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# taz.de -- Kino in der Provinz: Aus Liebe zum Lichtspieltheater
> Nach Gesetzen der Marktwirtschaft hätte das „Burg Theater“ in
> Sachsen-Anhalt längst Pleite sein müssen. Doch es lebt – seit 107 Jahren.
Bild: In der guten Stube von Burg: Fred Kunikowski an der Bar
Burg taz | „Ausverkauft? Echt jetzt?“ Der Typ, Hände in den Taschen, will
es nicht glauben. „Bis auf den letzten Platz!“, sagt Florian Weiser. Keine
Chance? „Brandschutz“, bedeutet Weiser und zuckt mit den Schultern. „Was
ist, wenn ausgerechnet heute eine Kontrolle kommt?“ Eigentlich könnte
Weiser jubeln, dass das Kino voll ist – mitten in der Woche und bei einem
Dokfilm mit Überlänge. Das hier ist schließlich nicht die Hauptstadt im
Berlinale-Fieber, sondern die Kreisstadt Burg in Sachsen-Anhalt.
Weiser hatte vor einer halben Stunde noch frohlockt, dass schon 107 Karten
im Vorverkauf raus sind – bei 153 Plätzen insgesamt. Und jetzt steht er da
wie eine Eiche und darf sich nicht erweichen lassen. An der Flügeltür mit
ihren nierenförmigen Griffen ist für Nachzügler Schluss. Über das Gesicht
von Florian Weiser huschen daher ganz widersprüchliche Gefühle. Es ist wie
in jedem gelungenen Film: Lachen und Weinen liegen dicht beieinander.
Der 36-Jährige ist Vorstandsmitglied vom „Weitblick e. V.“. Der Verein hat
vor acht Jahren das Kino vor dem sicheren Tod bewahrt. Viele in der Region
erfreut das seitdem, Weiser allerdings, der tagsüber in der Kreisverwaltung
arbeitet, bürdet es jetzt diese Last auf. Wer schickt schon gern Besucher
nach Hause? „Wir zeigen ihn bestimmt nochmal!“, ruft Weiser den Abziehenden
hinterher.
Hatte es bei irgendeinem noch Zweifel gegeben, so viel ist jetzt klar:
Dieses Kino, das „Burg Theater“, das nach den Gesetzen der Marktwirtschaft
längst hätte pleite sein müssen, lebt – und das seit 107 Jahren. Es ist
eines der ältesten in Europa. Und es ist seit 2010 ein gemeinnütziges
Projekt, nahezu ausschließlich von Ehrenamtlichen getragen, und mit einem
Programm zwischen Arthaus und Mainstream, das regelmäßig um die 15.000
Besucher im Jahr anlockt – in einer Stadt mit nur 22.000 Einwohnern.
## Das „Walhalla“ brannte ab
Es ist der älteste erhaltene Kinobau in Deutschland und wird seit 1911
ununterbrochen bespielt, präzisiert Florian Weiser, der Filmvorführer des
heutigen Abends. Es gibt einige Kinos, die noch älter sind, etwa das
„Pionier“ in Stettin, das vor einigen Jahren im Guinness-Buch als das
„älteste Kino der Welt“ gewürdigt wurde. Tatsächlich wurde es schon 1907
eröffnet, allerdings in einem bestehenden Haus, so wie auch das Moviemento
in Berlin. Otto Wohlfarth begann 1908 genauso. Er eröffnete in Burg sein
erstes Kino, das „Walhalla“, in einem Geschäftshaus. Nach zwei Jahren
brannte „Walhalla“ ab. Für Wohlfarth die Chance, in Burg etwas ganz Großes
aufzuziehen.
