# taz.de -- Anschlag auf Agenten in England: Woher kam das Gift? | |
> Der Ermittlungsstand macht eine russische Täterschaft für die Vergiftung | |
> des Agenten Skripal wahrscheinlich. Russlands Angaben sind | |
> widersprüchlich. | |
Bild: May bei einem Besuch des Pub „The Mill“ in Salisbury, in dem Nervengi… | |
BERLIN taz | Die Kontroversen über den mutmaßlich russischen | |
Nervengiftanschlag in Großbritannien dauern an. Es geht vor allem um die | |
Frage, ob es Beweise für die offizielle Darstellung gibt, wonach Russland | |
für den Anschlag verantwortlich ist. | |
Sergej und Julia Skripal, ein 2010 an Großbritannien ausgelieferter | |
ehemaliger russischer Doppelagent und seine aus Moskau angereiste Tochter, | |
wurden am Nachmittag des 4. März von Passanten auf einer Parkbank im | |
südenglischen Salisbury gefunden, die Tochter bewusstlos, der Vater im | |
Delirium. Sie befinden sich bis heute in kritischem Zustand im Krankenhaus. | |
Am 8. März informierte die britische Regierung die internationale | |
Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), dass Untersuchungen | |
zufolge die beiden Kontakt mit einem Nervenkampfstoff hatten. | |
Am 12. März erklärte Premierministerin Theresa May vor dem britischen | |
Parlament, die Untersuchungen am militärischen Forschungslabor von Porton | |
Down bei Salisbury hätten ergeben, dass „ein Nervenkampfstoff militärischer | |
Stärke eines von Russland entwickelten Typs, Teil einer als Nowitschok | |
bekannten Kampfstoffgruppe“ zum Einsatz gekommen sei. Da „Russland in der | |
Vergangenheit diesen Kampfstoff produziert hat und dazu noch in der Lage | |
sein dürfte“ und es Präzedenzfälle gebe, sei Russlands Verantwortung „ho… | |
wahrscheinlich“. | |
## „Kein anderer Schluss möglich“ | |
Russlands Regierung wurde per Einbestellung des Botschafters in London | |
gebeten, bis zum 13. März zu erklären, wie dieser Kampfstoff in Salisbury | |
zum Einsatz kommen konnte, und „sofortige, volle und komplette Offenlegung | |
des Nowitschok-Programms“ an die OPCW zu leisten. Als Russland die | |
geforderten Antworten nicht lieferte, erklärte May am 14. März im | |
Parlament, es sei nun kein anderer Schluss möglich als der, dass Russland | |
die Schuld trage, und kündigte Strafmaßnahmen an. | |
Russische Gegenmaßnahmen stehen noch aus, aber russische Antworten gibt es | |
in großer Menge. Sie laufen darauf hinaus, jede Verantwortung | |
zurückzuweisen, zugleich aber Skripal als „Verräter“ darzustellen, der ke… | |
anderes Ende erwarten könne. Großbritannien wird vorgeworfen, keine Beweise | |
vorzulegen und sich nicht an die Regeln der OPCW zur Aufklärung zu halten. | |
Wie das Außenministerium in London am Sonntag bekanntgab, werden am Montag | |
Experten der OPCW aus Den Haag in Großbritannien eintreffen, um nach | |
Konsultation mit den britischen Behörden Proben des mutmaßlich beim | |
Anschlag verwendeten Kampfstoffes sowie damit verunreinigter Materialien | |
abzuholen und in internationalen Labors ihrer Wahl untersuchen zu lassen, | |
um die britischen Ermittlungsergebnisse zu überprüfen. Die Prüfung werde | |
mindestens zwei Wochen dauern. | |
Die bisherigen britischen Ermittlungen sind nicht in allen Einzelheiten | |
öffentlich, was auch normal ist. Die Einhaltung der OPCW-Regeln und eine | |
Kooperation mit der Organisation bestehen hingegen sehr wohl. Das Labor in | |
Porton Down ist bei der OPCW akkreditiert, ihr werden nach britischen | |
Angaben Proben zur Verfügung gestellt, und eine unabhängige Untersuchung | |
durch die OPCW wurde eingeleitet. | |
## Kampfstoff aus den 80ern | |
Mit Nowitschok (Neuerung) wird eine neue Generation chemischer Kampfstoffe | |
bezeichnet, die ab 1982 in der Sowjetunion und später in Russland | |
entwickelt wurde. Der russische Militärchemiker Wil Mirsajanow enthüllte | |
dieses Programm 1992 bei seiner Flucht in die USA; er wurde in der Heimat | |
wegen Geheimnisverrats angeklagt – eine indirekte Bestätigung seiner | |
Enthüllungen. | |
Die Zusammensetzung der Kampfstoffe dürfte seitdem auch westlichen | |
Geheimdiensten bekannt sein; das wäre die Grundlage, einen von ihnen | |
identifizieren zu können, aber nicht unbedingt ausreichend, sie selbst | |
herstellen zu können, sagt der Chemiker John Lamb. | |
Russland verkündete später die Beendigung des Forschungsprojekts und die | |
Zerstörung aller Nowitschok-Bestände. Da diese zuvor nie deklariert wurden, | |
gibt es dafür aber keine Gewissheit. Der wissenschaftliche Beirat der OPCW | |
sagt, es lägen nicht genug Informationen vor, um sich zur Existenz der | |
Kampfstoffe zu äußern. Am Freitag erklärte die OPCW, kein Staat habe je | |
Nowitschok deklariert. | |
Skepsis an der amtlichen britischen These gründet auf der Annahme, dass der | |
Nachweis eines bestimmten Kampfstoffes nur durch Abgleich mit einer bereits | |
vorhandenen Probe dieses Kampfstoffes möglich sei, es also in Porton Down | |
ebenfalls Nowitschok geben müsse und daher der Stoff nicht zwangsläufig aus | |
Russland komme. | |
Der Chemiker Clyde Davies widerspricht: Zur Feststellung der chemischen | |
Zusammensetzung eines Stoffes sei keine Vergleichsprobe nötig, sondern die | |
Isolation einzelner Moleküle und ihrer Verbindungen. Eine | |
Massenspektrometeranalyse könne darüber hinaus Verunreinigungen und andere | |
Merkmale der konkreten Zusammensetzung feststellen, die unter anderem die | |
geografische Herkunft einer Substanz eingrenzen könnten. Es ist anzunehmen, | |
dass dies in Porton Down erfolgt ist. | |
Andere kritische Fragen beziehen sich auf den Hergang des Anschlags. Konnte | |
wirklich ein russischer Agent Nowitschok-Bestandteile nach Großbritannien | |
bringen, die tödliche Substanz ohne Laborzugang zusammenmischen und | |
irgendwie heimlich verabreichen? | |
Ermittler vermuten inzwischen, dass der Kampfstoff Julia Skripals Gepäck | |
zugefügt worden sein könnte, bevor sie am 3. März aus Moskau nach London | |
flog, um ihren Vater in Salisbury zu besuchen, und somit erst später mit | |
den Körpern der beiden in Kontakt geriet. Dies würde auch erklären, warum | |
der Polizist, der als erster Skripals Haus in Salisbury untersuchte, | |
ebenfalls tagelang in kritischem Zustand ins Krankenhaus kam, die | |
behandelnden Mediziner im Park aber nicht. | |
18 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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