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# taz.de -- Auf der Jagd nach Borstentieren: Wildschweine sind zum Schießen
> Unter Landwirten geht die Furcht vor der Afrikanischen Schweinepest um.
> Abschießen, so lautet die Forderung. Das ist leichter gesagt als getan.
Bild: Dunkler Wald. Ein Schwein! Weg isses
Tief im Wald taz | Brombeerranken schlingen sich um die Beine, Schritt für
Schritt bricht Frank Potröck durch das Gestrüpp, reißt die Dornen an
Hosenbeinen und Jackenärmeln mit. „Hehehehehe“, ruft er, damit ihn die
Schweine, Rehe, Hirsche und wer sonst noch im Dickicht des Waldes liegen
mag, von Ferne hört und sich verdrückt. „Ein frischer Kessel!“, ruft er
über die Büsche zu Andreas, der sich 20, 30 Meter rechts von ihm durch den
Wald arbeitet. Blätter, Zweige und Mulch zu Franks Füßen sind zu einem
kleinen Wall geschoben, in der Mitte ein fast runder Platz auf der Erde, in
dem vor Kurzem noch Wildschweine lagen.
Kessel, so nennen Jäger so ein Wildschweinwohnzimmer, in dem die Tiere
einer Rotte den Tag verbringen. Geschützt von Brombeergebüsch oder zwischen
eng stehenden Fichten finden Frank, Andreas und die anderen Treiber etliche
dieser alten und neuen Kessel an diesem Januarmorgen in einem Wald
nordöstlich von Berlin. Alle sind verlassen. Die Pfade der Tiere führen zu
matschigen Suhlen, zu Fichten und Eichen, an deren Borke sich die Schweine
so häufig gescheuert haben, dass das darunterliegende Holz glänzt. Die Wege
der Wildschweine verraten, dass sie manche Plätze regelmäßig durchstöbern,
den Boden dort immer wieder mit der Nase nach Käferlarven, Regenwürmern,
Wühlmäusen, Eicheln, Bucheckern durchwühlend.
Rund eine Million Wildschweine leben mit Beginn eines jeden Winters in
Deutschland, so genau kann das niemand sagen, denn Wildschweine lassen sich
nicht zählen. Bis zum Beginn der Schonzeit für Bachen, also die weiblichen
Schweine, am 1. Februar schießen Jäger zwischen 500.000 und 700.000 Tiere
jeden Alters und Geschlechts. Die Überlebenden vermehren sich im Laufe des
Jahres wieder. Mit Beginn der neuen Jagdsaison im Herbst streifen deshalb
wieder mindestens eine Million Wildschweine vom Frischling bis zur
Leitbache und dem alten Eber durch die Wälder.
## Die Gefahr aus dem Osten
Landwirte ärgern sich beständig und seit ewigen Zeiten über die Sauen. Sie
durchpflügen Äcker und Wiesen und wohnen im Frühjahr erst im Raps und
ziehen dann ab Juni in den Mais. Der schmeckt selbst den Allesfressern
nicht, doch trampeln sie Pflanzen herunter und leben inmitten der
Maisstängel wie hinter den Palisaden eines Forts.
Doch nun wächst aus dem Ärger über die Wildschweine die nackte Panik. Die
Afrikanische Schweinepest (ASP) droht über Estland, Lettland, Polen und
Tschechien nach Deutschland zu gelangen (siehe Text rechts). Es ist nur
eine Frage der Zeit, wann das erste Schwein mit ASP in Deutschland gefunden
wird.
Die Wildschweine aber stehen im Verdacht, achtlos von Lastwagenfahrern und
Wanderarbeitern aus den osteuropäischen Seuchengebieten weggeworfene
Rohwürste und Schinken zu fressen und die darin enthaltenen ASP-Viren so
ins Land zu tragen. Der Bauernverband fordert daher die Tötung von 70
Prozent aller Wildschweine. Nicht nur im Winter, sondern ständig.
