# taz.de -- Legendäres Filmtheater in Berlin: „Wir haben hier einen Geist“ | |
> Am Wochenende feiert das Stummfilmtheater Delphi Wiedereröffnung. Ein | |
> Gespräch mit den beiden Kinochefs über Patina, Übersinnliches und die | |
> Nachbarn. | |
Bild: „Wir dagegen wollen divers und offen für Experimente sein, Film, Musik… | |
Auch im Kino gibt es Wiederholungen: Dieses Gespräch wurde im Februar 2017 | |
geführt, noch vor dem Beginn der Sanierungsarbeiten. | |
taz: Frau Stinehelfer, Herr Schneider, mögen Sie Kino? | |
Brina Stinehelfer: Ja, sehr. Es ist immer eine Reise. Man darf ein paar | |
Stündchen aus dem Alltag fliehen. | |
Nikolaus Schneider: Aber Kino ist nicht der Grund ist, warum wir heute hier | |
sitzen. | |
Stinehelfer: Nikolaus kommt aus der klassischen Musik, ich komme aus dem | |
Theater. | |
Schneider: Als wir 2011 hier rein sind, habe ich sofort ein Theaterstück in | |
diesem Raum gesehen. Wir waren auf der Suche nach einem Ort, der bespielt | |
werden muss. Und danach hat der Raum förmlich geschrien. Kino ist hier nur | |
vor allem ein Erbe. Also der Stummfilm, wie er auch hier in der Filmstadt | |
Weißensee entstanden ist, in Klein Hollywood, das Weißensee ja bis Ende der | |
zwanziger Jahre war. | |
Aber Sie zeigen an diesem Ort trotzdem auch Filme? | |
Schneider: Wenn ich aktuelle Hollywood-Filme sehen will, gehe ich ins | |
Multiplex. Da ist die passende Cinemascope-Leinwand, da gibt es das | |
entsprechende Sound-System. Wenn wir hier einen Film zeigen, dann eher | |
Stummfilme mit Livemusik, dafür hat unsere Leinwand auch das entsprechende | |
Format. | |
Stinehelfer: Oder im Rahmen eines Events. | |
Schneider: Oder einen experimentellen Film, wo der Raum mitspielt. | |
Stinehelfer: Wir sind viel mehr als ein Kino. | |
Dennoch strahlt dieser Ort dermaßen viel Kino aus, dass man fast ein wenig | |
wehmütig wird. Es wird einem wieder bewusst, wie wenig Atmosphäre | |
Multiplexe haben. Und wie wenig die Flucht aus dem Alltag heute noch als | |
gesellschaftliches Event zelebriert wird. | |
Stinehelfer: Im Delphi wurden auch nach dem Ende des Stummfilms bis in die | |
fünfziger Jahre hinein nicht nur einfach Filme gezeigt. Es gab immer | |
Begleitprogramm, Musik oder Kabarett. Heute werden Filme eher ohne | |
Atmosphäre gezeigt. Die Kinos sind ein dunkles Loch, eine Black Box. | |
Schneider: Wir dagegen wollen divers und offen für Experimente sein, Film, | |
Musik, Theater und Tanz verknüpfen. | |
Stinehelfer: Und deshalb präferieren wir Projekte, die ein bisschen anders | |
denken. So ein großer Raum erlaubt sehr viel. | |
Schneider: Er zwingt die Künstler geradezu, den Raum zu integrieren. Man | |
kann ihn nicht ignorieren. Er ist immer wieder der vierte Schauspieler auf | |
der Bühne. | |
Also zeigen Sie viele Arbeiten, die für dieses Haus gemacht werden? | |
Schneider: Hauptsächlich. Die Bühne ist überall. Mal bauen die Regisseure | |
ihre Bühne in der Mitte auf, damit sie Kontakt zum Raum aufnehmen, | |
Opernsänger singen vom Rang oder von den Tischen, an welchen das Publikum | |
sitzt. | |
Suchen Sie sich die Projekte oder kommen sie zu Ihnen? | |