Am 3. Juni 1911 annonciert er die Eröffnung des „ersten, größten und
elegantesten Spezial-Lichtspiel-Theaters in der Provinz Sachsen“. Ganz im
Stile der wilhelminischen Ära trägt Wohlfarth dick auf: „Im großen Ganzen
kann ich mit Stolz behaupten, dass ich für Burg ein Theater geschaffen
habe, welches sich mit jedem Weltstadt-Lichtspiel-Theater messen kann und
in vieler Beziehung dasselbe noch übertrifft.“ Wohlfarths Palast-Theater
verfügt über einen Generator, Ventilatoren und eine Sprinkleranlage. Das
neue Kino bietet kein „Kientopp“ mehr, sondern die modernste aller Künste …
den Film. Zur Eröffnung gibt es „Charleys Tante“ und einen „Spaziergang
durch das alte und neue Rom“.
Die Burger sind vom Theater begeistert. Als Wohlfarth im Oktober 1912 den
„Totentanz“ zeigt, ein Liebesdrama mit Asta Nielsen als treue Ehefrau, die
einem allzu aufdringlichen Galan ein Messer in den Leib rammt, mahnt er:
„Infolge des zu erwartenden Andrangs bitte ich um rechtzeitigen Besuch.“ So
hätte das heute auch Florian Weiser sagen können. 650 Klappstühle hatte
Wohlfarth in den Saal stellen lassen, jetzt sind es im Parkett nur noch 116
samtschwarze Polster, dafür mit verschwenderischer Beinfreiheit. Doch an
diesem Tag könnten es doppelt so viele sein.
## Zelluloid ist Geschichte, auch im „Burg Theater“
Die Reportage „Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt“ von zwei
Filmemachern aus Freiburg, die dreieinhalb Jahre um den Globus zogen, die
Kamera immer dabei, hat Interessierte angelockt, wie es im Advent sonst nur
die „Feuerzangenbowle“ vermag – dabei hat der Verein gar nicht groß
geworben.
Weiser ist eine Treppe hinauf, lugt durch das Fenster in den Saal, hockt
sich neben den Digitalprojektor und blickt prüfend auf den Bildschirm.
Zelluloid ist Geschichte, erzählt Weiser, vom Dimmen des Lichts bis zum
Abspann ist alles digital programmiert. Der Film kommt per Post auf
Festplatte. Ein Mausklick, und Weiser könnte starten. Wenn nur im Saal
langsam Ruhe einkehrte.
Bernd Goldbach kämpft sich dort eine Menschentraube. Goldbach, ein
drahtiger Mann, ist der Vereinsvorsitzende von „Weitblick“, der jetzt, fast
wie entrückt, ins Parkett blickt, auf die Samtvorhänge und die mächtigen
Leuchter. Manchmal scheint es auch für die Akteure wie ein Wunder, dass es
dieses Kino noch gibt. Dabei ist Bernd Goldbach eigentlich ein Mann der
Nüchternheit und Präzision. So ist es Alltag in seinem Hauptberuf als
Oberarzt am hiesigen Kreiskrankenhaus und Leiter der Unfallchirurgie. Es
sind zwei Welten, zwischen denen er sich seit Jahren hin und her bewegt.
Und wenn man so etwas wie einen architektonischen Grund sucht, warum das
Kino überlebt hat, dann ist es gewiss die Kinobar, ein gastronomisches
Erbstück aus DDR-Tagen. Oberhalb des Parketts gelegen, freier Blick zur
Leinwand, ist sie so groß wie ein Konferenzraum und doch intim wie ein
Séparée – 37 rote Sessel, alle längst besetzt, nummerierte Tische und
Lampenschirme wie Pilze. Bis auf den Fußboden ist alles, salopp formuliert,
original Honecker 1986. Da hieß das Kino „Theater des Friedens“.
## Die Insel über dem Parkett: die Kinobar
Der Ufa-Gong ertönt und verströmt – halb Tagesschau, halb Kirche – seinen
geradezu kosmischen Zauber. Vorn rollen bald rollen russische Lastwagen
über die Leinwand, hinten schwebt die Kinobar wie eine tiefrote Insel über
dem Parkett. Mit Freunden zusammen hocken, sich vom Tresen Bier oder Wein
bringen lassen und Filme schauen. Kein Cinemaxx, kein Multiplex, kein
Netflix kann diesen Luxus bieten – nur das „Burg Theater“. Nebenbei bringt
der Barbetrieb auch noch den nötigen Umsatz.
