# taz.de -- Klimawandel in Alaska: Warten auf den letzten Sturm | |
> Die Beringsee steigt und bedroht ein kleines Dorf in Alaska. Seine | |
> Einwohner stehen vor einer Entscheidung: Wann muss man loslassen? | |
Bild: Der alte Standort des Dorfes Shaktoolik, verlassen seit dem Sturm von 1974 | |
Die „Boyde J“ steht so dicht an der Rückseite von Edgar Jacksons Haus, dass | |
man fast vom Wohnzimmer aus hineinklettern kann. Eine Leiter lehnt am | |
metallenen Rumpf. Im Oktober hat der alte Fischer sein Krabbenboot an Land | |
gezogen, es vollgetankt, Essens- und Wasserreserven an Bord getragen und | |
ein hölzernes Gerüst auf das Deck gesetzt. Wenn der große Sturm kommt, vor | |
dem sich alle in Shaktoolik fürchten, will er seine Familie an Bord | |
bringen, eine Plane über das Holzgerüst werfen und versuchen, in Sicherheit | |
zu fahren. | |
„30 bis 40 Leute passen auf mein Boot“, sagt der 72-Jährige, der mehr als | |
drei Jahrzehnte lang Bürgermeister von Shaktoolik war: „Es wird eng und | |
kalt werden. Aber zumindest haben wir eine Überlebenschance.“ Wie fast alle | |
258 Einwohner des Ortes ist Edgar Jackson ein Iñupiat und gehört zu einem | |
der mehr als 20 indigenen Völker in Alaska. Wie alle hier nennt er sich | |
selbst Eskimo, eine Bezeichnung, die außerhalb des Ortes als altmodisch und | |
manchen als beleidigend gilt. | |
Shaktoolik, 700 Kilometer von Anchorage und 6.000 Kilometer von Washington | |
entfernt, liegt am Ende einer schmalen Landzunge zwischen Tundra und | |
Beringsee. Keine Straße führt nach Shaktoolik. Die einzige Verbindung zur | |
Außenwelt ist die Schotterpiste, auf der kleine Propellerflugzeuge an Tagen | |
landen können, an denen die Sicht klar ist. 60 einstöckige Häuser reihen | |
sich rechts und links entlang der Piste. Sie führt 20 Kilometer ins | |
Landesinnere und endet dort, die Bewohner benutzen sie, wenn sie in der | |
Tundra jagen. Auf der Ostseite der Landzunge grenzen die Häuser an den | |
Tagoomenik-Fluss, auf der Westseite öffnet sich hinter den Häusern die | |
Bucht, die in die Beringsee und in den Nordpazifik übergeht. Das Meerwasser | |
nagt an Shaktoolik. Es frisst die Küstenlinie weg. | |
In der Inupiaq-Sprache, die nur noch die Ältesten im Ort verstehen, | |
bedeutet Shaktoolik „vereinzelt“. Aber jetzt zerrt der Klimawandel das Dorf | |
vom Nordwestrand des amerikanischen Kontinents ins Zentrum des globalen | |
Geschehens. Die Temperaturen in der Region steigen zweimal so schnell wie | |
im Durchschnitt auf der Erde. Das Meer droht den Ort zu verschlingen. | |
Shaktoolik ist einer von vier Orten in Alaska, die laut US-Rechnungshof | |
umgesiedelt werden müssen. | |
„Es ist viel zu warm in Shaktoolik“, sagt Matilda Hardy. Von ihrem | |
Wohnzimmertisch aus, hinter ihr ein Poster von Jesus’ letzten Abendmahl, | |
blickt Hardy auf den dunklen Sandstrand, über den immer noch Meerwasser | |
schwappt. An diesem frühen Novembertag ist es draußen nur ein Grad unter | |
null, zehn Grad wärmer als sonst um diese Jahreszeit. Es regnet, statt zu | |
schneien. Früher sah Hardy zu dieser Zeit Menschen über das gefrorene | |