Stinehelfer: Beides. Wir bekommen mehr Anfragen, als wir bearbeiten können. | |
Schneider: Wir sind ehrlich gesagt im Moment fast ein bisschen überfordert. | |
Haben Sie Angst, dass Sie wegen des Ortes auf die Goldenen Zwanziger | |
festgenagelt werden könnten? Oder auf das Berlin der Neunziger, in dem noch | |
alles möglich war? | |
Schneider: Man muss ein wenig aufpassen, auch viele Anfragen ablehnen, um | |
das Klischee nicht zu sehr zu bedienen. Der Raum darf nicht nur für das | |
coole Berlin stehen – das Berlin, das allmählich verschüttgeht. Es dürfen | |
nicht nur die Location Scouts kommen und die Hipster, die aus London | |
herfliegen, an diesem Ort einen Abend verbringen und dann wieder nach Hause | |
fliegen. Stattdessen geben wir hier Opern wie „Hoffmanns Erzählungen“ oder | |
„La Bohème“ einen Raum. Oder wir hatten auch die Anfrage, ob hier ein | |
Science-Fiction gedreht werden darf. Es muss nicht immer das Plakative | |
sein. | |
Das Haus ist auch heute noch von außen kaum als Kino erkennbar. | |
Schneider: Die meisten Nachbarn wissen nicht, was sich hinter der Fassade | |
verbirgt. Wir haben ja nur sporadisch offen. Und wenn ich draußen den | |
Bürgersteig fege, höre ich die absurdesten Geschichten. | |
Welche denn? | |
Schneider: Die Leute denken beispielsweise, hier sei ein Swingerclub drin. | |
Stinehelfer: Oder ein Puff. Wegen der roten Vorhänge in den Fenstern. | |
Wir sind hier in Weißensee, an einem Ort, der bis auf das Kunst- und | |
Kulturzentrum Brotfabrik gleich gegenüber am Caligariplatz und Ihr Haus | |
kulturell gerade kaum eine Rolle spielt. | |
Schneider: Wir betrachten das als eine Chance. Wenn man sich traut, hier | |
mal durch die Straßen zu gehen, dann findet man auch was. Zum Beispiel | |
immer mehr Ateliers. | |
Woher kommt Ihr Publikum? | |
Stinehelfer: Zu Beginn kam es vor allem aus dem Umfeld der freien Szene, | |
eher Neukölln und Wedding, heute mischt es sich immer mehr. | |
Schneider: Zu klassischen Theatervorstellungen wie „Hamlet“ kam der größte | |
Teil des Publikums aus direkter Nachbarschaft in Weißensee. | |
Leute, die das Delphi noch als Kino erlebt haben? | |
Stinehelfer: Teilweise schon. Wir hatten Besucher, die sich noch erinnern | |
konnten, wo das Popcorn stand. Einer hat uns erzählt, dass die Bögen im | |
Bühnenraum in unterschiedlichen Farben beleuchtet waren. Und einige finden | |
es ganz furchtbar, dass wir den Raum so roh lassen und nicht alles rot und | |
golden anstreichen, wie sie es erinnern. | |
Wie haben Sie das Haus gefunden? | |
Schneider: Wir waren hier Silvester 2010 auf einer Privatveranstaltung. | |
Interessant, dass so ein Gebäude dermaßen in Vergessenheit geraten kann, | |
oder? | |
Schneider: Hier war ein Briefmarkengeschäft drin, eine Ausgabestelle einer | |
Wäscherei. | |
Stinehelfer: Ein Gemüselager. | |
Schneider: Die Nationale Volksarmee hatte auch mal ein Lager hier drin. | |
Und damals auf der Silvesterparty, da hat es sofort klick gemacht? | |
Stinehelfer: Sofort. Aber wir hatten nicht von Anfang an vor, den Ort als | |
Kunst- und Kulturort wiederzubeleben. Das hat sich erst später so | |
entwickelt. Zunächst wollten wir für diesen Ort ein Theaterstück | |
