| # taz.de -- Klimawandel in Alaska: Warten auf den letzten Sturm | |
| > Die Beringsee steigt und bedroht ein kleines Dorf in Alaska. Seine | |
| > Einwohner stehen vor einer Entscheidung: Wann muss man loslassen? | |
| Bild: Der alte Standort des Dorfes Shaktoolik, verlassen seit dem Sturm von 1974 | |
| Die „Boyde J“ steht so dicht an der Rückseite von Edgar Jacksons Haus, dass | |
| man fast vom Wohnzimmer aus hineinklettern kann. Eine Leiter lehnt am | |
| metallenen Rumpf. Im Oktober hat der alte Fischer sein Krabbenboot an Land | |
| gezogen, es vollgetankt, Essens- und Wasserreserven an Bord getragen und | |
| ein hölzernes Gerüst auf das Deck gesetzt. Wenn der große Sturm kommt, vor | |
| dem sich alle in Shaktoolik fürchten, will er seine Familie an Bord | |
| bringen, eine Plane über das Holzgerüst werfen und versuchen, in Sicherheit | |
| zu fahren. | |
| „30 bis 40 Leute passen auf mein Boot“, sagt der 72-Jährige, der mehr als | |
| drei Jahrzehnte lang Bürgermeister von Shaktoolik war: „Es wird eng und | |
| kalt werden. Aber zumindest haben wir eine Überlebenschance.“ Wie fast alle | |
| 258 Einwohner des Ortes ist Edgar Jackson ein Iñupiat und gehört zu einem | |
| der mehr als 20 indigenen Völker in Alaska. Wie alle hier nennt er sich | |
| selbst Eskimo, eine Bezeichnung, die außerhalb des Ortes als altmodisch und | |
| manchen als beleidigend gilt. | |
| Shaktoolik, 700 Kilometer von Anchorage und 6.000 Kilometer von Washington | |
| entfernt, liegt am Ende einer schmalen Landzunge zwischen Tundra und | |
| Beringsee. Keine Straße führt nach Shaktoolik. Die einzige Verbindung zur | |
| Außenwelt ist die Schotterpiste, auf der kleine Propellerflugzeuge an Tagen | |
| landen können, an denen die Sicht klar ist. 60 einstöckige Häuser reihen | |
| sich rechts und links entlang der Piste. Sie führt 20 Kilometer ins | |
| Landesinnere und endet dort, die Bewohner benutzen sie, wenn sie in der | |
| Tundra jagen. Auf der Ostseite der Landzunge grenzen die Häuser an den | |
| Tagoomenik-Fluss, auf der Westseite öffnet sich hinter den Häusern die | |
| Bucht, die in die Beringsee und in den Nordpazifik übergeht. Das Meerwasser | |
| nagt an Shaktoolik. Es frisst die Küstenlinie weg. | |
| In der Inupiaq-Sprache, die nur noch die Ältesten im Ort verstehen, | |
| bedeutet Shaktoolik „vereinzelt“. Aber jetzt zerrt der Klimawandel das Dorf | |
| vom Nordwestrand des amerikanischen Kontinents ins Zentrum des globalen | |
| Geschehens. Die Temperaturen in der Region steigen zweimal so schnell wie | |
| im Durchschnitt auf der Erde. Das Meer droht den Ort zu verschlingen. | |
| Shaktoolik ist einer von vier Orten in Alaska, die laut US-Rechnungshof | |
| umgesiedelt werden müssen. | |
| „Es ist viel zu warm in Shaktoolik“, sagt Matilda Hardy. Von ihrem | |
| Wohnzimmertisch aus, hinter ihr ein Poster von Jesus’ letzten Abendmahl, | |
| blickt Hardy auf den dunklen Sandstrand, über den immer noch Meerwasser | |
| schwappt. An diesem frühen Novembertag ist es draußen nur ein Grad unter | |
| null, zehn Grad wärmer als sonst um diese Jahreszeit. Es regnet, statt zu | |
| schneien. Früher sah Hardy zu dieser Zeit Menschen über das gefrorene | |
