| # taz.de -- Steigende Zahl von Abtreibungen: Trendwende bei der Verhütung | |
| > 2017 wurden über 100.000 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland | |
| > durchgeführt – 2,5 Prozent mehr als 2016. Nun wird über die Gründe | |
| > gestritten. | |
| Bild: Kondome, Spiralen oder auch natürliche Verhütung kommen häufiger zum E… | |
| 101.209. Das ist die Zahl der Abtreibungen, die im Jahr 2017 in Deutschland | |
| stattgefunden haben. [1][Es sind 2,5 Prozent mehr als die 98.721 Abbrüche | |
| des Jahres 2016]. Die Zahl ist damit über die symbolträchtige Schwelle von | |
| 100.000 geklettert. Der Berufsverband der Frauenärzte spricht von einer | |
| „alarmierenden Zunahme von Schwangerschaftsabbrüchen“. Und tatsächlich ist | |
| es interessant, diesem Anstieg nachzugehen. Anstatt das aber einem so | |
| wichtigen Thema angemessen sachlich und fundiert zu tun, wird erst mal laut | |
| vermutet. | |
| Der Berufsverband der Frauenärzte jedenfalls hat gleich zwei Theorien. Die | |
| Zunahme der Abbrüche beobachte man seit 2015, heißt es in einer | |
| Pressemitteilung. Und das falle zeitlich zusammen mit zwei anderen | |
| Ereignissen: [2][Die Notfallverhütung mit der „Pille danach“ wurde | |
| rezeptfrei], und der Prozess zweier junger Frauen gegen Bayer begann. | |
| Eine davon ist Felicitas Rohrer. Sie hatte mit der Pille verhütet und wäre | |
| beinahe an einer Lungenembolie gestorben. Rohrer verklagte den | |
| Pharmakonzern, warf ihm vor, die Möglichkeit dieser Nebenwirkung nicht | |
| deutlich genug auf dem Beipackzettel kenntlich gemacht zu haben. Seitdem, | |
| so der Bundesverband der Frauenärzte, wendeten sich immer mehr Frauen von | |
| hormoneller Verhütung ab und setzten stattdessen auf unsichere Zyklus-Apps. | |
| „Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Apotheker durch ihre | |
| eigene Standesorganisation ungenügend auf diese anspruchsvolle Beratung | |
| vorbereitet wurden, und das zu einer Zunahme unerwünschter | |
| Schwangerschaften führen könnte“, sagt Christian Albring, Präsident des | |
| Berufsverbandes. | |
| ## Jede Stunde zählt bei der „Pille danach“ | |
| Ein Vorwurf, den die Apotheker*innen verständlicherweise nicht gerne hören. | |
| „Die Behauptung, dass Apotheker nicht zuverlässig zur Pille danach beraten | |
| würden, entbehrt jeder Grundlage“, sagt eine Sprecherin der | |
| Bundesapothekerkammer auf Nachfrage. Der Berufsverband positioniere sich | |
| „erneut pauschal und plakativ gegen Apothekerinnen und Apotheker“. So in | |
| etwa klingen die Argumente beider Seiten seit Jahren. Und zwar seit die | |
| EU-Kommission die Pille danach 2015 aus der Rezeptpflicht genommen hat. | |
| Die Pille danach kann nicht in jedem Fall eine Schwangerschaft sicher | |
| ausschließen: Sie verschiebt nur den Eisprung nach hinten. Hat dieser | |
| bereits stattgefunden, kann auch die Pille danach eine Befruchtung des Eis | |
| nicht verhindern. Der Berufsverband der Frauenärzte kritisiert nun, dass in | |
| den Handlungsempfehlungen der Apotherkammer steht, die Pille danach könne | |
| je nach Präparat bis zu drei oder fünf Tage nach dem ungeschützten | |
| Geschlechtsverkehr eingenommen werden. Die Pillen wirken aber erst | |
| zeitversetzt, zwischen sechs Stunden und zwei Tage nach der Einnahme. Nimmt | |
| eine Frau die Pille danach also erst am dritten Tag nach dem ungeschützten | |
| Sex, setzt deren Wirkung erst am fünften Tag ein. Wenn es in dieser Zeit | |