Meerwasser gehen, sie sah Schneebänke zwischen den Häusern wachsen, die im | |
Winter manchmal so hoch wurden wie die Dächer. | |
Die Iñupiat von Shaktoolik bekommen mit 55 den Ehrentitel „Älteste“. | |
Zusätzlich dazu ist die 60-jährige Matilda Hardy die gewählte Präsidentin | |
des Tribal Council, des Stammesrats. In der Eigenschaft sorgt sie dafür, | |
dass in Shaktoolik das Stammesrecht respektiert wird. Wenn ein Kind seine | |
Eltern verliert oder von ihnen verlassen wird, sucht sie nach einer neuen | |
Familie, damit es im Dorf bleiben kann. Und wenn jemand außerhalb stirbt, | |
organisiert sie die Rückführung, damit er auf dem kleinen Friedhof am | |
Flughafen beigesetzt werden kann. | |
Mitten im Ort steht das hellblau gestrichene Haus der Jacksons. Dort war | |
die Landzunge im letzten Jahrzehnt noch mehr als 100 Meter breit. Seither | |
ist die Beringsee 15 Meter näher gekommen. Bei Stürmen schwappt das | |
Meerwasser bis an ihre Haustüre. | |
Die 74-jährige Helen Jackson sitzt in einem kurzärmeligen rosafarbenen | |
T-Shirt neben ihrem Mann auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer. In der Mitte des | |
holzgetäfelten Raums steht noch der alte gusseiserne Holzofen mit dem Rohr | |
nach oben, aber die Wärme kommt nicht mehr von der Treibholzverbrennung, | |
sondern von einer Gasheizung. Die Wände sind mit Plüschtieren und | |
Familienfotos dekoriert. Auch hier hängt ein Poster des Abendmahls, wie in | |
vielen guten Stuben von Shaktoolik. Auf einem Regal stapeln sich | |
Basketballtrophäen der Kinder und Enkel. Helen Jackson hat ihre drei Kinder | |
ermuntert, im Ort zu bleiben und den alten Lebensstil fortsetzen. Weil | |
Shaktoolik sicher ist. Keine Haustüre ist abgeschlossen, nirgendwo stehen | |
Zäune. Große Städte hält Helen Jackson – wegen der „Bomben, Terroristen… | |
Räuber“ – für unsicher. Und: Shaktoolik ist Zuhause. | |
An der Beringsee kommen die Stürme im Herbst und fast immer in der Nacht. | |
Anders als die Hurrikane im Süden haben sie keine Namen. Aber sie sind | |
zerstörerisch und eiskalt. „Bei einem großen Sturm werden hier 60 bis 70 | |
Menschen erfrieren“, sagt Edgar Jackson, „das ist anders als in Florida und | |
Texas“. | |
Die Naturgewalten waren den Bewohnern von Shaktoolik lange gnädig. Sie | |
konnten sich darauf verlassen, dass ihre weite Bucht zugefroren war, bevor | |
die Herbststürme kamen. So konnten die Wellen nicht direkt aufs Festland | |
branden. Doch jetzt schwinden diese Gewissheiten. Die Sommer werden länger, | |
die Winter milder. Die Herbststürme kommen nun vor dem Eis. | |
Selbst der Untergrund ist in Bewegung geraten. Früher hielt der Permafrost | |
den Untergrund das ganze Jahr mit Eis zusammen. Um den Boden nicht zu | |
erwärmen, setzen sie in Shaktoolik ihre Häuser auf Stelzen. Jetzt taut der | |
Permafrost. Der Boden weicht auf. Trägt nicht mehr wie früher. | |
Die Iñupiat von Shaktoolik leben seit Generationen in einer Symbiose mit | |
der rauen Natur. Die Tundra, die Flüsse und das Meer sind ihr „Garten“. In | |
die beiden Geschäfte, wo Hühnerschenkel und Apfelsaft fünfmal so viel | |
