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# taz.de -- Nach dem Hochhausbrand in London: Grenfell Tower, sechs Monate spä…
> Besetzung, Selbsthilfe und Forderungen an die Politik. Die Überlebenden
> des Londoner Hochhausbrands wollen keine Opfer mehr sein.
Bild: Am Morgen des 14. Juni 2017 fing der Grenfell Tower Feuer. 71 Menschen st…
London taz | Niles Hailstones sitzt in einem kleinen Café an der
weltberühmten Portobello Road. Seine Kopfbedeckung, Bart und Kleidung,
darunter ein Schal in panafrikanischen Farben, vermitteln schon beim ersten
Eindruck seine Lebensphilosophie. Den Geist seiner Community beschreibt der
Musiker und Aktivist mit dem Bob-Marley-Song „Natural Mystic“, dessen
gesamten Text er jetzt zitiert, darunter die Worte: „Die Dinge sind nicht
mehr, wie sie waren. Ich werde keine Lügen erzählen. Einer wie alle müssen
sich nun der Wirklichkeit beugen.“
Ein Steinwurf entfernt ziehen sich die Betonarkaden des Westway, die in
Londons Innenstadt führende gigantische Stadtautobahn, kilometerweit durch
den Norden von Kensington, von Gospel Oak bis nach Latimer Road, wo der
Grenfell Tower steht, jenes Hochhaus, das inzwischen noch berühmter ist,
weil es vor genau sechs Monaten niederbrannte – eine der schlimmsten
Brandkatastrophen der britischen Geschichte. Jetzt, sechs Monate später,
verdeckt ein Gerüst mit Deckplanen etwa ein Viertel des angekohlten Turms
und soll ihn bald komplett umhüllen.
Hailstones berichtet von einer Zeit des Umbruchs. Im Inferno starben nicht
nur 71 Menschen. Es markiert auch, so hofft er, das Ende eines
jahrzehntelangen Prozesses von Marginalisierung, Regeneration und
Ausgrenzung, von Dominanz durch Machtinteressen, ja von „sozialer und
ethnischer Säuberung des Viertels“, wie er es ausdrückt.
„Eigentlich erwartete ich mir weder vor dem Brand noch danach irgendwelche
Veränderungen“, kommentiert er die vielen Versprechen der zuständigen
Gemeindebehörde Kensington and Chelsea. „Im ersten Monat nach dem Unglück
herrschte hier absolute Hilflosigkeit. Auf sich allein gestellt, hat sich
der Geist der Selbständigkeit behauptet.“
## Das Dorf
Dann verrät der afrikanisch-karibische Gemeinschaftsaktivist etwa, was den
meisten bisher verschwiegen wurde. Als die Spenden, Pakete und Decken für
die Überlebenden des Feuers hier ankamen, besaß Hailstones zufällig den
Schlüssel zu einem Raum unter den Arkaden der Stadtautobahn, gleich neben
der Portobello Road. Den Schlüssel zum Raum der Stiftung „Westway Trust“,
die die Arkaden verwaltet, hatte er, weil er ein Jubiläumsevent zu Marleys
Album „Exodus“ organisieren wollte. Hailstones bat die
Gemeinschaftskoordinatorin der Stiftung um Erlaubnis, den Raum nun als
Depot benutzen zu könne. Sie stimmte zu und erteilte eine Dreimonatslizenz.
Hilfsgüter stapelten sich schnell hoch bis unter die Decke. Der Raum wurde
bald als „The Village“ bezeichnet: das Dorf – eine Art privates,
improvisiertes Gemeinschaftszentrum für die Überlebenden des Grenfell
Tower.
Sechs Monate später ist der Raum leerer geworden. Sofas stehen verteilt in
geselliger Formation, Wandgemälde und Bilder vermitteln eine afrikanisch
geprägte Atmosphäre, ein Schlagzeug steht im Hintergrund. Die
Dreimonatslizenz ist längst abgelaufen. Aber Hailstones hofft, bleiben zu
können.
