| # taz.de -- Debatte zum Anschlag von Salisbury: Sie ziehen alle Register | |
| > Die Indizienlage im Fall Skripal ist klar: Sie deutet nach Russland. | |
| > Warum dazu von „Hysterie“ geschrieben wird, erschließt sich nicht. | |
| Bild: Manche halten es für „hysterisch“, aber eigentlich ist Mays Vorgehen… | |
| Auf der Straße wurden neulich zwei Schwerverletzte entdeckt. Ein Auto hatte | |
| sie überfahren, der Fahrer hatte sie liegengelassen und war flüchtig. Eine | |
| Woche später meldete die Polizei einen Erfolg: Sie habe über Videoaufnahmen | |
| das Autokennzeichen identifiziert. Es sei hoch wahrscheinlich, dass der | |
| Fahrzeughalter für den Unfall die Verantwortung trage, zumal er bereits | |
| wegen solcher Delikte vorbestraft sei. Es gebe nur zwei denkbare | |
| Möglichkeiten: Der Fahrzeughalter war selbst schuld – oder jemand anders | |
| war gefahren. Der Halter wurde vorgeladen, um sich zu erklären. | |
| Der Fahrzeughalter reagierte empört. Die Behauptung, er sei für den Unfall | |
| verantwortlich, sei eine grobe Provokation und geeignet, sein Vertrauen in | |
| den Rechtsstaat zu zerstören, ließ er über seinen Anwalt erklären. Er denke | |
| nicht daran, einer Vorladung zu folgen, schließlich sei er bewaffnet und so | |
| könne man nicht mit ihm umspringen. | |
| Im Übrigen habe er das Fahrzeug längst weitergegeben und jeder könne | |
| Videoaufnahmen fälschen oder Autokennzeichen nachmachen. Die Polizei solle | |
| ihm gefälligst das Kennzeichen aushändigen und ihn an den Ermittlungen | |
| beteiligen. Außerdem müsse sie zunächst eine Anfrage an seine | |
| Autoversicherung richten und ihm Zugang zu den Opfern gewähren. Und | |
| überhaupt müssten Fußgänger, die auf eine Straße liefen, damit rechnen, | |
| überfahren zu werden. | |
| Sieht so ein Rechtsstaat aus? Nein. Würde das in Deutschland irgendjemand | |
| akzeptieren? Nein. Aber so sieht Russlands Reaktion auf den Fall Skripal | |
| aus. | |
| Die Beweise deuten in Richtung Russland | |
| Was bisher geschah: Am 4. März werden der seit 2010 in Großbritannien | |
| lebende und eingebürgerte ehemalige russische Doppelagent Sergei Skripal | |
| und seine aus Moskau angereiste Tochter Julia ganz beziehungsweise halb | |
| bewusstlos auf einer Parkbank im englischen Salisbury gefunden. [1][Sie | |
| werden wegen „mutmaßlichen Kontakts mit einer unbekannten Substanz“ ins | |
| Krankenhaus gebracht], später auch ein Polizist, nachdem er Skripals Haus | |
| untersucht hatte. | |
| Nach zwei Tagen übernimmt die Antiterrorabteilung von Scotland Yard die | |
| Ermittlungen und erklärt am 7. März, es handele sich um einen „Mordversuch | |
| unter Anwendung von Nervengift“. Am Folgetag wird die internationale | |
| Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) entsprechend | |
| informiert. Am 12. März erklärt die britische Regierung, die Ermittler | |
| hätten das Gift als Kampfstoff des Typs Nowitschok identifiziert, der in | |
| Russland entwickelt wurde, und [2][bittet die russischen Behörden um eine | |
| Erklärung], wie dieser Kampfstoff in Großbritannien zum Einsatz kommen | |
| konnte. | |
| [3][Als keine Erklärung folgt], greift die Regierung in London am 14. März | |
| zu vergleichsweise milden Maßnahmen gegen Moskau, als härteste die | |
| Ausweisung von 23 russischen Diplomaten. [4][Die Regierung in Moskau | |
| erwidert dies spiegelbildlich] am 17. März. Die Ermittlungen von Scotland | |