| Meerwasser gehen, sie sah Schneebänke zwischen den Häusern wachsen, die im | |
| Winter manchmal so hoch wurden wie die Dächer. | |
| Die Iñupiat von Shaktoolik bekommen mit 55 den Ehrentitel „Älteste“. | |
| Zusätzlich dazu ist die 60-jährige Matilda Hardy die gewählte Präsidentin | |
| des Tribal Council, des Stammesrats. In der Eigenschaft sorgt sie dafür, | |
| dass in Shaktoolik das Stammesrecht respektiert wird. Wenn ein Kind seine | |
| Eltern verliert oder von ihnen verlassen wird, sucht sie nach einer neuen | |
| Familie, damit es im Dorf bleiben kann. Und wenn jemand außerhalb stirbt, | |
| organisiert sie die Rückführung, damit er auf dem kleinen Friedhof am | |
| Flughafen beigesetzt werden kann. | |
| Mitten im Ort steht das hellblau gestrichene Haus der Jacksons. Dort war | |
| die Landzunge im letzten Jahrzehnt noch mehr als 100 Meter breit. Seither | |
| ist die Beringsee 15 Meter näher gekommen. Bei Stürmen schwappt das | |
| Meerwasser bis an ihre Haustüre. | |
| Die 74-jährige Helen Jackson sitzt in einem kurzärmeligen rosafarbenen | |
| T-Shirt neben ihrem Mann auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. In der Mitte des | |
| holzgetäfelten Raums steht noch der alte gusseiserne Holzofen mit dem Rohr | |
| nach oben, aber die Wärme kommt nicht mehr von der Treibholzverbrennung, | |
| sondern von einer Gasheizung. Die Wände sind mit Plüschtieren und | |
| Familienfotos dekoriert. Auch hier hängt ein Poster des Abendmahls, wie in | |
| vielen guten Stuben von Shaktoolik. Auf einem Regal stapeln sich | |
| Basketballtrophäen der Kinder und Enkel. Helen Jackson hat ihre drei Kinder | |
| ermuntert, im Ort zu bleiben und den alten Lebensstil fortsetzen. Weil | |
| Shaktoolik sicher ist. Keine Haustüre ist abgeschlossen, nirgendwo stehen | |
| Zäune. Große Städte hält Helen Jackson – wegen der „Bomben, Terroristen… | |
| Räuber“ – für unsicher. Und: Shaktoolik ist Zuhause. | |
| An der Beringsee kommen die Stürme im Herbst und fast immer in der Nacht. | |
| Anders als die Hurrikane im Süden haben sie keine Namen. Aber sie sind | |
| zerstörerisch und eiskalt. „Bei einem großen Sturm werden hier 60 bis 70 | |
| Menschen erfrieren“, sagt Edgar Jackson, „das ist anders als in Florida und | |
| Texas“. | |
| Die Naturgewalten waren den Bewohnern von Shaktoolik lange gnädig. Sie | |
| konnten sich darauf verlassen, dass ihre weite Bucht zugefroren war, bevor | |
| die Herbststürme kamen. So konnten die Wellen nicht direkt aufs Festland | |
| branden. Doch jetzt schwinden diese Gewissheiten. Die Sommer werden länger, | |
| die Winter milder. Die Herbststürme kommen nun vor dem Eis. | |
| Selbst der Untergrund ist in Bewegung geraten. Früher hielt der Permafrost | |
| den Untergrund das ganze Jahr mit Eis zusammen. Um den Boden nicht zu | |
| erwärmen, setzen sie in Shaktoolik ihre Häuser auf Stelzen. Jetzt taut der | |
| Permafrost. Der Boden weicht auf. Trägt nicht mehr wie früher. | |
| Die Iñupiat von Shaktoolik leben seit Generationen in einer Symbiose mit | |
| der rauen Natur. Die Tundra, die Flüsse und das Meer sind ihr „Garten“. In | |
| die beiden Geschäfte, wo Hühnerschenkel und Apfelsaft fünfmal so viel | |
