# taz.de -- Musikprofessorin über Wahrnehmung: „Musik hat Hüften“ | |
> Wie nehmen wir Musik wahr? Musikprofessorin Susan Rogers über Ohrwürmer, | |
> Prince-Stücke und Songs, die wie alte Freunde sind. | |
Bild: Den sozialen und motorischen Aspekt sollte man nicht vernachlässigen. P�… | |
taz: Frau Rogers, manche kreischen vor Begeisterung, andere fangen an zu | |
weinen, wenn sie Musik hören. Wie sind solch starke Emotionen zu erklären? | |
Susan Rogers: Musik aktiviert den neuronalen Kreislauf, mit dem wir | |
angenehme und genussvolle Dinge verarbeiten, also etwa auch Essen, Drogen | |
oder Sex. Sie wird im limbischen System verarbeitet, das unter anderem für | |
Emotionen zuständig ist. Grundsätzlich haben wir im Gehirn ein | |
„Warnsystem“, das uns achtsam macht gegenüber neuen Reizen – zum Beispiel | |
Hörreizen. | |
Wie funktioniert das? | |
Ein Vergleich: Ein Mensch nähert sich einem unbekannten Objekt, zum | |
Beispiel einem Raumschiff, das gelandet ist. Da werden wir vorsichtig sein. | |
Wenn wir aber sehen, dass es überhaupt nicht gefährlich ist und dass uns | |
die Besatzung des Raumschiffs Belohnungen gibt – Geld oder Essen oder | |
Spielzeuge –, dann werden wir mit dem Objekt vertraut. So läuft es auch im | |
Gehirn: Neurotransmitter werden ausgeschüttet. Sie sorgen dafür, dass wir | |
dem Raumschiff mit anderen Emotionen begegnen, wenn wir es das nächste | |
Mal sehen. | |
Wovon hängt es generell ab, welche Musik wir als angenehm empfinden? | |
Es gibt Musik, die wir grundsätzlich bereichernd finden. Entscheidend ist | |
aber immer unsere Lust, unser Appetit. Es ist wie mit dem Essen: Das | |
Gericht, das einem am besten schmeckt, isst man oft und gern. Aber auch da | |
ist es unterschiedlich: Manchmal braucht man Futter für die Seele, dann | |
wieder wünscht man sich ein Gericht, das einen an die Zeit als Kind | |
erinnert. Ein andermal will man etwas ganz Neues ausprobieren. Genauso bei | |
der Musik: Wir haben so etwas wie eine „Homebase“, Prince nannte das „the | |
street you live in“. Für mich persönlich ist das Soul- und Funkmusik. Wenn | |
mich aber jemand, um im Bild zu bleiben, in ein äthiopisches Restaurant | |
einladen würde, könnte ich das Essen auch mögen. Es wird wohl nie mein | |
Lieblingsessen – aber ich probiere es! | |
Formt uns diese „Homebase“ für das gesamte Leben? | |
Gewissermaßen schon. Wenn wir Teenager sind und nach unserer Identität | |
suchen, gibt uns Musik Geborgenheit. Die Songtexte lösen Probleme für uns. | |
Sie können uns sagen, wie wir uns in bestimmten sozialen Situationen | |
verhalten sollen. Sie helfen uns, jemand anderes zu sein. Wir bauen eine | |
Bindung zu ihr auf. Hören wir sie später wieder, ist es so, als träfen wir | |
einen alten, engen Freund. | |
Sie haben Prince erwähnt, als dessen Soundingenieurin Sie in den achtziger | |
Jahren gearbeitet haben. Was passiert mit uns, wenn wir All-Time-Hits wie | |
sein „Purple Rain“ hören? | |
Wir reagieren auf drei verschiedenen Ebenen: motorisch, emotional und | |
intellektuell. Da ist die körperliche Seite: Musik hat Hüften, sie bringt | |
uns zum Tanzen. Zwischen dem auditiven und dem motorischen Kortex gibt es | |
Verknüpfungen. Der Rhythmus kann einen packen, allein, weil er funky ist. | |
Gefühlsmäßig berühren einen vielleicht die Akkordfolge und die Textzeilen. | |
Intellektuell kann „Purple Rain“ einen nostalgisch stimmen. Das Stück läs… | |
einen an die Zeit denken, in der man zum ersten Mal Prince hörte, an die | |
Klamotten, die man trug, an die Freunde, die man hatte. Die Voraussetzung | |
ist aber immer, dass man dafür auch aufnahmefähig ist. | |
Wovon hängt das ab? | |
Ein Beispiel: Es gab einen Unfall. Ein Freund von Ihnen hat sich verletzt, | |
Sie bringen ihn in die Notaufnahme eines Krankenhauses, und dort läuft ein | |
Prince-Song im Flur. In dieser affektiven Situation werden Sie nicht | |
empfänglich für einen Prince-Song sein. | |
Was unterscheidet unser Gehör von anderen Sinnesorganen? | |