kosten wie in New York, geht man nur im Notfall. Stattdessen jagen die | |
Dorfbewohner Karibou und Elche, sammeln wilden Rhabarber, Kräuter und | |
Beeren oder erlegen Beluga-Wale und Seehunde. Sie sagen dann: „Wir ernten.“ | |
Jetzt müssen sie eine Lösung für das globale Problem finden, das ihren | |
Garten bedroht. Während alles um sie herum in Bewegung geraten ist, fehlen | |
ihnen die Worte, um es zu beschreiben. „Die Wettermuster ändern sich“, sagt | |
man im Ort. Das klingt harmlos. Den Umgang mit dem „Wetter“ haben sie | |
gelernt. Aber was tut man bei „Klimawandel“? Wann ist der richtige | |
Zeitpunkt, die Heimat loszulassen? Wohin geht man? | |
Vor allem aber: Schon wieder? | |
In der Nacht vom 9. November 1974 brachte ein Sturm Wassermassen vom Meer | |
und zerstörte den alten Flughafen von Shaktoolik. Die frisch Vermählten | |
Rhoda und Eugene Asicksik schliefen ahnungslos durch jene stürmische Nacht. | |
Erst als der junge Mann am Morgen danach auf eine Zigarette nach draußen | |
gehen wollte, merkte er, dass Treibholz seine Haustüre blockierte. „Alles | |
war Eis, als ich nach draußen trat“, sagt Asicksik. Das Eis legte sich wie | |
eine Schutzschicht um die Häuser und auf den Boden und verhinderte, dass | |
sie vom Meer weggerissen wurden. | |
## Ein Mann weigerte sich, wegzuziehen | |
Der Sturm von 1974 war der Auslöser für einen Schritt, den das Dorf zehn | |
Jahre lang vor sich hergeschoben hatte: Die Umsiedlung von Shaktoolik. | |
Damals lag das Dorf fünf Kilometer weiter die Landzunge herunter, an einer | |
Stelle, wo die Bucht schon am Ufer tief ist. Stürme, die Wassermassen | |
brachten, hatten das Dorf lange bedroht. Bereits 1964 hatten die Bewohner | |
von Shaktoolik entschieden, umzuziehen, waren aber zehn Jahre lang, bis zum | |
großen Sturm, geblieben. | |
Wer im Dorf der Entscheidung von damals hinterherspürt, stößt auf | |
verschiedene Versionen. Zur Wahl gestanden hatte ein Platz am Fuß der Berge | |
und der heutige Standort von Shaktoolik. Jene, die damals den Ausschlag | |
gaben, sind tot. Die Nachgeborenen sagen, „die Ältesten haben entschieden“. | |
Sie stimmten, so viel ist zu erfahren, mit einer knappen Mehrheit von zwei | |
oder drei Stimmen gegen den Fuß der Berge. Die Ältesten wollten auf | |
Augenhöhe mit dem Meer bleiben. Um ihre Boote ins Wasser lassen zu können, | |
sobald ein Wal in Sicht kam. | |
Schon damals hielten viele im Dorf die Entscheidung für falsch. Darunter | |
auch Eugene Asicksik, der die Sturmnacht durchschlafen hatte. Er hielt den | |
höher gelegenen Standort für sicherer. Aber er war jung und fügte sich der | |
Weisheit der Ältesten. Das Wort „Klimawandel“ war noch nicht in | |
Shaktoolik angekommen. Nur ein alter Mann weigerte sich wegzuziehen. Er | |
blieb allein im alten Shaktoolik, jagte, fischte und lebte dort, bis er | |
starb. | |
Die Reste der alten Holzhäuser ragen wie Denkmäler einer vergangenen Zeit | |
in den tiefliegenden Himmel. Genevieve Rock, 54, hat in einem von ihnen | |
ihre ersten zehn Jahre verbracht. Als kleines Mädchen holte sie Wasser aus | |
dem Fluss. Als sie im vergangenen Sommer dort Ayu-Blätter für den Tee | |
