# taz.de -- „Minatomachi“ im Berlinale-Forum: Radikales Beobachten | |
> Kazuhiro Sôda erzählt in seinem Dokumentarfilm vom dörflichen Leben in | |
> Japan. Seinen Protagonisten ist er beeindruckend dicht auf den Fersen. | |
Bild: Fischer Wai Chan ist 86 Jahre und macht alles selbst (Filmstil aus „Min… | |
Die Kamera befindet sich auf Kniehöhe. Ozu-Höhe, könnte man sagen, denn man | |
kennt diese Perspektive vom japanischen Meisterregisseur Ozu Yasujirō. | |
Anders aber als bei jenem – dessen wunderbarer „Tokyo Boshoku“ im Übrigen | |
in der „Berlinale Classics“-Reihen in unvermeidlich digital restaurierter | |
Fassung läuft –, steht sie hier kaum mal still, sondern ruckelt, hastet, | |
sucht, beruhigt sich und verweilt dann, liegt auf Grund, blickt hinauf, | |
manchmal direkt gegen die Sonne, zieht weiter. | |
Es ist die Handkamera von Kazuhiro Sôda. Diese ist dem Protagonisten des | |
eindrücklichen Dokumentarkleinods („Minatomachi/Inland Sea“) dicht auf den | |
Fersen. Die Bewohner von Ushimado, jenem Dorf in Seto-Inlandsee, das hier | |
verewigt ist (eigentlich Shohei-Imamura-Territorium), sind anders als die | |
vielen süß-trägen Katzen höchst rührig, trotz ihres hohen Alters. Sie | |
schlagen Haken – und äußern manchmal überraschende Gedanken. Ihre | |
Schicksale und Sehnsüchte, im bewusst Bescheiden-Kleinen, sind ebenfalls | |
eines Ozu Yasujirō würdig. Gerade, was die Ökonomie des Daseins betrifft. | |
Wenn die Füße mal anhalten, arbeiten ihre Hände, führen Bewegungen aus, | |
eingeübt seit Jahrzehnten. | |
Sôda, angereist aus New York, wo er mit Gattin Kiyoko Kashiwagi, der | |
Produzentin des Films, seit Jahren lebt (ihre Mutter kommt aus Ushimado), | |
beobachtet sie allzu geduldig: Den Fischer Wai Chan, 86, der alles im | |
Alleingang macht, Netze flickt, das Boot in Schwung hält und nachts | |
rausfährt, Kugelfische, Aale, sogar Blaumäulchen fängt. Seine Geräte sind | |
teuer, während der Preis für die Fische sinkt, obwohl er sie noch lebend | |
liefert, kommt er kaum zu Rande, was ihm nicht aufs Gemüt zu schlagen | |
scheint. | |
Oder die Fischverkäuferin Koso-san, auch im „bereits fortgeschrittenen | |
Alter“, bei der Versteigerung der in Kisten sortierten Ware („Viel | |
Kugelfisch … schmeckt nicht“), wo sie sich gegen die Männer durchsetzt, | |
über die Fisch-Auslösen-Verpacken-und-Beschriften-Routine bis hin zur | |
Haus-zu-Haus-Lieferung im flotten Caddy mit Anhänger. Diese Gelegenheit | |
nutzt Sôda dann zu einem kurzen Blick in die Interieurs der etwas | |
Betuchteren. | |
Zehn Gebote hat Sôda einst für dokumentarisches Arbeiten aufgestellt, sein | |
Credo ist das radikale Beobachten, ohne Voreingenommenheit, Plan, | |
Recherche, Erwartung. Zufall, Zeit und Reaktion (als Dialog) bedingen das, | |
was hier stattfindet: Begegnung. So wird aus der schrulligen | |
Straßenkatzenliebhaberin Frau Kubota eine die Inselgenerationen | |
verbindende, fast rätselhaft freundschaftliche Mutter. | |
Und aus dem leicht verrückten Dorfklatschweib, Kumi-san, 84, die sich meist | |
am Hafen aufhält, alles und jeden kommentiert und gleich zu Beginn ins | |
Filmbild drängt (welches sie bis zuletzt usurpieren wird), eine tragische | |
Heldin. Was sie am Ende offenherzig erzählt, erstmals in ihrem Leben | |
vielleicht, ist bitter. Eine Geschichte, die Sôda, Kritiker des Abe-Japan, | |
sozialpolitisch sicher interessiert, hier aber eine neue Dimension an | |
intimer Emotionalität erreicht. | |
24 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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