entwickeln. So kam es zu „Exposure Berlin“, einer Oper. Sie war inspiriert | |
durch den deutschen expressionistischen Stummfilm und den französischen | |
Surrealismus in den Zwanzigern. | |
Schneider: Wir haben zwei Jahre lang an diesem Stück gebaut, bevor es 2012 | |
aufgeführt wurde. | |
Stinehelfer: Und nach dem Stück haben uns dann viele Menschen kontaktiert, | |
Künstler, die auch gern hier was machen wollten, auch Journalisten, die | |
wissen wollten, wann es das nächste Stück gibt. Tja, und dann haben wir | |
nach und nach den damaligen Besitzer davon überzeugt, dass die Kunst hier | |
einen Ort bekommen muss. Das war nicht ganz leicht, denn er handelt mit | |
Immobilien und hatte natürlich andere Ideen, was er aus dem Ort machen | |
will. | |
Schneider: Am Ende haben wir einen Mietvertrag über 20 Jahre | |
unterschrieben. | |
Stinehelfer: Wenn einem so eine Möglichkeit vor die Füße fällt, dann muss | |
man nach ihr greifen. | |
20 Jahre sind schon eine Ansage, aber inzwischen haben Sie noch einen ganz | |
anderen Vertrag, oder? | |
Schneider: Vergangenes Jahr hat die Edith-Maryon-Stiftung das Haus gekauft, | |
eine Schweizer Stiftung, die auch den Schokoladen und das ExRotaprint | |
besitzt. Mit ihr planen wir einen Erbbaurechtsvertrag, vielleicht über 99 | |
Jahre. | |
Komische Perspektive, oder? | |
Schneider: Es ist ein bisschen schräg, ja. Aber es ergibt schon Sinn. Das | |
Ziel der Stiftung spiegelt unsere Ziele – dass wir hier keinen Hype wollen, | |
sondern langsam und nachhaltig einen Ort für Kunst und Kultur entwickeln. | |
Der Ort soll uns überleben. | |
Was hat die Stiftung überzeugt? | |
Stinehelfer: Ich glaube, es war eine Kombination aus dem Raum und dem | |
Projekt. | |
Schneider: Wir konnten offenbar glaubhaft machen, wie sehr wir hinter dem | |
Ort stehen. | |
Also sind Sie doch verliebt in das Haus? | |
Stinehelfer: Ja, natürlich. Es ist unser Baby. | |
Sie waren, als Sie das Haus gefunden haben, noch nicht lang ein Paar, | |
richtig? | |
Schneider: Nein, ein Jahr erst. | |
Ein Baby aber kann in einer frischen Beziehung auch der Killer sein … | |
Stinehelfer: Wir lieben unser Baby. Sonst würden wir es gar nicht | |
aushalten. Wir haben alles andere in unserem Leben abgegeben. Eine Weile | |
mussten wir unser Künstlerleben aufgeben, inzwischen machen wir aber | |
wieder mehr eigene Projekte. Der Tag hat nur 24 Stunden, und jeder von uns | |
hat eigentlich drei oder vier Vollzeitjobs hier. Nikolaus betreut fast | |
immer den Einlass und hilft bei der Technik, und ich stehe hinter der Bar. | |
Und das ist natürlich nur der kleinste Teil der Arbeit. | |
Haben Sie keine Förderung? | |
Stinehelfer: Noch nicht! Die Förderstrukturen tun sich in unserem Fall | |
schwer, weil wir uns nicht auf eine Kunstform beschränken. Wir sind E und | |
U, wir passen in kein Raster. Daher muss man mit der Kulturpolitik ins | |
Gespräch kommen. Wir müssen hier wirklich sehr viel tun, um zu überleben. | |
Wie geht das überhaupt? | |
Schneider: Im Moment finanzieren wir die kulturellen Veranstaltungen durch | |
kommerzielle Veranstaltungen. | |
Stinehelfer: Firmenveranstaltungen, Filmshootings, solche Sachen. | |