Warum sie das hier macht? Sabine Hesse steht hinterm Tresen und zögert
nicht lange. „Das ist schon wie ein zweites Zuhause“, sagt sie. „Ich mache
hauptsächlich Bar, kann aber auch Filmvorführerschichten übernehmen.“ 2013
zog sie nach Burg, arbeitet, wie Florian Weiser, in der Kreisverwaltung.
Wenig später gehörte sie zum Verein.
Ihr Kollege Fred Kunikowski ist ein Mann mit silbrigem Haar, silbernem
Pullover und einem Goldkettchen um den Hals. Kunikowski, Jahrgang 1954, ist
zwar Rentner, hier im Team aber noch ein Jungspund. Gerade erst ein
Dreivierteljahr ist er dabei. „Wenn man hier ist, lernt man eigentlich
Filme erst richtig kennen und schätzen“, sagt er über seine Motivation. Man
stehe schließlich nicht bloß hinterm Tresen und verkaufe Bier. Gerade hat
es ihm „Dieses bescheuerte Herz“ angetan, ein tragikomischer Streifen, der
gestern, es war ein Dienstag, immerhin 75 Besucher anlockte.
Der Witwer muss eine Weile überlegen, wie es wohl war, als das Kino 2010
vor dem Untergang bewahrt wurde. So viel ist klar, der alte Besitzer, ein
Filmvorführer ganz alter Schule, konnte das Kino, zuletzt im
Ein-Mann-Betrieb, nicht mehr halten. Kunikowski kam mit seiner Frau damals
regelmäßig hierher. Oft genug war der Saal menschenleer. Eines Tages habe
der Eigentümer ein Schild angebracht: Kino abzugeben. Es klingt wie ein
letztes verzweifeltes Echo auf Otto Wohlfarths kühne Idee – und birgt
selbst Stoff für einen Film.
„Aus Altersgründen steht das Grundstück einschließlich Kino am Jahresende
zum Verkauf. Interessenten bitte im Kino vorsprechen“, liest Emanuel
Conrady vor. So war der genaue Wortlaut der Annonce. Und nicht auf die
Straße hatte sie der korrekte Herr gestellt, sondern in den Schaukasten
gehängt. Conrady muss den Text immer noch auf dem Schreibtisch liegen
haben, so schnell hat er ihn bei der Hand. Sieben junge Leute waren sie
2009, die sich davon angesprochen fühlten, erzählt er. Es war auf einer
Party der katholischen Jugend. Nach dem zweiten Bier gab es die erste Idee,
nach dem vierten begannen sie zu spinnen, nach dem sechsten schmiedeten sie
Pläne. Wenig später standen sie im Kino.
## Wie aus einer irren Idee ein großartiges Projekt wurde
Der alte Kinobesitzer, Wilfried Schlaak sein Namen, schickt die
Grünschnäbel nicht fort. Im Gegenteil: Er unterrichtet sie in Technik und
Buchführung, lehrt sie, wie man Filme bestellt, schneidet und einlegt, und
lässt sich überreden, den Betrieb so lange aufrechtzuerhalten, bis die
Enthusiasten das wirtschaftliche, das künstlerische und das bauliche
Konzept zusammen hatten. Dann aber ist es so weit: Der „Weitblick e. V.“
ist geboren.