| kosten wie in New York, geht man nur im Notfall. Stattdessen jagen die | |
| Dorfbewohner Karibou und Elche, sammeln wilden Rhabarber, Kräuter und | |
| Beeren oder erlegen Beluga-Wale und Seehunde. Sie sagen dann: „Wir ernten.“ | |
| Jetzt müssen sie eine Lösung für das globale Problem finden, das ihren | |
| Garten bedroht. Während alles um sie herum in Bewegung geraten ist, fehlen | |
| ihnen die Worte, um es zu beschreiben. „Die Wettermuster ändern sich“, sagt | |
| man im Ort. Das klingt harmlos. Den Umgang mit dem „Wetter“ haben sie | |
| gelernt. Aber was tut man bei „Klimawandel“? Wann ist der richtige | |
| Zeitpunkt, die Heimat loszulassen? Wohin geht man? | |
| Vor allem aber: Schon wieder? | |
| In der Nacht vom 9. November 1974 brachte ein Sturm Wassermassen vom Meer | |
| und zerstörte den alten Flughafen von Shaktoolik. Die frisch Vermählten | |
| Rhoda und Eugene Asicksik schliefen ahnungslos durch jene stürmische Nacht. | |
| Erst als der junge Mann am Morgen danach auf eine Zigarette nach draußen | |
| gehen wollte, merkte er, dass Treibholz seine Haustüre blockierte. „Alles | |
| war Eis, als ich nach draußen trat“, sagt Asicksik. Das Eis legte sich wie | |
| eine Schutzschicht um die Häuser und auf den Boden und verhinderte, dass | |
| sie vom Meer weggerissen wurden. | |
| ## Ein Mann weigerte sich, wegzuziehen | |
| Der Sturm von 1974 war der Auslöser für einen Schritt, den das Dorf zehn | |
| Jahre lang vor sich hergeschoben hatte: Die Umsiedlung von Shaktoolik. | |
| Damals lag das Dorf fünf Kilometer weiter die Landzunge herunter, an einer | |
| Stelle, wo die Bucht schon am Ufer tief ist. Stürme, die Wassermassen | |
| brachten, hatten das Dorf lange bedroht. Bereits 1964 hatten die Bewohner | |
| von Shaktoolik entschieden, umzuziehen, waren aber zehn Jahre lang, bis zum | |
| großen Sturm, geblieben. | |
| Wer im Dorf der Entscheidung von damals hinterherspürt, stößt auf | |
| verschiedene Versionen. Zur Wahl gestanden hatte ein Platz am Fuß der Berge | |
| und der heutige Standort von Shaktoolik. Jene, die damals den Ausschlag | |
| gaben, sind tot. Die Nachgeborenen sagen, „die Ältesten haben entschieden“. | |
| Sie stimmten, so viel ist zu erfahren, mit einer knappen Mehrheit von zwei | |
| oder drei Stimmen gegen den Fuß der Berge. Die Ältesten wollten auf | |
| Augenhöhe mit dem Meer bleiben. Um ihre Boote ins Wasser lassen zu können, | |
| sobald ein Wal in Sicht kam. | |
| Schon damals hielten viele im Dorf die Entscheidung für falsch. Darunter | |
| auch Eugene Asicksik, der die Sturmnacht durchschlafen hatte. Er hielt den | |
| höher gelegenen Standort für sicherer. Aber er war jung und fügte sich der | |
| Weisheit der Ältesten. Das Wort „Klimawandel“ war noch nicht in | |
| Shaktoolik angekommen. Nur ein alter Mann weigerte sich wegzuziehen. Er | |
| blieb allein im alten Shaktoolik, jagte, fischte und lebte dort, bis er | |
| starb. | |
| Die Reste der alten Holzhäuser ragen wie Denkmäler einer vergangenen Zeit | |
| in den tiefliegenden Himmel. Genevieve Rock, 54, hat in einem von ihnen | |
| ihre ersten zehn Jahre verbracht. Als kleines Mädchen holte sie Wasser aus | |
| dem Fluss. Als sie im vergangenen Sommer dort Ayu-Blätter für den Tee | |