Schneider: Tom Tykwer hat hier im September für seine Fernsehserie „Babylon | |
Berlin“ gedreht. | |
Stimmt die Geschichte, dass auch Quentin Tarantino erwogen hat, hier eine | |
Szene für seinen Film „Inglourious Basterds“ zu drehen? | |
Stinehelfer: Tarantino war hier. Er wollte hier drehen, wozu es dann nicht | |
gekommen ist. Aber er fand hier wohl die Inspiration für das Ende seines | |
Films, als wegen des Zelluloids alles in Flammen aufgeht, heißt es. Wegen | |
unseres Vorführraums. Den konnte man damals wegen der hohen Entzündbarkeit | |
des Zelluloids nur über eine Außentreppe erreichen, die aufs Dach führt. | |
Von da aus gibt es eine Tür zum Vorführraum, der durch eine extrem dicke | |
Mauer vom Saal abgetrennt ist. | |
Ein toller Mythos. | |
Stinehelfer: Es gibt noch einen besseren. Wir haben hier einen Geist. | |
Ach ja? | |
Stinehelfer: Er ist sehr scheu geworden. Es war ihm zu viel los hier. Aber | |
am Anfang war er sehr präsent. | |
Wie hat sich das geäußert? | |
Stinehelfer: Geräusche. Ein Kollege beispielsweise hatte wohl | |
Halluzinationen. Er hatte jemanden an der Bar gesehen, der gar nicht da | |
sein konnte, weil alles zugeschlossen war. Einmal hatten wir auch ein Stück | |
mit einer hochdramatischen, düsteren Szene einer Opernsängerin. Es war ein | |
wenig inspiriert vom „Phantom der Oper“. Und plötzlich flog da eine | |
Fledermaus um ihren Kopf herum, einmal über die Bühne, und verschwand | |
wieder im Bühnenturm. Alle wollten wissen, wie wir das gemacht haben. Sie | |
hielten es für einen Special Effect. Oder dass wir eine trainierte | |
Fledermaus organisiert haben. Aber es ist nur ein Mal passiert. Wir haben | |
die Fledermaus nie wieder gesehen. | |
Das ehemalige Stummfilmkino Delphi hat ja auch was Unzeitgemäßes in seiner | |
Geschichte. Er wurde zu einem Zeitpunkt eröffnet, als die große Zeit des | |
Stummfilms schon vorbei war. Haben Sie Angst vorm Scheitern? | |
Schneider: Wenn wir normalen Kinobetrieb oder ein Restaurant machen würden, | |
dann könnten wir Angst haben zu scheitern. Aber wenn wir uns ständig weiter | |
in der Kulturszene umsehen und immer nach neuen Formen suchen und offen und | |
wach bleiben – dann können wir gar nicht scheitern. Eher haben wir Respekt | |
davor. Respekt vor den Schulden, die wir jetzt auf uns bürden werden, um | |
das Haus zu sanieren. | |
Was soll bei der Sanierung passieren? | |
Schneider: Es geht um grundsätzliche, aber komplizierte Dinge, die man am | |
Ende kaum sehen wird. Eine Entrauchungsanlage, Lärmschutz, Lüftung. Die | |
Patina werden wir nicht übertünchen. | |
Müssen Sie vorübergehend schließen? | |
Schneider: Den ganzen Sommer über. Im Herbst in diesem Jahr wird es dann | |
eine Wiedereröffnung geben. | |
Stinehelfer: Wahrscheinlich auch mit neuem Namen. | |
Warum denn das? | |
Stinehelfer: Das Kino Delphi am Zoo hat seinen Namen als Marke eingetragen. | |
Da gab es etliche Prozesse, zum Glück noch vor unserer Zeit. | |
Wie wird das Haus heißen? | |
Schneider: Das verraten wir noch nicht. | |
1 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
Bert Schulz | |
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