Hier, im lukrativsten Teil der Portobello Road im Westlondoner Edelviertel
Notting Hill, weltberühmt für seinen Karneval, hat der West Way Trust
eigentlich große Umbaupläne. „Solange wir hier sind, halten wir diese Pläne
auf“, glaubt der Aktivist. Hailstones war seit dem Inferno bei allen
Gesprächen mit der Gemeindebehörde dabei. Die Koordinatorin, die ihm einst
den Schlüssel gab, wurde inzwischen gefeuert. Als sie sich gemeinsam mit
einer anderen entlassenen Angestellten dagegen wehrte, trat plötzlich im
Oktober die dafür verantwortliche Geschäftsführerin zurück.
## Verschwundene Freiräume
Der Westway Trust, anfangs North Kensington Amenity Trust, war einst das
hart errungene Ergebnis einer langen Kampagne der Bewohner Nordkensingtons
gegen Pläne, unter der Autobahn Parkplätze statt Gemeinschaftsräume zu
schaffen. „Die Stiftung wurde aber bald ein Deckmantel“, so Hailstones.
„Anfangs waren sogar die Hälfte des Vorstands Stadtratsabgeordnete, von
denen viele weit weg lebten.“
Aus seiner Sicht agierte der Trust über Jahre hinweg rassistisch. Immer
weniger Raum wurde für kulturelle und soziale Aktivitäten zur Verfügung
gestellt, und noch weniger für die afrikanisch-karibischen AnwohnerInnen.
Die kommerzielle Nutzung bekam Vorrang. In Notting Hill waren in den 1950er
Jahren die ersten schwarzen Arbeitsmigranten aus der Karibik gelandet – nun
ließ man ihnen nicht einmal mehr hier Freiräume, unter der Betonbrücke. Ein
gemeinschaftlicher Steel-Drum-Workshop, „Bay 20“, wurde in den 1990er
Jahren geräumt – zugunsten eines mit Stiftungsmitteln bezahlten Metallzauns
mit Stacheldraht und einer obskuren Kunstinstallation mit blauen Steinen,
nutzlos und leer.
Auch andere Zonen, beispielsweise für die bekannte Steelband Ebony, gingen
verloren. Anscheinend war dem Westway Trust der alljährliche Notting Hill
Karneval, gewachsen aus dem Widerstand gegen den Rassismus der 1950er Jahre
als Ausdruck des Respekts für afrikanisch-karibische Menschen und Kultur,
relativ egal. Der Maxilla-Kindergarten unter dem Westway musste vor drei
Jahren dichtmachen, während für die an die Portobello Road grenzenden
Arkaden ein Rieseneinkaufszentrum geplant ist.
Seit drei Jahren ist Hailstones nun Vorsitzender von Westway23, einer
Gemeinschaftsgruppe, die den Westway Trust zur Rechenschaft ziehen möchte.
Auch nach Grenfell gehen die Probleme weiter. Seit Neuestem will die
Stiftung einem Vorschlag der BBC nachkommen, ausgerechnet auf dem einstigen
Gelände von „Bay 20“ Raum für einen Boxklub zu schaffen, der einst im
Grenfell Tower trainierte. Die Empörung ist riesengroß, besonders bei den
afrikanisch-karibischen AnwohnerInnen.
## Die Wiedereinnahme
Die Geschichte des Westway und wie die Gemeinschaft von den
Entscheidungsträgern regelrecht ausgelaugt wurde – das hat viele Parallelen
zum Management der Sozialbauten wie Grenfell Tower, sagt die Aktivistin Eve
Wedderburn. Sie hat kurz nach dem Inferno einen anderen langen Kampf
gewonnen: die Rettung der einzigen Stadtbücherei bei Ladbroke Grove.
Ähnlich wie beim Entstehen der Stiftung Westway Trust wurde auch bei den
Sozialbauten die Forderung auf gemeinschaftliche Selbstverwaltung im
Ergebnis verzerrt – es entstand für die Sozialwohnkomplexe das
„unabhängige“ Verwaltungsorgan KCTMO (Kensington and Chelsea Tenant
Management Organisation). Auch hier dominierten Gemeineräte statt
Betroffene. Wenn Bewohner von Grenfell Tower sich über den Brandschutz
Sorgen machten, drohte KCTMO mit juristischen Schritten, statt darauf
einzugehen. Mit dem Feuer geriet KCMTO in Verruf, und ihre Zuständigkeit
wurde jetzt aufgehoben.