Den ganzen kalten Morgen haben die Treiber kein Schwein gesehen. „Das ist
Jagd“, sagt Andreas, legt die Hand auf den Knauf der Saufeder in der
Lederscheide, die vor seinem rechten Oberschenkel vom Gürtel hängt, ein
Messer, so lang wie sein Unterarm, scharf wie eine Rasierklinge. Wenn ein
Schwein angeschossen ist und er nicht noch mal schießen kann, weil die
Hunde herumspringen, würde er das Tier mit dem Messer erlösen. So weit
kommt es heute nicht.
## Auf den Hochsitzen warten die Schützen
„Das sind hochintelligente Tiere“, sagt Frank Potröck, kräuselt den Mund
anerkennend und nickt. „Zehnmal rausgehen, einmal Erfolg“, sagt er und
meint damit, dass er zehnmal auf dem Hochsitz sitzen kann und dabei nur
einmal ein Tier so sicher sieht, dass er es auch schießen kann. Vielleicht
sieht er auch am zehnten Tag kein Schwein und kein Reh. „Da habe ich Zeit,
einfach einmal in die Natur rein zu hören“, sagt Potröck. Als Kind ist er
mit zur Jagd gegangen, war sein Leben lang bei Treib- und Drückjagden dabei
und hat vor vier Jahren seinen Jagdschein gemacht, eigentlich weil sein
erwachsener Sohn Berufsjäger wurde. „Wenn ich rausgehe, lasse ich meine
Erwartungen zu Hause und gucke, was kommt“, sagt Potröck. Manchmal kommt
ein Specht.
Potröck leitet die Gruppe aus einem Jäger, einer Jägerin, drei Treibern
ohne Jagdausbildung und drei Stöberhunden durch einen Abschnitt der Wälder
von Mathias von Schwerin, der heute zur gemeinsamen Jagd eingeladen hat.
Während Potröck und seine Leute mit den Hunden die Wildschweine, Hirsche
und Rehe dazu bringen, ihren Ruheplatz zu verlassen, warten fünf Schützen
und Schützinnen auf Hochsitzen auf die Tiere. Sechs Teams aus TreiberInnen
und SchützInnen sind an diesem Morgen in verschiedenen Waldabschnitten zu
Gange, ihre orangefarbenen Anoraks, Mützen, Overalls und Westen leuchten
von Weitem durch das fahle Licht des Winterwaldes.
„Ich bitte alle Jäger, beherzt zu schießen“, fordert Mathias von Schwerin
im Morgengrauen die rund 60 Frauen und Männer auf, die auf seinem Hof
nordöstlich von Berlin am Feuer stehen. Er gibt alle jagdbaren Tiere frei,
die die Schützen wirklich verwerten wollen. Also hauptsächlich Rot- und
Damhirsche, Rehe und Wildschweine. „Füchse sind zu schonen!“, steht auf dem
Freigabezettel, den Schwerin für die Jagd in seinen Wäldern an diesem Tag
ausgegeben hat. Er ist Vorsitzender des Ökologischen Jagdvereins
Brandenburg, der grundsätzlich nur die Jagd auf Tiere befürwortet, wenn das
„erlegte Wild einer sinnvollen Nutzung zugeführt“ wird. Die Öko-Jäger ge…
auch nicht auf Trophäenjagd, schießen also einen Hirsch nicht wegen seines
Geweihs.
## Zu viele Rehe lassen keinen Mischwald wachsen
1.000 Hektar Forstflächen besitzt Schwerin in Brandenburg. Daraus will er
einen Wald machen, die Monokulturen von Kiefer und Fichte ohne Unterholz zu
einem artenreichen Mischwald entwickeln, mit Eichen, Buchen, Ahorn,
Lärchen, und was sich sonst von Natur aus ansiedelt. Junge Bäume haben nur
dann eine Chance, wenn sie ausreichend Licht erhalten – und nicht als
zarter grüner Leckerbissen von einem Reh gefressen werden. Da Rehe nördlich
von Berlin außer Autos und Jägern selten einen nennenswerten Feind haben,
liegen sie im Wald dicht an dicht. Und fressen, was ihnen gerade schmeckt,
die zarten Triebe junger Bäume zuerst. Die Naturverjüngung landet im
Rehpansen.
