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# taz.de -- Gedenken an Berliner Terroranschlag: Ein Riss, nur scheinbar geschl…
> Politik trifft auf tief enttäuschte Angehörige: Ein Jahr nach dem Mord an
> 12 Menschen auf dem Breitscheidplatz wird der Opfer gedacht.
Bild: Berlin am 19. Dezember 2017: Angehörige legen am Denkmal des Anschlages …
Berlin taz | Am Dienstagmorgen beugt sich Petr Cizmar auf dem
Breitscheidplatz nieder. Er hat seinen sechsjährigen Sohn David dabei,
beide in dicke Jacken gehüllt. Cizmar senkt sich über einen Betonblock, der
von einem Riss durchzogen ist. 14 Meter lang und goldschimmernd zieht sich
der Riss daneben einmal quer über den Boden des Platzes, auch die sechs
Stufen hoch zur Gedächtniskirche. Mit einer Metalllegierung füllt Cizmar
den Spalt auf. Andere Angehörige tun es ihm gleich.
Das Mahnmal, das Cizmar und die anderen Angehörigen fertigstellen, ist ein
Symbol: für den Riss, der sich seit einem Jahr durch ihre Familien zieht.
Aber auch durch diese Gesellschaft. Nun wird der Riss geschlossen.
Zumindest für diesen symbolischen Moment.
Genau vor einem Jahr war an der Stelle, an der Petr Cizmar und die anderen
stehen, Anis Amri mit einem tonnenschweren Sattelschlepper in den
Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz gerast. Zwölf Menschen starben,
mehr als 70 wurden verletzt. Es war der bisher schwerste islamistische
Anschlag in Deutschland.
Am Dienstag nun gehört der Breitscheidplatz ganz den Betroffenen. Der Platz
ist weiträumig abgeriegelt. Scharfschützen stehen auf Dächern.
Die Maßnahmen sind der Sicherheit der ebenfalls angereisten
Spitzenpolitiker geschuldet. Ihre Anwesenheit ist aber auch ein Wunsch der
Betroffenen: ein Gedenken, diesmal nicht zuerst für die Öffentlichkeit,
sondern für sie, für die Familien.
## Ein Denkmal mit den Namen aller Opfer
Die Angehörigen legen weiße Rosen ab, nehmen sich gegenseitig in den Arm,
es fließen Tränen. Einige stellen Bilder ihrer Verstorbenen auf die Stufen
des Mahnmals. Die Fotos zeigen lächelnde Gesichter – von Menschen, die von
einer Minute auf die andere aus dem Leben gerissen wurden. Angehörige des
israelischen Opfers Dalia Elyakim stellen kleine Israelfähnchen auf, die im
kalten Wind flattern. Auf den Stufen daneben stehen die Namen der Toten,
auf ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen.
Anna Bagratuni, Georgiy Bagratuni, Sebastian Berlin, Dalia Elyakim,
Christoph Herrlich, Klaus Jacob, Angelika Klösters, Dorit Krebs, Fabrizia
Di Lorenzo, Lukasz Urban, Peter Völker. Und Nad’a Čižmár.
Die 34-Jährige Čižmár war vor einem Jahr mit Arbeitskollegen auf dem
Weihnachtsmarkt. Sie selbst hatte erst gar keine große Lust dazu. Dann
raste Amris Laster durch die Marktbuden. Nad’a Čižmár hatte keine Chance.
Petr Cizmar war gleich am nächsten Tag nach Berlin gereist. Er irrte von
Krankenhaus zu Krankenhaus. Drei Tage blieb der Ehemann im Ungewissen: Erst
dann teilte ihm die Polizei mit, dass Nada zu den zwölf Toten gehört. Und
er nun alleinerziehender Vater ist.
## Alle kümmerten sich um den Täter, kaum einer um die Opfer
Jetzt, ein Jahr später, starrt Petr Cizmar auf dem Breitscheidplatz mit
leerem Blick auf die geschlossenen Marktbuden. „Ich kann das durchstehen“,
sagt Cizmar. Es sei eine Ehre, die heute seiner Frau Nada zuteil werde.
Nach dem Anschlag hatte sich dieses Land vor allem um eines gekümmert: den
Täter. Wer war Anis Amri? Fast vergessen aber wurde die Frage: Wie geht es
eigentlich den Opfern?
Diese Leerstelle füllten die Betroffenen zuletzt mit einen offenen Brief an
Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bis heute habe sie den Familien nicht
kondoliert, kritisieren diese darin. Auch Petr Cizmar hat den Brief
unterzeichnet. Schon einen Tag nach dem Anschlag saß die Bundeskanzlerin
vor einem Jahr in der Gedächtniskirche. Nur: Da suchten Cizmar und die
anderen noch verzweifelt nach ihren Angehörigen. Die Andacht sollte ein
schnelles Zeichen der Anteilnahme sein. Sie wendete sich ins Gegenteil.
## Merkel: nicht alles gut gelaufen
Diesmal soll es anders sein. Der Gedenktag wurde von den Betroffenen
mitorganisiert. Und nun steht Merkel nur wenige Meter von Cizmar entfernt,
auch sie legt eine weiße Rose ab. „Heute ist ein Tag der Trauer, aber auch
ein Tag des Willens, das, was nicht gut gelaufen ist, besser zu machen“,
sagt die Kanzlerin.