Seit drei Wochen halten Anwohner von Grenfell Tower, darunter Niles
Hailstones und Eve Wedderburn, nun unter den Arkaden einen großen Raum
besetzt. Auch dafür gibt es historische Vorbilder – die „Freie Republik
Frestonia“, die vor 40 Jahren in abrissbedrohten Straßen die Unabhängigkeit
ausrief. Doch „Besetzung“ ist nicht das Wort, welches Hailstones heute
benutzt: „Wir haben diesen Ort wiedereingenommen“, sagt er und spricht von
einer Revolution der Menschen. In mit Spenden renovierten Räumen sind
Übungsräume, Therapieräume, Küchen im feinsten Design entstanden, kreiert
von der Gemeinschaft.
Die Leute nennen all das „The City“, mit Bezug auf das „Village“, den
Vorgängerraum, der direkt nach dem Feuer entstanden war. Am Donnerstag will
man die „City“ für die Allgemeinheit öffnen – nach dem Gedenkgottesdien…
am Morgen und nach dem Abschluss des monatlichen Grenfell-Schweigemarsches
rund um den Tower, der immer vor der „Wand der Wahrheit“ endet, einem
offenen Sammelpunkt voller Wandmalereien unter den Arkaden nicht weit vom
Tower.
## Räume schaffen
Hailstones hat Wohnungsstadrat Kim Taylor-Smith zu einer Führung
eingeladen. „Er kam und staunte“, erinnert sich Hailstones. Taylor-Smith
stoppte zumindest für jetzt die Räumungsklage. Für die Gemeinschaft ist
diese Wiedereinnahme ein Prestigeprojekt. Sie will beweisen, dass sie
derartige Räume nicht nur benötigt, sondern auch selbst schaffen und
gestalten kann.
Es gibt auch ein paar Gegenstimmen zu dem „City“-Vorhaben. Ein Künstler
namens „Livingstone“, der die Wall of Truth betreut und teilweise gemalt
hat, fühlt sich von Hailstones ausgeschlossen. „Ich hätte diesen Raum
bekommen sollen, denn ich war hier von Anfang an“, schimpft er bei der
Frage, was er von der City halte.
Sophie Lodge, die Künstlerin, die das Grenfell-Inferno mit ihrer
Herzkampagne „Comeunity“ – ein Wortspiel auf den Begriff „Community“,
zusammengesetzt aus „come“ und „unity“ – in einer für die Überleben…
fassbaren Weise zu bewältigen versucht hatte, sagt, der Streit sei nicht
mehr als die Artikulation zweier starker Stimmen, die eigentlich Ähnliches
wollen. Sie selbst hat in den letzten zwei Monaten mit Kindern in allen
lokalen Schulen gearbeitet. Sie steht jetzt vor Ladbroke Grove beim
Aufhängen einer riesigen Plane an der U-Bahn-Brücke. Auf ihr steht der Satz
eines Jungen: „Wir sind besonders, weil wir die Zukunft Ladbroke Groves
sind.“
## Mitspracherecht und Menschenwürde
Im öffentlichen Untersuchungsausschuss zu Grenfell, der nach monatelanger
Sammlung von Unterlagen gerade erst diese Woche richtig zu tagen begonnen
hat, werden derweil grundsätzliche Argumente ausgetauscht. Es geht um
Mitspracherecht, Respekt für Menschenvielfalt, Menschenwürde. Die
rechtlichen Vertreter der Opfer und Geschädigten fordern mehr Zugang und
Mitbestimmung. Statt eines einzelnen Richters solle ein Gremium, in dem die
Betroffenen vertrete sind, den Ausschuss leiten, findet auch Chris
Imafidon, einer der Überlebenden des Hochhausbrands. „Was passiert, wenn
der Richter krank ist oder wenn er stirbt? Dann geht es nicht weiter!“
Diesbezüglich erklärte am Wochenende überraschend die britische
Gleichberechtigungs- und Menschenrechtsbehörde, dass sie eine eigene
Untersuchung durchführen werde.
Immerhin hat sich einiges im Bauwesen getan. Nach Aussagen des
Baurechtsexperten Gerard McLean wurden bereits eine Woche nach dem Inferno
die Bauvorschriften klargestellt. „Bei Gebäuden über 18 Meter Höhe dürfen
Außenmaterialien jetzt nur noch nur ‚begrenzt brennbar‘ sein“, erläutert
er. „Das ist ein relativ hoher Standard, jedoch nicht der allerhöchste,
denn man kann auch vollkommen nicht brennbare Materialien verwenden.“
Nahezu alle öffentlichen Eigentümer haben Außenverkleidungen geringeren
Standards von Gebäuden entfernen lassen, auch Wohnhäuser im Privatbesitz
haben fragwürdige Verdeckungen und Außenfassaden abbauen lassen.