sammelte, dachte sie an ihre Großmutter, von der sie ihren Namen hat. „Sie | |
ist über diese Tundra gegangen, sie hat hier Beeren gesammelt“, sagt sie, | |
während sie durch das hohe Gras zwischen zwei verrosteten Booten geht. | |
„Wenn ich hier bin, spüre ich ihre Gegenwart.“ Rock lebte 17 Jahre lang in | |
Anchorage. Aber als im vergangenen Jahr ihre Mutter starb und ihre Brüder | |
sie riefen, kehrte sie mit Partner und den vier erwachsenen Kindern zurück | |
nach Shaktoolik. | |
## Nur Englisch war erlaubt | |
Nicht von den Iñupiat wurde der Standort für das alte Shaktoolik gewählt, | |
sondern vom regierungseigenen Bureau of Indian Affairs, der Bundesbehörde, | |
die in den gesamten Vereinigten Staaten Kinder von Ureinwohnern in Schulen | |
gezwungen hat. In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts packte das Amt | |
Baumaterialien in Schleppkähne und stellte eine Schule an die | |
windgeschüttelte Stelle auf der Landzunge, wo die Entladung am einfachsten | |
schien. Dann drängte die Behörde die Ureinwohner, die bis dahin als Nomaden | |
lebten, sich rund um die Schule niederzulassen: „Den Kindern zuliebe.“ | |
Edgar Jackson, der alte Fischer, ging damals in diese Schule. Wenn er | |
Inupiaq sprach, steckten ihm die Lehrer Seife in den Mund. Nur Englisch war | |
erlaubt. Das Misstrauen blieb an ihm haften. Um seinen Kindern die | |
Erniedrigung zu ersparen, hat er ihnen die „alte Sprache“ nie beigebracht. | |
Zu Hause spricht er sie nur mit seiner Frau. | |
Gleichzeitig mit der „alten Sprache“ verschwanden auch die Schamanen, die | |
Iñupiat-Tänze und die Trommeln aus Shaktoolik. Eugene Asicksik sagt heute: | |
„Wir haben unsere Traditionen nicht abgeschafft. Die Missionare haben sie | |
uns genommen.“ Er wurde als kleiner Junge in ein Internat am anderen Ende | |
Alaskas geschickt, aus dem er erst als Erwachsener nach Hause zurückkehrte. | |
Asicksik hat nie erfahren, ob es der Wunsch seiner Mutter war oder ob sie | |
es auf Druck der Lehrer tat, weil sie eine Witwe war. Aber noch als | |
65-Jähriger senkt er seine Stimme, wenn er über die Zeit im Internat | |
spricht. | |
Mit dem Umzug ins neue Dorf beschleunigte sich das Leben von Shaktoolik. | |
Das Wasser fließt jetzt aus dem Hahn. Die neuen Häuser sind aus | |
Fertigteilen zusammengesetzt, manche sind himbeerrot, manche lila, manche | |
türkis angestrichen. Die Bewohner tragen statt Silberfuchsfellen | |
Isolationskleidung aus Südostasien. Die Stars der Jugendlichen von | |
Shaktoolik sind nicht mehr die besten Jäger, sondern die Basketballspieler | |
der Schule. Und an der Schule gibt es eine zweisprachige Lehrerin, die | |
Inupiaq unterrichtet. | |
Die Bevölkerung des kleinen Ortes, die von außen so geschlossen wirkt, hat | |
in ihrem Inneren viele Bruchlinien, die mit dem Klimawandel tiefer werden. | |
Vor allem die Jungen wollen so schnell wie möglich auf einen höher | |
gelegenen Standort am Fuß der Berge umsiedeln. „Ihr steckt Geld in ein | |
sinkendes Schiff“, sagt Michael Rock. Der Sohn der Spätheimkehrerin | |
Genevieve Rock hat seine Kindheit in Anchorage verbracht, jetzt ist er 34 | |