Schwerin hat daher in den vergangenen Jahren selbst geschossen. Und er
veranstaltet mehrere Bewegungsjagden im Jahr. Wildbiologen sagen, dass
Rehe, Hirsche, Wildschweine und die anderen Beutetiere einen solchen
eintägigen Megastress besser verkraften, als wenn sie ständig damit
rechnen müssen, auf einen Jäger zu treffen. Und Jagd- und Waldbesitzer wie
Schwerin haben mit Unterstützung vieler Jäger die Chance, die hohen
Wilddichten zu mindern.
## „Ein PR-Gag“, meint der Jäger
Endlich knallt es im Wald. Ein Schuss. Noch ein Schuss zerteilt die eisige
Ruhe. Noch einer. Frank Potröck, Andreas und die anderen halten inne.
Lauschen in den Wald. Ein Bussard ruft über dem Feld. Schweigend gehen die
Treiber weiter.
Wie die Jäger ständig die Zahl der Wildschweine um die 300.000 Tiere halten
sollen, hat der Präsident des Bauernverbandes nicht gesagt. „Eine blanke
populistische Forderung“, nennt das der Bundesverband der rund 1.000
Berufsjäger in Deutschland. Auch in der Wissenschaft nimmt niemand die
Forderung der Bauernlobby ernst. „Ein PR-Gag“, findet Ulf Hohmann, Leiter
der Forschungsgruppe Wildökologie der Landesforsten Rheinland-Pfalz. Er
forscht seit Jahrzehnten zum Wildschwein und hält es für unwahrscheinlich,
dass die hohen Bestände durch die Jagd dauerhaft verringert werden können.
Dem stimmen traditionelle Jäger und Öko-Jäger zu. Doch Hohmanns
Erkenntnisse teilt die Jägerschaft in zwei Lager, die sich in Foren,
Leserbriefen der Jagdzeitschriften und auf Veranstaltungen bekämpfen. Einig
sind sich die Jäger aller Lager mit den Wildbiologen und Ökologen darüber,
dass zu viele Wildschweine durch weite Teile Deutschlands wühlen. Einig
sind sie sich auch, dass zu viele Mais- und Rapsäcker den Wildschweinen
beste Lebensbedingungen bieten.
Der Streit unter den Jägern beginnt bei der Kirrung: ob also die von Jägern
ausgelegten Futtermaiskolben im Wald die Schweine durch den Winter bringen
und die Jäger so die natürliche Sterberate in der kalten Jahreszeit
verhindern. Ulf Hohmann hat nachgewiesen, dass die Kirrung in manchen
Wäldern einer Fütterung gleicht, die Wildschweine also im Wald gemästet
werden. Richtig los geht der Revierkampf unter den Jägern jedoch, wenn es
um die biologische Ursache der Wildschweinvermehrung geht und – um die
richtige Jagdmethode.
## Schießen die Jäger die falschen Wildschweine ab?
Die Mehrheit der traditionellen Jägerschaft schießt vor allem junge
Wildschweine und niemals die Leitbache. So nennt man das weibliche Tier,
das im Matriarchat der Schweine den Familienverbund anführt. Ihre
Führungsfunktion ist unbestritten. Jäger haben aus ihr jedoch eine heilige
Sau gemacht, ein Schwein mit Mutterkreuz. Seit den 1970er Jahren hat sich
in Deutschland die These unter den Jägern verbreitet, dass die Leitbache
die Fortpflanzungsfähigkeit der jungen weiblichen Tiere in ihrer
Familienrotte unterdrückt. Deutsche Jäger schießen deswegen Frischlinge und
junge Schweine und glauben, damit wirksam in die Vermehrung einzugreifen.
Sie glauben, wenn die Leitbache fehle, setze erst recht das wilde Rammeln
und Begatten ein, weshalb dann noch mehr Wildschweine durch den Wald
laufen.