Was folgt, sind Baugerüste, kahle Wände, Tapetenreste und jede Menge
Müllsäcke. Am 10. September 2010 ist Neueröffnung: „Dirty Dancing“, der
DDR-Kassenschlager des Sommers 1989. Das neue Programm bietet aber nicht
nur Mainstream, sondern anspruchsvolles europäisches Kino. Es laufen
thematische Reihen, wie etwa zu Defa-Filmen. Es gibt Filme in
Originalsprache, das Schulfilmfestival „Britfilms“, Kino für Senioren, Kino
für junge Eltern mit Krabbelstube. Es finden sich Sponsoren, Handwerker,
Kommunalpolitiker, Unternehmer. Die Stadtwerke bezuschussen das Ferienkino,
sodass Schulkinder für nur einen Euro hineinkommen. Das Kino bietet Platz
für die Interkulturelle Woche, es geht auf Flüchtlinge zu. Die Burger JVA
vor den Toren der Stadt will ihren Gefängnischor hier auftreten lassen.
Die Besucherzahlen verdoppeln, verdreifachen, vervierfachen sich. Der
Verein wächst. Das Kino wird, mit Fördergeldern und Spenden, Schritt für
Schritt renoviert. Das historische Ambiente bleibt erhalten, die Technik
wird erneuert. 2014 zieht der Digitalprojektor ein, Kostenpunkt 61.000
Euro. Das „Burg Theater“, so heißt es fortan, auch in Anspielung auf das
berühmte Theater in Wien, wird mit Preisen geehrt. Das Kino ist
Kulturzentrum, Treffpunkt und historisches Juwel in einem. Das Wachstum ist
atemberaubend. Und das, so ist herauszuhören, bereitet Conrady Sorge. Ein
Kino dauerhaft zu führen, sagt er, könnte, bei allem Engagement, die Kräfte
übersteigen. Zwar gibt es inzwischen eine fest angestellte Leiterin für
Planung und Buchhaltung, für den Kinobetrieb reiche das aber nicht aus,
fürchtet er. Ehrenamt stoße irgendwann an Grenzen.
Emanuel Conrady hat sich vor einiger Zeit zurückgezogen, wie die ganze
siebenköpfige „Gründergeneration“. Nicht aus Groll, versichert Conrady.
Studium und Job hat die Truppe erst einmal zerstreut – Berlin, Erfurt,
Trondheim. Conrady, der in Erfurt Theologie studiert hat, ist inzwischen
nach Burg zurückgekommen und hat, in unmittelbarer Nachbarschaft des Kinos,
sein eigenes Projekt verwirklicht, den „Rotfuchs“, ein Mischung aus
Kulturcafé und Laden mit regionalem Bioprodukten. Denn eines hat das Kino
bewiesen: „Es gibt auch im ostdeutschen ländlichen Raum Leute, die etwas
unternehmen wollen und die einen intellektuellen und kulturellen Anspruch
haben“, sagt Conrady. „Das geht bis hin zur Getränkekarte.“ Was fehlt, s…
Orte. Burg hat jetzt schon zwei.
## Die gute Stube von Burg
„Danke, war’n schöner Abend!“ Schulterklopfen, Händeschütteln. Florian
Weiser steht wieder an der Tür mit den Nierengriffen. Diesmal strebt alles
nach draußen, diesmal ist Weiser ganz entspannt. Es dauert, bis sich über
150 Besucher wie Nachtschwärmer in den Burger Straßen verlieren. Oben in
der Kinobar lässt sich Bernd Goldbach in einen der Sessel fallen. Jetzt ist
er ganz allein hier. Mit den Grafiken an den Wänden wirkt es tatsächlich
wie eine gute Stube.
Die Bilder zeigen Burger Stadtmotive, etwa den Hexenturm oder den Trommler,
der sich einst in unterirdischen Gängen verlaufen haben soll. Jedem Motiv
ist ein Wort zugesellt wie ein Seufzer. Oder wie ein Stoßgebet. Beim
Hexenturm heißt es: „Befreit!“ Beim Trommler: „Verlaufen!“ Auf einem d…
Bilder ist das Kino zu sehen. Auf seinem Dach balanciert, recht übermütig,
ein Mensch, einen Strauß Luftballons in der Hand. Fast scheint er
abzuheben. Daneben steht: „Gerettet!“
12 Feb 2018
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
Sachsen-Anhalt
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Kino
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