Neben Merkel ist auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gekommen. Er
spricht später auf einer Andacht in der Gedächtniskirche, auch diese nicht
öffentlich. „Wir können die Tiefe Ihres Leids nicht ermessen und Ihren
Schmerz nur erahnen“, sagt Steinmeier. „Zur Wahrheit gehört auch, dass
manche Unterstützung spät kam und unbefriedigend blieb.“ Die Klagen stießen
aber nicht auf taube Ohren, versichert der Bundespräsident. Die Politik
müsse nun Versäumnisse aufklären und aus Fehlern lernen. „Ich will Ihnen
versichern: Wir lassen Sie mit alldem nicht allein.“
Als die Betroffenen und Politiker nach der Andacht am Mittag noch einmal
vor das Mahnmal treten, läuft Astrid Passin neben Steinmeier. Die
44-Jährige verlor ihren Vater Klaus Jacob auf dem Breitscheidplatz. Auch
sie fühlte sich nach dem Anschlag alleingelassen. Behörden schickten ihr
falsche Formulare oder eine Rechnung für die Obduktion ihres Vaters, 51
Euro, zu zahlen in 30 Tagen, sonst drohe ein Inkassounternehmen. Passin
besuchte den Berliner Untersuchungsausschuss zum Fall Amri, um Antworten zu
bekommen, wie es zu dem Anschlag kam. Mit jeder Enthüllung über das
Ermittlungsversagen aber wurde ihre Wut größer.
Nun steht Astrid Passin vor den Stufen des neuen Mahnmals, drückt ihre
zehnjährige Tochter fest an sich. Diese hat ein Foto ihres Großvaters
abgelegt. „Ich vermisse dich“, hat sie dazugeschrieben. Später wird sich
Astrid Passin bei Frank-Walter Steinmeier unterhaken und still gedenken. Es
ist ein versöhnliches Bild.
## Kanzlerin verspricht Aufarbeitung, nicht Verantwortung
Schon tags zuvor hatte Merkel die Angehörigen ins Kanzleramt geladen – viel
zu spät, wie viele Betroffene fanden. Achtzig von ihnen waren gekommen, für
ein vertrauliches Gespräch, drei Stunden, länger als geplant. Merkel ging
von Tisch zu Tisch, hörte zu, machte sich Notizen. Auch neben Petr Cizmar
setzte sie sich. Freundlich sei das Gespräch gewesen, sagt er. Als Cizmar
aber gefragt habe, wann endlich jemand Verantwortung für den Anschlag
übernehme, habe Merkel geantwortet, dafür müsse erst einmal die
Aufarbeitung beendet werden. Cizmar war das zu wenig.
Merkel spricht am Dienstag von „sehr schonungslosen“ Gesprächen. Und sie
verspricht, die Regierung werde „alles Menschenmögliche“ tun, um Sicherheit
in diesem Land zu gewährleisten – aber auch, um den Betroffenen wieder
zurück ins Leben zu helfen.
Am Dienstagnachmittag sitzt Cizmar im Abgeordnetenhaus, in der dritten
Reihe, zur offiziellen Gedenkstunde. Vor ihm haben Mitglieder der
Bundesregierung Platz genommen Ein Schülerchor singt „Abschied vom Walde“
von Felix Mendelssohn Bartholdy. Parlamentspräsident Ralf Wieland verliest
die Namen der zwölf Toten. Cizmar schaut starr nach vorn und presst die
Hände gegeneinander.
## Berlins Regierender Bürgermeister bittet um Verzeihung
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller benennt noch einmal die
Fehler, die der Staat beging. „Verwaltungshandeln, das Sie als demütigend
empfinden mussten, fehlende Ansprechpartner, und dann auch noch schwere
Pannen bei der Verfolgung des Mannes, der am 19. Dezember so viel Leid
verursacht hat.“ Dann wendet er sich an die Betroffenen: „Als Regierender
Bürgermeister bitte ich Sie, die Angehörigen und Verletzten, für diese
Fehler um Verzeihung.“ Auf ein solches Zeichen haben diese lange gewartet.
Berührend wird die Gedenkstunde vor allem, als die polnischstämmige
Schauspielerin Anja Antonowizc, eine junge Frau in weiter weißer Bluse und
mit langem gewellten Haar, in die Mitte des Plenarsaals tritt. Sie sei am
19. Dezember auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gewesen, sagt sie,
genau dort, wo der Terroranschlag geschah. „Ich bin zehn Minuten vorher
nach Hause gegangen“, sagt Antonowizc. „Und ich denke fast jeden Tag an
diese zehn Minuten.“ Dann rezitiert sie ein Lied von Jacques Brel, das die
Franzosen nach den Terroranschlägen in Paris sehr bewegt habe: „Wenn uns
die Liebe bleibt“. Petr Cizmar reibt sich die Augen.
Auf dem Breitscheidplatz öffnen sich da schon wieder die Polizeisperren.
Jetzt verharren auch Passanten vor dem neuen Mahnmal, einige legen Blumen
nieder, zünden Kerzen an. Um 20.02 Uhr sollen die Kirchenglocken läuten,
zwölf Minuten lang. Genau zu der Zeit, als Anis Amri vor einem Jahr auf den
Breitscheidplatz raste. Und seine zwölf Opfer in den Tod riss.
19 Dec 2017
## AUTOREN
Sabine am Orde
Konrad Litschko
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Anis Amri
Terror
Polizei Berlin
Anis Amri
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt
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