und lebt in Shaktoolik. Während der Fangsaison kann er dort auf einem | |
kommerziellen Krabbenboot bis zu 8.000 Dollar im Monat verdienen – mehr als | |
auf jeder Baustelle in Anchorage. Michael Rock hat einen pragmatischen | |
Zugang zu Shaktoolik. | |
Aber den Ältesten fällt es schwer, ihre bekannte Welt aufzugeben. Ihre | |
Vorschläge sind ein Verwirrspiel. Oft widersprüchlich, unrealistisch oder | |
vage. Edgar Jackson möchte eine befestigte und asphaltierte | |
Evakuierungsroute zum Festland bauen. Über den Routenverlauf gibt es keine | |
Einigkeit. Jackson möchte auch eine Notbeleuchtung, damit Boote in der | |
Sturmnacht die Fahrrinne im Fluss finden können. Aber andere im Ort | |
schütteln den Kopf. „Das gibt ihnen bloß das Gefühl, dass sie etwas tun“, | |
sagt Eugene Asicksik. Schon für erfahrene Seeleute sei es eine | |
Herausforderung, in einer Sturmnacht mit hohen Wellen und einem | |
möglicherweise zugefrorenen Fluss auf Boote zu gehen, sagt er. Aber für | |
Kinder und Alte sei es vor allen Dingen gefährlich. Ganz abgesehen davon | |
ist auf den fünf großen Booten in Shaktoolik, die jetzt ganz nah an | |
Hausfassaden geparkt sind, nicht genug Platz für alle im Dorf. | |
Auch über die Turnhalle der Schule – die die Gemeinde als Zufluchtsort für | |
einen Sturm ausgewählt hat – gibt es im Dorf Dissens. Weil das Gebäude | |
unter der Wucht des Meeres einstürzen und die Zufluchtsuchenden unter sich | |
begraben könnte. Andere halten den Bau einer Notunterkunft am Fuß der | |
Berge, wo 251 Menschen in den Tagen bis zur Ankunft von Rettungstrupps | |
Wärme, Wasser und Essen finden könnten, für ein überzogenes Projekt. Und | |
Matilda Hardy, die Präsidentin des Stammesrats, prophezeit, dass die Kosten | |
für eine Umsiedlung so hoch sein werden, dass damit garantiert jede | |
Diskussion darüber endet. | |
Doch im Sommer 2014 erlebte Shaktoolik einen Hauruckmoment. Eugene Asicksik | |
war gerade der Bürgermeister des Ortes. Auswärtige Ingenieure hatten ihm | |
vorgeschlagen, das Dorf auf der Meerseite mit einem Damm zu schützen – doch | |
Geld für die Umsetzung gab es nicht. | |
Asicksik fackelte nicht lange. Ohne eine Genehmigung aus Anchorage und | |
Geld aus Washington kaufte er zwei ausrangierte Kipplaster von der | |
US-Armee, zwei Schaufellader und einen Traktor, ließ sie per Schleppkahn | |
nach Shaktoolik bringen und heuerte acht Leute aus dem Ort an. Die Arbeiter | |
fuhren im immer hellen Sommer Alaskas in Tag- und Nachtschichten Schotter | |
in den Ort und schütteten einen zwei Meter hohen und 1,6 Kilometer langen | |
Deich auf. | |
Der Deich hat Dutzende von Neugierigen aus anderen vom Klimawandel | |
betroffenen Orten Alaskas nach Shaktoolik gelockt. Und er hat im Dorf die | |
Hoffnung geweckt, dass vielleicht doch etwas möglich ist. Aber alle wissen, | |
dass der Deich sie nicht vor einem Jahrhundertsturm schützen kann. „Im | |
besten Fall gewinnen wir Zeit“, sagt Eugene Asicksik. Trotz des Deichs, auf | |
den alle im Ort stolz sind, ist er nicht als Bürgermeister wiedergewählt | |
worden. Das Ehepaar Asicksik sitzt jetzt auf gepackten Koffern. Er ist | |