| sammelte, dachte sie an ihre Großmutter, von der sie ihren Namen hat. „Sie | |
| ist über diese Tundra gegangen, sie hat hier Beeren gesammelt“, sagt sie, | |
| während sie durch das hohe Gras zwischen zwei verrosteten Booten geht. | |
| „Wenn ich hier bin, spüre ich ihre Gegenwart.“ Rock lebte 17 Jahre lang in | |
| Anchorage. Aber als im vergangenen Jahr ihre Mutter starb und ihre Brüder | |
| sie riefen, kehrte sie mit Partner und den vier erwachsenen Kindern zurück | |
| nach Shaktoolik. | |
| ## Nur Englisch war erlaubt | |
| Nicht von den Iñupiat wurde der Standort für das alte Shaktoolik gewählt, | |
| sondern vom regierungseigenen Bureau of Indian Affairs, der Bundesbehörde, | |
| die in den gesamten Vereinigten Staaten Kinder von Ureinwohnern in Schulen | |
| gezwungen hat. In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts packte das Amt | |
| Baumaterialien in Schleppkähne und stellte eine Schule an die | |
| windgeschüttelte Stelle auf der Landzunge, wo die Entladung am einfachsten | |
| schien. Dann drängte die Behörde die Ureinwohner, die bis dahin als Nomaden | |
| lebten, sich rund um die Schule niederzulassen: „Den Kindern zuliebe.“ | |
| Edgar Jackson, der alte Fischer, ging damals in diese Schule. Wenn er | |
| Inupiaq sprach, steckten ihm die Lehrer Seife in den Mund. Nur Englisch war | |
| erlaubt. Das Misstrauen blieb an ihm haften. Um seinen Kindern die | |
| Erniedrigung zu ersparen, hat er ihnen die „alte Sprache“ nie beigebracht. | |
| Zu Hause spricht er sie nur mit seiner Frau. | |
| Gleichzeitig mit der „alten Sprache“ verschwanden auch die Schamanen, die | |
| Iñupiat-Tänze und die Trommeln aus Shaktoolik. Eugene Asicksik sagt heute: | |
| „Wir haben unsere Traditionen nicht abgeschafft. Die Missionare haben sie | |
| uns genommen.“ Er wurde als kleiner Junge in ein Internat am anderen Ende | |
| Alaskas geschickt, aus dem er erst als Erwachsener nach Hause zurückkehrte. | |
| Asicksik hat nie erfahren, ob es der Wunsch seiner Mutter war oder ob sie | |
| es auf Druck der Lehrer tat, weil sie eine Witwe war. Aber noch als | |
| 65-Jähriger senkt er seine Stimme, wenn er über die Zeit im Internat | |
| spricht. | |
| Mit dem Umzug ins neue Dorf beschleunigte sich das Leben von Shaktoolik. | |
| Das Wasser fließt jetzt aus dem Hahn. Die neuen Häuser sind aus | |
| Fertigteilen zusammengesetzt, manche sind himbeerrot, manche lila, manche | |
| türkis angestrichen. Die Bewohner tragen statt Silberfuchsfellen | |
| Isolationskleidung aus Südostasien. Die Stars der Jugendlichen von | |
| Shaktoolik sind nicht mehr die besten Jäger, sondern die Basketballspieler | |
| der Schule. Und an der Schule gibt es eine zweisprachige Lehrerin, die | |
| Inupiaq unterrichtet. | |
| Die Bevölkerung des kleinen Ortes, die von außen so geschlossen wirkt, hat | |
| in ihrem Inneren viele Bruchlinien, die mit dem Klimawandel tiefer werden. | |
| Vor allem die Jungen wollen so schnell wie möglich auf einen höher | |
| gelegenen Standort am Fuß der Berge umsiedeln. „Ihr steckt Geld in ein | |
| sinkendes Schiff“, sagt Michael Rock. Der Sohn der Spätheimkehrerin | |
| Genevieve Rock hat seine Kindheit in Anchorage verbracht, jetzt ist er 34 | |
