# taz.de -- Historiker berichtete undercover vom IS: Der Chronist des Grauens | |
> Über Jahre berichtete ein Historiker anonym aus Mossul über die Gräuel | |
> des IS. Nun beendet er das Versteckspiel – aus einem traurigen Grund. | |
Bild: Nicht mehr anonym: Das „Mossul Auge“ lebt jetzt in Europa im Asyl | |
MOSSUL ap | Er ging durch die Straßen des besetzten Mossuls, unterhielt | |
sich mit Ladenbesitzern, besuchte Freunde, die im Krankenhaus arbeiteten. | |
Er ließ sich das Haar und den Bart wachsen wie die Besatzer der Terrormiliz | |
Islamischer Staat. Er wurde Zeuge der Enthauptungen und Steinigungen. Und | |
in der Nacht berichtete [1][das „Mossul Auge“] der Welt, was sich in der | |
irakischen Stadt zutrug. Wäre er aufgeflogen – es wäre sein sicherer Tod | |
gewesen. | |
Nach mehr als drei aufreibenden Jahren wurde ihm die Last zu schwer. Seine | |
Geheimnisse fraßen ihn auf, nahmen ihm die Kraft. In einem Gespräch mit der | |
Nachrichtenagentur AP lüftete er das Geheimnis. Hinter dem „Mossul Auge“ | |
steckt Omar Mohammed, 31 Jahre alt, Historiker, Dozent, Blogger. | |
Er gibt seine Identität preis für Tausende von Lesern und Followern, für | |
die Menschen in Mossul, die er inspiriert hat und die ihn nie gesehen | |
hatten. Aber vor allem tut er es für seinen Bruder, der bei der letzten | |
Schlacht um die Stadt starb – und für seine trauernde Mutter. „Ich kann | |
nicht mehr anonym sein. Das soll bedeuten, dass ich den IS überwunden habe. | |
Ihr könnt mich jetzt sehen, ihr könnt mich jetzt kennen“, sagt er. | |
Mohammed postete zum ersten Mal über den IS auf seinem eigenen | |
Facebook-Account wenige Tage, nachdem dessen Kämpfer in Mossul eingefallen | |
waren. Ein Freund warnte ihn, dass dies lebensgefährlich sei. So schwor er | |
sich: Vertraue niemandem, dokumentiere alles. Seinen Job an der Universität | |
als Dozent mit weltlicher Ausrichtung hatte er verloren. Als Chronist des | |
Grauens fand er eine neue Aufgabe. | |
## Propaganda aus dem Freitagsgebet | |
„Mein Beruf als Historiker erfordert, dass ich einen unverzerrten Ansatz | |
anwende und meine persönliche Meinung für mich behalte“, schrieb er in | |
seinem ersten Eintrag vom 18. Juni 2014. | |
„Mossul Auge“ wurde für die Außenwelt eine der Hauptquellen für | |
Informationen über die Kämpfer des Islamischen Staates, über ihre | |
Grausamkeiten und über die Verwandlung der Stadt in einen grotesken | |
Schatten ihrer selbst. | |
Während der Freitagsgebete täuschte Mohammed Begeisterung vor. Er nahm die | |
Propaganda auf und postete sie später im Internet. Er trank Tee im | |
Krankenhaus und sammelte dort Informationen ein. Das meiste landete in | |
seinem Blog. Andere Details behielt er auf seinem Computer, um nichts von | |
seiner Identität zu verraten. Eines Tages, so sagte er sich, werde er damit | |
Geschichte schreiben. | |
Die sensibelsten Details kamen zunächst von zwei alten Freunden: einem Arzt | |
und einem Studienabbrecher, die sich dem Geheimdienst des IS angeschlossen | |
hatten. Mohammeds Informationen enthielten manchmal Bilder der Kämpfer, | |
teilweise ganze Biografien, die er als arbeitsloser Dozent während des | |
