für einen stabilen | |
| Wirtschaftsstandort Deutschland. | |
| Das klingt zwar logisch, birgt aber zwei Problematiken. Zum einen nutzen | |
| Unternehmen Schulmaterialien, um sich zu vermarkten oder gar werblich | |
| Produkte zu platzieren. Das ist laut Schulgesetz zwar verboten – es gibt | |
| aber anders als bei den Materialien offizieller Schulbuchverlage keine | |
| staatliche Zulassung. Die Prüfung liegt bei den Lehrenden. Das ist an sich | |
| schon ein Problem, sagt Bildungsforscherin Eva Matthes von der Universität | |
| Augsburg. Hinzu komme aber noch, dass in vielen Online-Materialien ein | |
| konsumorientiertes Weltbild vermittelt werde. Matthes’ Urteil: „Es geht | |
| darum, den Einzelnen zum Konsumenten zu erziehen, und zwar am besten in | |
| Bezug auf die Produkte, die das Unternehmen anbietet.“ | |
| Holger Oppenhäuser teilt diese Einschätzung. Er ist einer der Autor*innen | |
| der Attac-Bildungsmaterialien. Schon kurz nach der Gründung von Attac hat | |
| der Verein Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt. Seit 2015 gibt es | |
| eine neue, ehrenamtliche Arbeitsgruppe, bestehend aus aktiven und | |
| pensionierten Lehrer*innen, einem Professor für Fachdidaktik, sowie | |
| Personen aus der gewerkschaftlichen oder außerschulischen Bildungsarbeit. | |
| „Attac versteht sich als Bildungsbewegung“, sagt er. „Wir nehmen wahr, da… | |
| da immer mehr Material von unternehmerischen Interessengruppen in die | |
| Schulen kommt und mehr oder minder subtil auch deren neoklassisches | |
| beziehungsweise neoliberales Weltbild transportiert. Da hat Attac gesagt, | |
| dem setzen wir was entgegen.“ | |
| ## Transparenzkodex eingehalten | |
| Was die Attac-Materialien von vielen Publikationen unterscheidet, wo sich | |
| der Konzern hinter einer Stiftung versteckt: Es ist deutlich erkennbar, wer | |
| der Urheber ist – und welche Interessen dahinter stecken. Der Verein Media | |
| Smart, der nach eigenen Angaben die Medienkompetenz von Kindern fördern | |
| will, nennt zwar seine Mitglieder wie Ferrero, Lego und Matell. Welches | |
| Interesse diese als werbetreibende Firmen an den Schulmaterialien haben, | |
| legen sie aber nicht offen. | |
| Bei den Attac-Unterlagen hingegen heißt es: „Als Teil der internationalen | |
| globalisierungskritischen Bewegung entstand Attac als Gegenbewegung zur | |
| gesellschaftlichen Vorherrschaft des sogenannten Neoliberalismus. Dies | |
| impliziert die Kritik am neoklassischen Paradigma […].“ Das offenzulegen | |
| entspricht dem Transparenzkodex der Deutschen Vereinigung für politische | |
| Bildung, den es seit 2014 gibt. Er „fordert die Kultusministerien auf, eine | |
| transparente Kennzeichnung von Unterrichtsmaterialien durchzusetzen. | |
| Zukünftig sollen alle in Schulen genutzten Materialien Angaben über | |
| Produzenten, Finanziers und unterstützende Organisationen enthalten“, heißt | |
| es auf der Internetseite der Vereinigung. | |
| Zu dieser Transparenz gehört auch der Umgang mit der Neutralität. „Vor | |
| diesem Hintergrund ist auch das Bildungsmaterial von Attac nicht neutral“, | |
| steht dazu in jener Einleitung. Auch wirtschaftsnahe Institutionen wie die | |
| Initiative Wirtschaft und Schule (IWS), die zum Institut der deutschen | |
| Wirtschaft Köln gehören, beziehen sich auf Neutralität: „Die Materialien | |
| sind rein faktenbasiert und nur beschreibend“, sagt der Ansprechpartner für | |
| das Portal Wirtschaft und Schule, Carsten Ruge. „Die Rückmeldungen der | |
| Lehrer zeigen, dass sie unsere Materialien häufig als Grundlage für ihre | |
| Unterrichtsgestaltung nutzen, doch nie eins zu eins verwenden.“ | |
| ## Froh über gutes Material | |
| Wissenschaftlerin Matthes kommt zu einer anderen Auffassung. Sie hat in | |
| zwei Forschungsprojekten kostenlose Online-Lernmaterialien von Unternehmen | |
| oder unternehmensnahen Stiftungen untersucht. Sie resümiert: „Viele der | |
| Unterlagen geben sich den Anstrich, neutral zu sein, und betonen, dass sie | |
| mit Pädagoginnen und Pädagogen zusammenarbeiten würden. Doch neutral sind | |
| sie nicht.“ | |
| Warum aber sind die externen Materialien so beliebt? Die Online Angebote | |
| sind meist deutlich aktueller als die offiziellen Schulbücher. Und: Viele | |
| Lehrer*innen sind Quereinsteiger*innen, also fachfremd. Und somit froh über | |
| gutes Material. Doch was „gut“ ist, ist beim Thema Wirtschaft umstritten. | |
| Als sich Baden-Württemberg entschloss, ein eigenes Fach „Wirtschaft“ | |
| einzuführen, kritisierten Bildungsexperten und Gewerkschaften den | |
| unternehmensfreundlichen Lehrplan. | |
| Geht es um politische Bildung, müssen Schulmaterialien bestimmte Standards | |
| erfüllen. Der Beutelsbacher Konsens von 1976 stellt drei Kriterien auf: das | |
| Indoktrinationsverbot, die Schülerorientierung und das | |
| Kontroversitätsgebot. Auf diese Prinzipien berufen sich auch | |
| unternehmensnahe Stiftungen: „Im Stundenablauf ist immer auch Zeit | |
| eingeplant, in der die Jugendlichen unterschiedliche Argumente bewerten und | |
| sich eine eigene Meinung bilden können“, heißt es etwa auf der Homepage der | |
| Initiative Wirtschaft und Schule. | |
| ## Interessenskonflikte aufzeigen | |
| Für Attac bedeutet die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses etwas anderes. | |
| „Kontroversität kann nicht einfach heißen, ich lasse einen Neoliberalen | |
| gegen einen der letzten Keynesianer diskutieren, und damit war ich dann | |
| kontrovers“, meint Oppenhäuser von Attac. „Sondern: Welche | |
| gesellschaftlichen Interessen sind im Spiel, was für ökonomische Theorien | |
| gibt es noch, was sagt feministische Ökonomie, was sagen die Neomarxisten | |
| und so weiter.“ | |
| In den Attac-Unterlagen geht es deswegen vor allem darum, | |
| Interessenskonflikte aufzuzeigen. Ist jede Person ein „Homo oeconomicus“, | |
| also ein Mensch, der auf seine wirtschaftliche Maximierung bedacht ist? Was | |
| passiert bei der Privatisierung von Krankenhäusern? Wieso überhaupt Dinge | |
| besitzen, statt sie zu teilen? Fragestellungen wie diese sollen die | |
| Schüler*innen erarbeiten. Wie eben in dem Gummibärchen-Spiel, in dem jede*r | |
| der Teilnehmenden möglichst viel naschen will – oder eben nicht. | |
| 31 Mar 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.attac.de/bima | |
| ## AUTOREN | |
| Maike Brülls | |
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