# taz.de -- Kieler Literaturtelefon wird 40: Archaisch unbeeindruckt | |
> Jörg Meyer kuratiert das Kieler Literaturtelefon. Es ist das erste seiner | |
> Art in Deutschland – und das letzte, das es trotz Sparmaßnahmen und | |
> Internet noch gibt. | |
Bild: Bei Anruf Lyrik: Das Kieler Literaturtelefon hat den digitalen Wandel bis… | |
HAMBURG taz | Elke Erb wollte nicht einfach nur lesen. Die 1938 geborene | |
Lyrikerin, Inhaberin der Kieler Liliencron-Dozentur 2016, wollte auch etwas | |
zu ihrem Texten erzählen. „Sie sagte: ‚Junger Mann, wir machen das mal | |
anders‘“, lacht Jörg Meyer. Und so lud sie ihn für ein ausführliches | |
Gespräch in ihr Hotelzimmer ein, statt dass sie – wie sonst üblich – im | |
Kieler Literaturhaus eine halbe Stunde vor Lesungsbeginn Jörg Meyer etwas | |
in sein handtellergroßes Aufnahmegerät sprach. | |
Jörg Meyer, Kieler Lyriker, Kulturjournalist und Literaturblogger, betreut | |
das Kieler Literaturtelefon seit 2007. „Damals überlegte die Stadt mal | |
wieder, ob man es nicht einstellen sollte, um Kosten zu sparen, auch wenn | |
die Kosten nicht hoch waren“, erzählt er. Anlass: Die Zahl der | |
wöchentlichen Anrufe war zurückgegangen. Immer mehr verlagerte sich das | |
auditiv-literarische Geschehen ins Internet. | |
Meyer schlug damals gemeinsam mit zwei Mitstreitern, die heute in der Slam | |
Poetry Szene unterwegs sind, vor, die Beiträge, die man am Telefon hören | |
kann, parallel ins Netz zu stellen. Zum einen, um sowohl jüngere Autoren | |
wie auch Nutzer zu gewinnen, zum anderen bot sich so die Möglichkeit, auf | |
einer Homepage etwas mehr über die teilnehmenden AutorInnen zu erzählen, | |
auf deren Internetseite zu verlinken plus Weiterleitung zum Verlag, um bei | |
Gefallen des Gehörten das Buch sogleich bestellen zu können. Die Stadt Kiel | |
ließ sich überzeugen. | |
Die Erweiterung ins Internet hatte einen weiteren Vorteil: Es konnte | |
endlich ein Archiv angelegt werden, sodass seit 2007 alle Beiträge online | |
verfügbar sind. Was sich ausbauen ließe: „Seit der Gründung des Telefons | |
1978 bis zum Jahr 2007 sind allein 1.500 Beiträge aufgelaufen. Die Bänder | |
lagern im Stadtarchiv. Da sind echte Perlen darunter – wie Telefonbeiträge | |
von Günter Grass, Peter Handke und Peter Härtling“, erzählt Meyer. Die | |
digitalisieren – das wäre doch was! „Man müsste nur ein bisschen Geld in | |
die Hand nehmen“, sagt Meyer. | |
Beibehalten wurde damals die Möglichkeit, einfach anzurufen. Und das soll | |
nach Meyers Auffassung unbedingt so bleiben – nicht nur, weil das Telefon | |
im ständigen Wettlauf um immer neue Verbreitungskanäle so archaisch | |
unbeeindruckt ist, sondern auch aus einer klaren ZuhörerInnenorientierung | |
heraus: „Wir wissen, dass uns viele ältere Menschen gerne hören, die nicht | |
im Netz unterwegs sind“, sagt Meyer. | |
Und so gibt es weiterhin aller zwei Wochen einen neuen Beitrag zu hören. | |
„Die AutorInnen müssen aus Schleswig-Holstein kommen oder sie müssen in | |
Kiel gelesen haben“, erklärt Meyer die Teilnahmebedingungen. Bunt sei das | |
Programm: „Das geht von unseren wichtigen GegenwartsautorInnen bis hin zu | |
arrivierten Hobbyisten, die ihre Werke im Selbstverlag veröffentlichen – | |
und das müssen ja nicht die schlechtesten Texte sein.“ Gerne nimmt er auch | |
Beiträge von Anfängern entgegen: „Die sind oft erst 17 oder 18 Jahre alt, | |
und es ist für sie ihre allererste Veröffentlichung.“ | |
Ganz nebenbei strickt Meyer so an einem literarischen Netzwerk im Norden: | |
Wenn jetzt am Mittwoch der relativ neue „Junger Literaturpreis | |
Schleswig-Holstein“ im Kieler Literaturhaus verliehen wird – Meyer sitzt | |
dort mit in der Jury –, wird der Preisträger oder die Preisträgerin bald | |
Meyer vorlesen; so wie auch demnächst die Kielerin Juliana Kálnay zu hören | |
sein wird, die Mitte März in Wesselburen den renommierte Hebbel-Preis | |
erhalten hat. | |
Jörg Meyer lehnt sich zufrieden zurück: „Ich habe auf meine Anfragen hin | |
noch nie eine Absage bekommen“, sagt er. Und noch etwas gilt: Er hat | |
anlässlich des bevorstehenden 40-jährigen Jubiläums recherchiert, ob es im | |
deutschsprachigen Raum noch Literaturtelefone gibt. | |
Da gäbe es manches Verwandte, wie in Hamburg die wöchentlichen Weblesungen, | |
die der Anfang Februar verstorbene Schriftsteller Rüdiger Käßner so | |
verlässlich zwei Jahrzehnte lang betreute. Aber dass man einfach zu Hause | |
auf dem Sofa, im Café beim Warten auf den Kaffee oder im Park auf der Decke | |
zum Handy greift und ein paar Minuten Literatur zu hören bekommt, das gibt | |
es nur noch in Kiel. „Wir waren das erste Literaturtelefon und wir sind das | |
letzte, das noch existiert“, sagt Meyer. Und diesen Rang kann ihm niemand | |
mehr nehmen. | |
27 Mar 2018 | |
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