Diese These ist nicht bewiesen. Und sie gilt nur in Deutschland, wie Ulf
Hohmann nach Sichtung der wissenschaftlichen Literatur zum Wildschwein
herausgefunden hat. Keine spanische, polnische, österreichische oder
italienische Leitbache unterdrückt die Empfängnisbereitschaft ihrer Töchter
in der Rotte. Die europäischen Schweine machen das, was auch deutsche
Leitbachen machen: Sie synchronisieren die Rausche genannte
Empfängnisbereitschaft der weiblichen Tiere. Alle Weibchen einer Rotte
werden deshalb zur selben Zeit rauschig, besamt, trächtig und werfen auch
zur selben Zeit. Das erhöht die Überlebenschance der Frischlinge.
Das „Leitbachen-Paradigma“ nennt Zoologe Ulf Hohmann den deutschen Mythos
um das Führungsschwein. Er vermutet, dass die Idee seit dem 17. Jahrhundert
herumgeistert und sich dann verselbstständigt hat. Gesichert ist, dass
Biologen und Verhaltensforscher aus der DDR die Leitbachen-These kultiviert
haben. Der Schwarzwild-Papst der DDR, Heinz Meynhardt, brachte sie auch in
Westdeutschland unter die Jäger. „Ein sehr bequemes und den Jägern
entgegenkommendes Paradigma“, sagt Hohmann. Denn je mehr Tiere, desto eher
sehen Jäger mal eins und können schießen.
„In der hehren Absicht, die Schweinepopulation zu begrenzen, machen die
Jäger das genaue Gegenteil.“ Sie vermehren die Wildschweine. Hohmann hat
ausgerechnet, dass statistisch eine erfahrene Bache 5,32 Jungtiere im Jahr
aufzieht, eine Frischlingsbache jedoch nur 1,1 Nachkommen durchbringt. Er
hat daher schon 2010 empfohlen, dass die Bundesländer ihre Jagdrichtlinien
überarbeiten. In Rheinland-Pfalz, Brandenburg und fünf weiteren
Bundesländern sind die Leitbachen zum Abschuss freigegeben.
## „Ich sitze fünfmal und sehe viermal nix“
„Der klassische Jäger ist Pächter, dem ist der Zustand des Waldes egal“,
sagt Mathias von Schwerin, schaut vom offenen Hochsitz durch den im Januar
entlaubten Wald und ist zufrieden. Spätestens im Juni sind Büsche und junge
Bäume so dicht, dass er von hier oben kein Tier mehr sieht. Doch auch in
den Monaten mit wenig Laub und Schonzeiten bleibt er tierisch allein. „Ich
sitze fünfmal und sehe viermal nix“, sagt er. Das und die jungen Bäume
sprechen dafür, dass zumindest in Schwerins Wald die Rehe, Hirsche und
Bäume ökologisch auskömmlich zusammenleben. Die Rehe seien heute zwei Kilo
schwerer als vor zehn Jahren, erzählt Schwerin, der das Fleisch über einen
Wildhändler vermarktet und natürlich auch selbst isst. Zwölf Rehe werden am
Abend der Gemeinschaftsjagd von 60 Menschen und zehn Hunden im Kühlhaus
hängen. Ein Damhirsch. 27 Wildschweine, alle weiblichen Sauen mit fünf,
sechs Tieren trächtig.
Es knackt und raschelt auf dem Boden hinter dem Hochsitz. Schwerin fährt
herum. Hündin Hummel springt über Äste. Schwerin schaut wieder in die
Rückegasse und legt die Hände in den Schoß. Da trippelt ein Wildschwein
rechts von ihm über den Weg, verschwindet im Gebüsch. Schwerin springt auf.
Greift das Gewehr, legt an, das Wildschwein trabt zwischen den
Kiefernstämmen rechts hinterm Hochsitz, Schwerin verfolgt die Richtung, das
Auge am Zielfernrohr, den Finger am Abzug. „Kein Kugelfang“, sagt Schwerin
und lässt die Waffe sinken. Bei einem Schuss würde die Kugel sich aus
dieser Position nicht im Boden fangen, wenn sie durchs Wildschwein schlägt
oder er das Tier verfehlt. Schwein gehabt.
30 Jan 2018
## AUTOREN
Ulrike Fokken
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