| zum Eisprung kommt, kann die Frau trotzdem schwanger werden. | |
| Wollen die Frauenärzt*innen also die Rezeptpflicht zurück? Sollen Frauen | |
| tatsächlich wieder ohne Termin zu ihrer Ärztin oder ihrem Arzt rennen, am | |
| Wochenende gar stundenlang in der Notaufnahme sitzen und auf ein Rezept | |
| warten? Und das, wo doch – wie der Berufsverband betont – quasi jede Stunde | |
| zählt? | |
| „Wir wollen nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen und die Pille danach | |
| wieder unter Rezeptpflicht stellen“, sagt der Berufsverband auf Nachfrage. | |
| „Aber wir wollen, dass die Frauen in der Apotheke eine ordentliche Beratung | |
| bekommen, die sie zuverlässig vor einer Schwangerschaft schützt.“ Ob die | |
| Beratung durch die Apotheken aber tatsächlich etwas mit den gestiegenen | |
| Schwangerschaftsabbrüchen zu tun hat, darüber gibt es keine Daten, und | |
| keine Studie. | |
| ## Dazu Studien durchzuführen wäre gut | |
| Dann ist da noch die Sache mit den Hormonen. Der Berufsverband rechnet vor, | |
| seit dem Prozess gegen Bayer gehe der Verkauf hormoneller Verhütungsmittel | |
| jährlich um vier Prozent zurück. Tatsächlich beobachten Frauenärzt*innen in | |
| den vergangenen Jahren eine Trendwende, weg von der Pille, hin zu Spiralen, | |
| Kondomen oder auch natürlicher Verhütung. Dabei bestimmt die Frau durch | |
| Selbstbeobachtung, Temperaturmessen und weitere Methoden ihre fruchtbaren | |
| Tage. | |
| Diese Methode gilt oft als unsicher. Wird sie richtig angewandt, kann sie | |
| aber gut funktionieren. Allerdings: Natürliche Verhütung ist zeitaufwendig | |
| – eine Frau muss ihren Körper wirklich gut kennen, jeden Tag zur selben | |
| Zeit ihre Temperatur messen und so weiter. Nur wer sich reinhängt, kann | |
| damit sicher verhüten. Weil es aber viel bequemer ist, so die Vermutung des | |
| Berufsverbands der Frauenärzte, verlassen sich viele Frauen auf | |
| Zyklus-Apps, die anhand verschiedener Daten ihre fruchtbaren Tage | |
| ausrechnen. | |
| Und dabei oft daneben liegen. Ende 2017 hatte Stiftung Warentest 23 dieser | |
| Apps getestet – und nur drei für gut befunden. Geht man also nur nach der | |
| App, kann das gründlich nach hinten losgehen. Doch auch hier gibt es keine | |
| Studien, keine Zahlen, nichts, was belegt, dass Nutzerinnen solcher Apps in | |
| den vergangenen Jahren rund um die Uhr ungewollt schwanger werden. | |
| Dazu Studien durchzuführen wäre gut. Die Zahl der Abtreibungen ist in den | |
| vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken. 2010 lag sie noch bei 110.431 – | |
| das sind 9.222 Abtreibungen mehr als 2017. Dem Anstieg jetzt gründlich und | |
| sachlich auf den Grund zu gehen wäre auch gut. Aber ohne Grundlage | |
| Alarmstimmung zu verbreiten ist eher irritierend. | |
| Vor allem sollte man die Zahl nicht isoliert betrachten. Denn auch die | |
| Bevölkerung verändert sich. Gab es vielleicht 2017 mehr Frauen im | |
| gebärfähigen Alter als im Jahr zuvor? Schaut man genau in die Zahlen des | |
| Statistischen Bundesamtes, dann findet man ganz hinten, in Anlage 3: die | |
| Abbrüche pro 10.000 Frauen von 15 bis 49 Jahren. Seit 2008 bewegt sich | |
| diese Zahl immer irgendwo zwischen 56 und 59 Abtreibungen. Für das Jahr | |
| 2017 steht da eine 58. | |
| 11 Mar 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2018/03/… | |
| [2] /Beschluss-der-EU-Kommission/!5017759 | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
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