Tages aufgeschrieben hatte. Später veröffentlichte er auch auf | |
[2][Facebook] und [3][Twitter]. | |
## „Ich dachte, ich verdiene Leben“ | |
Fremde Nachrichtendienste kontaktierten ihn. Er wies sie ab. „Ich bin weder | |
ein Spion noch ein Journalist“, betont er. „Ich sagte ihnen: Wenn ihr die | |
Information wollt: Sie ist veröffentlicht und frei zugänglich. Bedient | |
euch.“ | |
Im März 2015 war er kurz vor dem Aufgeben. „Ich war absolut bereit zu | |
sterben“, sagt er. „Ich hatte es satt, mich zu sorgen, um mich, um meine | |
Familie, um meine Brüder. Ich lebe doch nicht, um mir Sorgen zu machen. Ich | |
will doch mein Leben leben. Ich dachte: Ich bin fertig.“ | |
Er schnitt sich das Haar, rasierte den Bart ab und zog einen leuchtend | |
roten Sweater an. Sein bester Freund begleitete ihn. Sie fuhren an das Ufer | |
des Tigris, hörten verbotene Musik, Mohammed zündete sich sogar in aller | |
Öffentlichkeit eine Zigarette an, obwohl das vom IS streng verboten war. | |
Doch niemand nahm Notiz von ihrem Treiben. „In diesem Moment fühlte ich | |
mich, als hätte ich ein neues Leben geschenkt bekommen.“ | |
Er kümmerte sich wieder um seine Aufgabe, ließ sich Haare und Bart wieder | |
wachsen und legte die vom IS vorgeschriebene Kleidung wieder an. Doch | |
schließlich, nachdem er Mossul schon Tausende Male in Gedanken verlassen | |
hatte, beschloss er, das in die Realität umzusetzen. „Ich dachte, ich | |
verdiene Leben, verdiene lebendig zu sein.“ | |
## Asyl in Europa | |
Ein Schlepper brachte ihn für 1000 Dollar aus der Stadt. Seine | |
Aufzeichnungen hatte er zuvor auf eine Festplatte überspielt, die er | |
mitnahm. Auf der zweitägigen Reise über etwa 500 Kilometer nahm niemand | |
Notiz von ihm. Schließlich erreichte er die Türkei. Dort nahm er seine | |
Arbeit wieder auf: Über WhatsApp, Viber und Facebook hielt er den Kontakt | |
zu Freunden und Verwandten, die Verbindungen zum IS hatten. | |
Mitte des Jahres 2016 stieg die Zahl der Toten schneller, als er das | |
aufzeichnen konnte. Der IS machte Jagd auf mutmaßliche Verräter, die | |
Luftangriffe kosteten immer mehr Menschen das Leben. Seine Aufzeichnungen | |
wurden willkürlicher, er dokumentierte die Grausamkeiten vor allem über | |
Twitter. Im Februar 2017 erhielt er Asyl in Europa. | |
Nachdem sein älterer Bruder Ahmed in der letzten Schlacht um Mossul bei | |
einem Mörserangriff getötet worden war und der IS die Stadt verlassen | |
hatte, offenbarte sich Mohammed einem seiner jüngeren Brüder. Der war | |
gleichermaßen geschockt, stolz und glücklich. Er lebt in einem | |
Flüchtlingscamp im Irak, seinen Namen will er aus Angst um sein Leben nicht | |
nennen. | |
„Die Menschen in Mossul hatten die Hoffnung und das Vertrauen in die | |
Politik, in alles verloren“, sagt der Bruder. „Mossul Auge“ habe aber | |
gezeigt, dass es möglich ist, „die Situation in der Stadt zu ändern und sie | |
wieder zurück ins Leben zu bringen“. | |
8 Dec 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://mosuleye.wordpress.com/ | |
[2] https://www.facebook.com/MosulEyee/ | |
[3] https://twitter.com/MosulEye | |
## AUTOREN | |
Lori Hinnant | |
Maggie Michael | |
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