Doch viele Belange der Überlebenden und Anwohner von Grenfell Tower bleiben
derweil ungelöst. Vor allem haben sechs Monate nach dem Brand nur rund ein
Fünftel der Opferfamilien und Familien aus der unmittelbaren Nähe zu
Grenfel Tower ein neues Zuhause gefunden, sagt Judy Bolton von der Campagne
Justice4Grenfell, die im Tower Freunde und Verwandte verloren hat und nicht
weit entfernt lebt.
## Leben im Hotelzimmer
Auf die Frage, wie es ihm gehe, bricht Professor Chris Imafidon, der im 14.
Stock des Grenfell Tower das Feuer überlebt hat, in zynisches Gelächter
aus. „Ich lebe nach wie vor in einem kleinen Hotelzimmer“, sagt er. „Ich
brauche keinen Gottesdienst, sondern die Schlüssel zu einer Wohnung. Es ist
alles ein Witz. Genug mit dem Geschwätz! Wir brauchen keinen Dienst mehr an
den Toten, sie sind alle beerdigt. Sondern Dienst an den Lebenden.“
Elizabeth Campbell, die Chefin des Gemeinderats von Kensingtons und
Chelsea, versicherte zwar, man arbeite daran, „bis Weihnachten für alle
Wohnungen zu haben“, und man kaufe im Durchschnitt zwei Wohnungen pro Tag
in der Gegend. Die Verzögerung liege nicht zuletzt an sich verändernden
Umständen. Beispielsweise bräuchte man nun fast doppelt so viele Wohnungen
wie zuerst angenommen: über 300 Wohneinheiten, da einige Familien in
übervollen Wohnungen gelebt hätten oder andere wegen des Infernos mit
Familienangehörigen oder Freunden zusammenziehen wollten.
Doch angeblich gibt es in Kensington über 1.000 leere Sozialwohnungen.
„Keiner versteht, weshalb diese nicht im Angebot stehen“, sagt Judy Bolton
von Justice4Grenfell. „Unter den etwa 1.000 Obdachlosen des Infernos gibt
es 40 Kinder. Sie dürfen nach britischem Recht nicht länger als sechs
Wochen in temporären Unterkünften untergebracht sein. Hier liegen die
Verantwortlichen schon monatelang im Rechtsbruch!“ Auf der anderen Seite
könnten Einzelpersonen nicht in bereitstehende leere Wohnungen einziehen,
da sie die niedrigste Priorität haben, auch wenn Familien mit höherer
Priorität nicht in kleine Einzimmerwohnungen passen.
## Protest statt Gedenken
Im November hatte die britische Regierung immerhin 28 Millionen Pfund (31
Millionen Euro) zur Hilfe für die Betroffenen bereitgestellt, zusätzlich zu
den 5 Millionen, die die Regierung direkt nach dem Inferno versprochen
hatte. Langsam kommen auch Dienstleistungen wie Therapie bei den
Bedürftigen an. Judy Bolton lässt sich inzwischen psychologisch beraten, es
hat sie alles mitgenommen. Es fehlen vor allem aber noch Dienste für
Kinder, und nicht nur für direkt Betroffene, sondern auch für diejenigen
Kinder, die im Feuer Freunde verloren haben, sagt sie. Ein anderes Problem
sei gewesen, dass es bis vor Kurzem keinen mobilen Dienst gab, der die
Menschen direkt in den Hotels aufsuchte.
Chris Imafidon fühlt sich müde und ausgelaugt. Man riet ihm, sich
auszuruhen, aber er kann es nicht, „da die Gemeinderegierung behauptet,
dass ich mich zu sehr aufrege, und sie schieben Leute wie mich zur Seite“.
Er hat vor, den Gedenkgottesdienst zu boykottieren und sich vor der
Kathedrale auszusprechen. „Erst braucht man ein Dach über dem Kopf, das man
ein Zuhause nennen kann. Dann kann man sich um Therapie kümmern. Wenn man
sie dann noch braucht.“
14 Dec 2017
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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