verbittert darüber, dass sein Rat nicht mehr gewollt ist. Sie sagt, das | |
Warten auf die Katastrophe sei unheimlich. Im Januar wollen die Asicksiks | |
umziehen. Aber Eugene Asicksik sieht es nicht als Abschied für immer. Er | |
ist schon oft zwischen Shaktoolik und dem Rest der USA gependelt. | |
## Ein halbes Dutzend Behörden sind zuständig | |
Edgar Jackson und Matilda Hardy sind Dutzende Male nach Anchorage gereist, | |
um mit Politikern aus Alaska und Washington über Unterstützung zu sprechen. | |
Zuletzt waren sie Anfang Dezember dort. „Sie versuchen, uns zu helfen“, | |
sagt Edgar Jackson. Aber er befürchtet auch, dass die Hilfe „erst kommt, | |
wenn die Katastrophe schon da ist“. Matilda Hardy fasst ihre Beobachtungen | |
so zusammen: „Kein Geld“. Umgekehrt spüren die Behördenvertreter, dass die | |
Vertreter aus Shaktoolik noch mit sich hadern und keine Entscheidung | |
getroffen haben. | |
In Anchorage und in Washington ist die prekäre Lage vieler Ureinwohner an | |
Alaskas Küste seit Jahren bekannt. Schon 2003 mahnte der US-Rechnungshof in | |
einem Bericht an den US-Kongress, dass die Mehrheit der 200 Küstendörfer | |
von Erosion und Fluten bedroht seien. In einem weiteren Bericht von 2009 | |
nannte er Shaktoolik neben Kivalina, Shishmaref und Newtok als die vier | |
Orte, die umgesiedelt werden müssen. Weitere 27 Orte an Alaskas Küste seien | |
ebenfalls „vom Klimawandel bedroht“. Klimaforscher prognostizieren, dass | |
die meisten dieser Orte bis Mitte des Jahrhunderts unbewohnbar sein werden. | |
Dennoch ist nicht viel passiert. Alle 31 Dörfer sind weiterhin an ihrem | |
gefährlichen Standort. Newtok, dessen Bevölkerung schon seit zwanzig Jahren | |
über eine Umsiedlung diskutiert, hat erst in diesem Jahr den Grundstein für | |
einen neuen Ort gelegt. Es mangelt vor allem am Geld. Jede einzelne | |
Umsiedlung würde – wegen der hohen Baukosten für Straßen, Häuser und | |
Flughäfen in der subarktischen Region – hunderte Millionen Dollar kosten. | |
Die Behörden lehnen die Umsiedlungen nicht grundsätzlich ab, aber sie geben | |
auch nicht die nötigen Gelder frei. Erschwerend für die Ureinwohner kommt | |
hinzu, dass sie ab dem Moment, in dem sie eine Umsiedlung beschließen, | |
weniger Subventionen für den Erhalt ihrer alten Infrastruktur bekommen. | |
Doch so eine Umsiedlung kann dauern. Und in der Zwischenzeit müssen | |
Schotterstraßen instandgehalten, Flughäfen repariert und Krankenstationen | |
ausgebaut werden. | |
Umsiedlungen wegen Klimawandel sind ein neues Thema für die USA. | |
Theoretisch betrifft es mehr als ein halbes Dutzend Behörden – vom | |
Wohnungsbauministerium über die Umweltbehörde bis zum | |
Landwirtschaftsministerium. Sie schieben die Verantwortung zwischen sich | |
hin und her, keine fühlt sich zuständig. 2015 vor der Unterzeichnung des | |
Pariser Abkommens sah es so aus, als könnte sich das ändern. Barack Obama | |
reiste nach Alaska und sprach als erster US-Präsident öffentlich über | |
Umsiedlungen wegen Klimawandel. Aber es blieb ein symbolischer Auftritt. | |