| und lebt in Shaktoolik. Während der Fangsaison kann er dort auf einem | |
| kommerziellen Krabbenboot bis zu 8.000 Dollar im Monat verdienen – mehr als | |
| auf jeder Baustelle in Anchorage. Michael Rock hat einen pragmatischen | |
| Zugang zu Shaktoolik. | |
| Aber den Ältesten fällt es schwer, ihre bekannte Welt aufzugeben. Ihre | |
| Vorschläge sind ein Verwirrspiel. Oft widersprüchlich, unrealistisch oder | |
| vage. Edgar Jackson möchte eine befestigte und asphaltierte | |
| Evakuierungsroute zum Festland bauen. Über den Routenverlauf gibt es keine | |
| Einigkeit. Jackson möchte auch eine Notbeleuchtung, damit Boote in der | |
| Sturmnacht die Fahrrinne im Fluss finden können. Aber andere im Ort | |
| schütteln den Kopf. „Das gibt ihnen bloß das Gefühl, dass sie etwas tun“, | |
| sagt Eugene Asicksik. Schon für erfahrene Seeleute sei es eine | |
| Herausforderung, in einer Sturmnacht mit hohen Wellen und einem | |
| möglicherweise zugefrorenen Fluss auf Boote zu gehen, sagt er. Aber für | |
| Kinder und Alte sei es vor allen Dingen gefährlich. Ganz abgesehen davon | |
| ist auf den fünf großen Booten in Shaktoolik, die jetzt ganz nah an | |
| Hausfassaden geparkt sind, nicht genug Platz für alle im Dorf. | |
| Auch über die Turnhalle der Schule – die die Gemeinde als Zufluchtsort für | |
| einen Sturm ausgewählt hat – gibt es im Dorf Dissens. Weil das Gebäude | |
| unter der Wucht des Meeres einstürzen und die Zufluchtsuchenden unter sich | |
| begraben könnte. Andere halten den Bau einer Notunterkunft am Fuß der | |
| Berge, wo 251 Menschen in den Tagen bis zur Ankunft von Rettungstrupps | |
| Wärme, Wasser und Essen finden könnten, für ein überzogenes Projekt. Und | |
| Matilda Hardy, die Präsidentin des Stammesrats, prophezeit, dass die Kosten | |
| für eine Umsiedlung so hoch sein werden, dass damit garantiert jede | |
| Diskussion darüber endet. | |
| Doch im Sommer 2014 erlebte Shaktoolik einen Hauruckmoment. Eugene Asicksik | |
| war gerade der Bürgermeister des Ortes. Auswärtige Ingenieure hatten ihm | |
| vorgeschlagen, das Dorf auf der Meerseite mit einem Damm zu schützen – doch | |
| Geld für die Umsetzung gab es nicht. | |
| Asicksik fackelte nicht lange. Ohne eine Genehmigung aus Anchorage und | |
| Geld aus Washington kaufte er zwei ausrangierte Kipplaster von der | |
| US-Armee, zwei Schaufellader und einen Traktor, ließ sie per Schleppkahn | |
| nach Shaktoolik bringen und heuerte acht Leute aus dem Ort an. Die Arbeiter | |
| fuhren im immer hellen Sommer Alaskas in Tag- und Nachtschichten Schotter | |
| in den Ort und schütteten einen zwei Meter hohen und 1,6 Kilometer langen | |
| Deich auf. | |
| Der Deich hat Dutzende von Neugierigen aus anderen vom Klimawandel | |
| betroffenen Orten Alaskas nach Shaktoolik gelockt. Und er hat im Dorf die | |
| Hoffnung geweckt, dass vielleicht doch etwas möglich ist. Aber alle wissen, | |
| dass der Deich sie nicht vor einem Jahrhundertsturm schützen kann. „Im | |
| besten Fall gewinnen wir Zeit“, sagt Eugene Asicksik. Trotz des Deichs, auf | |
| den alle im Ort stolz sind, ist er nicht als Bürgermeister wiedergewählt | |
| worden. Das Ehepaar Asicksik sitzt jetzt auf gepackten Koffern. Er ist | |