Das Hören ist die schnellste Sinneswahrnehmung, die wir haben. Schneller | |
als Sehen, schneller als Riechen, superschnell. Wenn wir einen Rhythmus | |
wahrnehmen, den wir mögen, werden auf schnellstem Wege Botschaften zu | |
unserem motorischen System gesendet. | |
Warum gibt es Stücke, die uns unwillkürlich immer wieder durch den Kopf | |
gehen? | |
Das wird noch untersucht. Das Phänomen heißt „Stuck song syndrome“ – be… | |
bekannt als „Ohrwürmer“. Meist beziehen sich diese auf kurz zurückliegende | |
Musikerfahrungen. Der Ohrwurm wird von einem Geräusch oder einem Wort | |
ausgelöst. Es tritt sowohl bei kognitiv geringer Belastung – wenn wir etwa | |
tagträumen – als auch in Erregungszuständen auf. Wenn eine Situation | |
entsteht, in der wir ein Problem lösen müssen, verschwindet der Ohrwurm in | |
der Regel. Was wir aber herausfinden müssen, ist, warum das Gehirn es für | |
eine gute Sache hält, einen einzigen Song immer wieder kreisen zu lassen. | |
In vielen Popsongs wird etwas wiederholt, das es schon gab. Aufbau und | |
Tonarten ähneln sich oft. Warum langweilt diese Musik viele nicht? | |
Ich höre gern Bob Dylans „Theme Time Radio Hour“. Ich finde gut, dass er | |
darin Musik nicht als etwas betrachtet, das ein Verfallsdatum hat. Gute | |
Musik ist eben gute Musik. Nehmen wir wieder das Essen: Man könnte ja auch | |
fragen, warum wir immer noch Pizza und Hamburger essen? Die Antwort ist | |
einfach: Weil wir es mögen! | |
Wie schafft man es, aus Altbekanntem Neues zu kreieren? | |
Der Produzent Fernando Garibay, der mit Lady Gaga ein paar Hits hatte, sagt | |
seinen jungen Künstlern: Erfindet das Rad nicht neu, erfindet das Auto neu. | |
Das ist äußerst klug. Wir wissen, wie man einen Rock’n’Roll-Song schreibt. | |
Was wir brauchen, sind passende Teile, um sie in einer neuen Art und Weise | |
zusammenzusetzen – für eine neue Generation. Nach dem Motto: Kümmert Euch | |
nicht darum, was die Leute in ihren Dreißigern, Vierzigern und Fünfzigern | |
sagen! | |
Einige reagieren sehr stark auf Musik, manche fast gar nicht, bis hin zur | |
sogenannten Anhedonie – der Unfähigkeit, Freude zu empfinden. Wie kommt | |
das? | |
Wie diese Dispositionen entstehen, ist noch unklar. Manche Menschen haben | |
einfach kein musikalisches Gehör, sie können die Tonhöhen nicht erkennen – | |
die haben natürlich eine andere Geräuschwahrnehmung. Für andere ist Musik | |
einfach kein angenehmer Reiz. Das ist keine bewusste Entscheidung. Zum Teil | |
ist es veranlagungsbedingt. | |
Worin unterscheidet sich die Wahrnehmung von harmonischer und dissonanter | |
Musik? | |
Menschen und auch bestimmte Tiere wie Ratten, Affen und Vögel favorisieren | |
harmonische Akkorde gegenüber dissonanten Akkorden, das ist belegt. Aber | |
behandelt das Gehirn diese Klänge psychologisch gesehen anders? Die Antwort | |
ist: Vielleicht. Dissonanzen erzeugen mehr neuronale Aktivitäten als | |
harmonische Akkorde. „Reine“ Intervalle nehmen wir anders wahr als eine | |
kleine Septime. | |
Sie unterrichten Psychoakustik am Berklee College Of Music. Welche Themen | |
umfasst Ihr Fach? | |
Wir beschäftigen uns damit, wie Klang übermittelt wird, also wie aus | |
Schallwellen Impulse werden und wie wir Menschen sie nach Lautstärke und | |
Takten interpretieren. Es sind die Grundlagen der Musikwahrnehmung. Ich | |
lehre auch noch Musikkognition – dieser Fachbereich bezieht sich eher auf | |
das Denken, auf Gefühle, auf Lernverhalten, Entwicklung und Persönlichkeit. | |
Welches Stück hat Sie selbst zuletzt stark berührt? | |
„Click Clack“ von Captain Beefheart. Ich kannte es nicht. Als ich es | |
erstmals hörte, bin ich aus dem Sessel aufgesprungen und habe getanzt. | |
Vielleicht wegen des Grooves. Er benutzt da Polyrhythmen, die sind einfach | |
clever. Das Raumschiff Captain Beefheart nehme ich zukünftig anders wahr. | |
17 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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