Obamas Vorschlag, die Umsiedlungen mit Abgaben aus Offshorebohrungen zu | |
finanzieren, schaffte es nicht einmal in den Kongress. Von seinem | |
Nachfolger ist noch weniger Unterstützung zu erwarten. Donald Trump hat das | |
Wort „Klimawandel“ aus den Dokumenten der Regierung getilgt. Beamte in | |
Washington, die sich mit dem Thema befasst haben, sind unter ihm | |
strafversetzt oder gefeuert worden. | |
In Alaska ist das anders. Dort bezweifelt immerhin niemand, dass der | |
Klimawandel real ist. Aber der Staat lebt im Rhythmus der Ölpreise. Seit | |
die abgestürzt sind, hat er wenig Geld für neue öffentliche Projekte. Dazu | |
kommt, dass die Lage der Dörfer längs der Küste nur eine von vielen Folgen | |
des Klimawandels in dem Bundesstaat ist. Andere Auswirkungen sind die | |
Übersäuerung des Meeres, die den Fischbestand bedroht, der Schädlingsbefall | |
sowie die Brände, die in den Wäldern wüten, und die Straßen, die wegen der | |
Schmelze des Permafrosts einbrechen. | |
Eine kleine Bundesbehörde mit Sitz in Anchorage, die Denali Commission, | |
berät die betroffenen Dörfer. Aber in einem Bundesstaat, doppelt so groß | |
wie Texas, sind die Möglichkeiten der 15 Beschäftigten begrenzt. „Wir | |
könnten helfen, wenn wir als Land eine langfristige Strategie in der | |
Klimapolitik hätten“, sagt Joel Niemeyer von der Kommission, „aber wir | |
haben keine.“ | |
Eine andere Lobby außerhalb des Ortes haben die Bewohner von Shaktoolik | |
nicht. Die Ureinwohner stellen heute nur noch 15 Prozent der 700.000 | |
Bewohner in Alaska. Und sie sind keineswegs ein geschlossener Block. Sie | |
kommen aus verschiedenen Sprachen und Kulturen, und eine Mehrheit von ihnen | |
lebt nicht mehr in kleinen Dörfern, sondern in Städten. | |
Aber in einem Punkt sind sich alle Bewohner von Shaktoolik und der anderen | |
vom Untergang bedrohten Orte entlang der Küste Alaskas einig: Sie wollen | |
unter sich bleiben. Jedes Mal, wenn aus Washington das Ansinnen kommt, | |
mehrere Dörfer zusammenzulegen, um Kosten zu sparen, winken sie ab. | |
„Wir sind alle anders“, sagt Matilda Hardy kategorisch, „wir haben | |
unterschiedliche Kulturen und unterschiedliches Essen.“ Die Präsidentin des | |
Tribal Council blickt von ihrem Wohnzimmertisch auf den Schotterdeich, das | |
Meer und den Sonnenuntergang, der im Spätherbst Stunden dauert. Sie hofft, | |
dass die zweisprachige Lehrerin an der Schule die Kinder wieder für Inupiaq | |
begeistert. Dass die jungen Leute, die gegangen sind, zurückkommen. Und | |
dass sie sich „weniger mit Technologie und mehr mit Sprache“ befassen. Im | |
Hintergrund piepst ein Funkgerät. Hardys Sohn arbeitet für die | |
Fluggesellschaft. Wenn eine Propellermaschine im Anflug ist, bekommt er | |
eine Funknachricht. Dann muss er die Passagiere in Shaktoolik anrufen, ihr | |
Gewicht und das ihres Gepäcks erfassen und so viele, wie das Flugzeug | |
transportieren kann, zum Flugplatz bringen. | |
„Ich will hier nicht weg“, sagt die Mutter, „ich hoffe, Shaktoolik schafft | |
es noch 30 Jahre.“ | |
15 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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