| verbittert darüber, dass sein Rat nicht mehr gewollt ist. Sie sagt, das | |
| Warten auf die Katastrophe sei unheimlich. Im Januar wollen die Asicksiks | |
| umziehen. Aber Eugene Asicksik sieht es nicht als Abschied für immer. Er | |
| ist schon oft zwischen Shaktoolik und dem Rest der USA gependelt. | |
| ## Ein halbes Dutzend Behörden sind zuständig | |
| Edgar Jackson und Matilda Hardy sind Dutzende Male nach Anchorage gereist, | |
| um mit Politikern aus Alaska und Washington über Unterstützung zu sprechen. | |
| Zuletzt waren sie Anfang Dezember dort. „Sie versuchen, uns zu helfen“, | |
| sagt Edgar Jackson. Aber er befürchtet auch, dass die Hilfe „erst kommt, | |
| wenn die Katastrophe schon da ist“. Matilda Hardy fasst ihre Beobachtungen | |
| so zusammen: „Kein Geld“. Umgekehrt spüren die Behördenvertreter, dass die | |
| Vertreter aus Shaktoolik noch mit sich hadern und keine Entscheidung | |
| getroffen haben. | |
| In Anchorage und in Washington ist die prekäre Lage vieler Ureinwohner an | |
| Alaskas Küste seit Jahren bekannt. Schon 2003 mahnte der US-Rechnungshof in | |
| einem Bericht an den US-Kongress, dass die Mehrheit der 200 Küstendörfer | |
| von Erosion und Fluten bedroht seien. In einem weiteren Bericht von 2009 | |
| nannte er Shaktoolik neben Kivalina, Shishmaref und Newtok als die vier | |
| Orte, die umgesiedelt werden müssen. Weitere 27 Orte an Alaskas Küste seien | |
| ebenfalls „vom Klimawandel bedroht“. Klimaforscher prognostizieren, dass | |
| die meisten dieser Orte bis Mitte des Jahrhunderts unbewohnbar sein werden. | |
| Dennoch ist nicht viel passiert. Alle 31 Dörfer sind weiterhin an ihrem | |
| gefährlichen Standort. Newtok, dessen Bevölkerung schon seit zwanzig Jahren | |
| über eine Umsiedlung diskutiert, hat erst in diesem Jahr den Grundstein für | |
| einen neuen Ort gelegt. Es mangelt vor allem am Geld. Jede einzelne | |
| Umsiedlung würde – wegen der hohen Baukosten für Straßen, Häuser und | |
| Flughäfen in der subarktischen Region – hunderte Millionen Dollar kosten. | |
| Die Behörden lehnen die Umsiedlungen nicht grundsätzlich ab, aber sie geben | |
| auch nicht die nötigen Gelder frei. Erschwerend für die Ureinwohner kommt | |
| hinzu, dass sie ab dem Moment, in dem sie eine Umsiedlung beschließen, | |
| weniger Subventionen für den Erhalt ihrer alten Infrastruktur bekommen. | |
| Doch so eine Umsiedlung kann dauern. Und in der Zwischenzeit müssen | |
| Schotterstraßen instandgehalten, Flughäfen repariert und Krankenstationen | |
| ausgebaut werden. | |
| Umsiedlungen wegen Klimawandel sind ein neues Thema für die USA. | |
| Theoretisch betrifft es mehr als ein halbes Dutzend Behörden – vom | |
| Wohnungsbauministerium über die Umweltbehörde bis zum | |
| Landwirtschaftsministerium. Sie schieben die Verantwortung zwischen sich | |
| hin und her, keine fühlt sich zuständig. 2015 vor der Unterzeichnung des | |
| Pariser Abkommens sah es so aus, als könnte sich das ändern. Barack Obama | |
| reiste nach Alaska und sprach als erster US-Präsident öffentlich über | |
| Umsiedlungen wegen Klimawandel. Aber es blieb ein symbolischer Auftritt. | |