| Yard laufen weiter. Die OPCW ist zur Verifizierung der britischen Befunde | |
| eingeschaltet worden. | |
| So weit, so unspektakulär. Beide Opfer leben noch. Alle Dienstwege werden | |
| eingehalten. Es gibt noch keinen abschließenden Beweis für die Täterschaft, | |
| sondern laufende Ermittlungen. Es besteht nach britischen Angaben aber | |
| Gewissheit über den eingesetzten Kampfstoff und darauf aufbauend eine | |
| Indizienkette, die in Richtung Russland deutet und nirgendwohin sonst. Die | |
| Nachrichtendienste der Nato-Partner haben sich der britischen Einschätzung | |
| angeschlossen. | |
| Verschwörungstheorien und Hysterie | |
| Also wo ist hier die „Hysterie“, die gleichtönend von den russischen | |
| Machthabern und von ihren Freunden in Deutschland beklagt wird? Wohl eher | |
| bei diesen selbst. Nichts anderes als hysterisch kann man es nennen, | |
| [5][wenn selbst seriöse Journalisten in Deutschland] die Forderung nach | |
| Solidarität mit Großbritannien als „für die Briten in den Dritten Weltkrieg | |
| ziehen“ und „Lieber nachschauen, ob unsere Panzerkanonen einsatzbereit | |
| sind“ karikieren. | |
| Die russische Botschaft in London zieht alle rhetorischen Register. | |
| Großbritanniens Anschuldigungen seien „grundlos“ und „beweisfrei“, die | |
| Diplomatenausweisungen „provokant“ und „fahrlässig“ – Letzteres eine | |
| Vokabel, die eine Drohung beinhaltet, ohne sie auszusprechen. In Moskau | |
| wird die britische Forderung nach Aufklärung als „Ultimatum“ dargestellt | |
| und auf Präsident Putins Ankündigung einer neuen Generation von Atomwaffen | |
| verwiesen. Und es wird Verwirrung gestreut, damit in der Öffentlichkeit am | |
| Ende Verwirrung hängen bleibt. | |
| Innerhalb weniger Tage haben offizielle russische Stellen und kremlnahe | |
| Medien Folgendes behauptet: Nowitschok hat nie existiert; die Russen haben | |
| es nie hergestellt; alle russischen Programme wurden beendet und Bestände | |
| vernichtet; der Westen übernahm es; Großbritannien, die Slowakei, | |
| Tschechien und Schweden haben vielleicht Nowitschok-Bestände; als einziges | |
| Land hat Iran Nowitschok hergestellt. | |
| Im verschwörungstheoretischen Umfeld kommen dann noch Absurditäten dazu: | |
| Israel war’s, oder die ganze Sache ist ein Komplott, um den Brexit zu | |
| stoppen. Ganz zu Beginn verplapperte sich übrigens die Sprecherin des | |
| russischen Außenministeriums, als sie sagte, niemand werde je herausfinden, | |
| was in Salisbury passiert sei. | |
| Jetzt bloß keine Kompromisse eingehen | |
| Wieso fallen Politiker und Meinungsmacher auf die Moskauer Masche herein? | |
| In der deutschen Realität wären Leute, die sich so verhalten wie der | |
| eingangs geschilderte fiktive Fahrflüchtige entweder Bandenbosse in der | |
| Unterwelt oder Reichsbürger. | |
| Auch Russlands Regierung geriert sich im Fall Skripal – und nicht nur dort | |
| – als internationaler Reichsbürger, der einer verflossenen Zeit | |
| nachtrauert, die Gegenwart nicht anerkennt und ausschließlich | |
| selbstgesetzte Regeln akzeptiert. Dagegen hilft nur: unbeirrt bleiben; die | |
| eigenen Interessen verteidigen; keine Kompromisse eingehen, die gültige | |
| Normen aufweichen – und sorgfältig auf Recht und Gesetz achten, um sich | |
| nicht auf das Niveau der Gegenseite zu begeben. | |
| 20 Mar 2018 | |
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| Dominic Johnson | |
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