| Obamas Vorschlag, die Umsiedlungen mit Abgaben aus Offshorebohrungen zu | |
| finanzieren, schaffte es nicht einmal in den Kongress. Von seinem | |
| Nachfolger ist noch weniger Unterstützung zu erwarten. Donald Trump hat das | |
| Wort „Klimawandel“ aus den Dokumenten der Regierung getilgt. Beamte in | |
| Washington, die sich mit dem Thema befasst haben, sind unter ihm | |
| strafversetzt oder gefeuert worden. | |
| In Alaska ist das anders. Dort bezweifelt immerhin niemand, dass der | |
| Klimawandel real ist. Aber der Staat lebt im Rhythmus der Ölpreise. Seit | |
| die abgestürzt sind, hat er wenig Geld für neue öffentliche Projekte. Dazu | |
| kommt, dass die Lage der Dörfer längs der Küste nur eine von vielen Folgen | |
| des Klimawandels in dem Bundesstaat ist. Andere Auswirkungen sind die | |
| Übersäuerung des Meeres, die den Fischbestand bedroht, der Schädlingsbefall | |
| sowie die Brände, die in den Wäldern wüten, und die Straßen, die wegen der | |
| Schmelze des Permafrosts einbrechen. | |
| Eine kleine Bundesbehörde mit Sitz in Anchorage, die Denali Commission, | |
| berät die betroffenen Dörfer. Aber in einem Bundesstaat, doppelt so groß | |
| wie Texas, sind die Möglichkeiten der 15 Beschäftigten begrenzt. „Wir | |
| könnten helfen, wenn wir als Land eine langfristige Strategie in der | |
| Klimapolitik hätten“, sagt Joel Niemeyer von der Kommission, „aber wir | |
| haben keine.“ | |
| Eine andere Lobby außerhalb des Ortes haben die Bewohner von Shaktoolik | |
| nicht. Die Ureinwohner stellen heute nur noch 15 Prozent der 700.000 | |
| Bewohner in Alaska. Und sie sind keineswegs ein geschlossener Block. Sie | |
| kommen aus verschiedenen Sprachen und Kulturen, und eine Mehrheit von ihnen | |
| lebt nicht mehr in kleinen Dörfern, sondern in Städten. | |
| Aber in einem Punkt sind sich alle Bewohner von Shaktoolik und der anderen | |
| vom Untergang bedrohten Orte entlang der Küste Alaskas einig: Sie wollen | |
| unter sich bleiben. Jedes Mal, wenn aus Washington das Ansinnen kommt, | |
| mehrere Dörfer zusammenzulegen, um Kosten zu sparen, winken sie ab. | |
| „Wir sind alle anders“, sagt Matilda Hardy kategorisch, „wir haben | |
| unterschiedliche Kulturen und unterschiedliches Essen.“ Die Präsidentin des | |
| Tribal Council blickt von ihrem Wohnzimmertisch auf den Schotterdeich, das | |
| Meer und den Sonnenuntergang, der im Spätherbst Stunden dauert. Sie hofft, | |
| dass die zweisprachige Lehrerin an der Schule die Kinder wieder für Inupiaq | |
| begeistert. Dass die jungen Leute, die gegangen sind, zurückkommen. Und | |
| dass sie sich „weniger mit Technologie und mehr mit Sprache“ befassen. Im | |
| Hintergrund piepst ein Funkgerät. Hardys Sohn arbeitet für die | |
| Fluggesellschaft. Wenn eine Propellermaschine im Anflug ist, bekommt er | |
| eine Funknachricht. Dann muss er die Passagiere in Shaktoolik anrufen, ihr | |
| Gewicht und das ihres Gepäcks erfassen und so viele, wie das Flugzeug | |
| transportieren kann, zum Flugplatz bringen. | |
| „Ich will hier nicht weg“, sagt die Mutter, „ich hoffe, Shaktoolik schafft | |
| es noch 30 Jahre.“ | |
| 15 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Hahn | |
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