# taz.de -- Die Wahrheit: Tod im Entsafter | |
> Wie die Europäische Union bis auf den heutigen Tag mitleids- und | |
> gedankenlos die Diskriminierung von Obst und Gemüse fördert. | |
Bild: EU-Beamte wissen überhaupt nicht, was sie hier wieder angerichtet haben | |
„Das ist kein Trend mehr. Das ist eine Epidemie. Und an allem ist die EU | |
schuld.“ Christine Landmann schüttelt verärgert den Kopf und tippt mit dem | |
Zeigefinger auf einen Zeitungsartikel. „Auch in meiner Praxis erlebe ich | |
täglich Klienten, die durch die vorgegebenen Normen ins Abseits gedrängt | |
werden und damit psychisch nicht zurechtkommen.“ | |
Seit die eloquente Hamburger Psychologin sich vor zwei Jahren auf Obst und | |
Gemüse – im Fachjargon „vegetabilische Klienten“ – spezialisiert hat, … | |
sie von Anfragen geradezu überrannt. „Nehmen wir etwa das Beispiel der | |
Möhre R., die vor drei Wochen zu mir kam: schwere Depression mit | |
Selbstmordgedanken. Und das nur, weil sie wegen der engstirnigen | |
Qualitätsnormen keine Chance auf einen Platz im Supermarkt hat. In den | |
Bioläden ist auch kein Unterkommen mehr; dort ist der Markt an krudem Obst | |
und Gemüse komplett gesättigt.“ | |
Das Tragische daran sei, so Psychologin Landmann, dass die EU zwar seit | |
2009 nur noch für wenige Obst- und Gemüsesorten Vermarktungsnormen | |
definiert, dass die allermeisten Supermarktverbraucher aber durch die | |
früheren Direktiven, die für insgesamt 36 Sorten galten, an den Anblick | |
perfekt normierter Ware gewöhnt seien. Deshalb würde die Mehrheit der Groß- | |
und Einzelhändler unkonventionell geformtes Obst und Gemüse gar nicht erst | |
einkaufen. Die einstmals überaus strengen, diskriminierenden EU-Normen und | |
die daraus resultierende Gewöhnung der Verbraucher seien schuld daran, | |
„dass sehr viele vegetabilische Klienten mit pathologischen | |
Körperbildstörungen in meine Praxis kommen“. | |
## Keine Dutzendware | |
Landmann zeigt uns ein Bild, natürlich anonymisiert. Tatsächlich, im | |
Vergleich zur Dutzendware, die wir gewöhnlich in den Regalen finden, sieht | |
diese Möhre geradezu entstellt aus, denn statt einer Wurzel, wie es die | |
EU-Norm früher vorsah, hat sie zwei. Bei dem Anblick muss man einen | |
Ekelimpuls unterdrücken. Hat die Psychologin etwas gemerkt? „Diese Möhre | |
möchte genauso anerkannt und wertgeschätzt werden wie Sie und ich“, sagt | |
Christine Landmann, und man hört einen Hauch von Zurechtweisung in ihrer | |
Stimme. | |
Der Trend, so die Psychologin, gehe im Allgemeinen trotz der abgemilderten | |
EU-Norm zu immer perfekterem Obst und Gemüse. „Es soll alles schön gerade | |
und standardisiert in den Regalen liegen oder aber rund und makellos“, | |
schnaubt sie. „Dabei wissen diese EU-Beamten gar nicht, was sie angerichtet | |
haben.“ Was solle sie einer Paprika oder Kartoffel, die verzweifelt in ihre | |
Praxis komme, sagen, wenn es heißt, sie sei lediglich „zur Tierfütterung | |
bestimmt“? | |
„Diese Klienten entwickeln immer wieder Symptome wie Zwangshandlungen oder | |
selbstverletzendes Verhalten“, so Landmann. „Da muss ich erst einmal | |
Aufbauarbeit leisten.“ | |
Sie berichtet von der heranwachsenden Aubergine M. – diese sei viel zu früh | |
geerntet worden und habe nicht nur unter ihrer Körperbildstörung, sondern | |
auch unter der frühen Trennung von ihrer Familie zu leiden. Wieder zeigt | |
sie ein anonymisiertes Bild: Ja, die Frucht sieht grotesk verdreht aus – | |
und scheint Einschnitte in der Haut aufzuweisen. Wer da nicht würgt oder | |
zumindest schluckt, hat keine Seele. „Sehen Sie“, sagt die Psychologin, der | |
unsere Reaktion nicht entgangen ist. „Sie fügt sich selbst Schnitte zu, um | |
die Spannung loszuwerden, unter der sie aufgrund ihrer seelischen Störung | |
leidet.“ | |
„Können Sie sich daran erinnern, dass herzförmige Kartoffeln mal als | |
Sympathieträger galten?“, fragt Landmann. Natürlich. „Die Zeiten sind | |
vorbei. Heute müssen Kartoffeln rund oder oval geformt sein. Sonst können | |
sie nicht automatisch geschält werden. Herz ist out.“ In welchen Zeiten | |
leben wir bloß? | |
Auch wenn Christine Landmann den meisten Klienten helfen kann, sich selbst | |
wieder zu akzeptieren, gehen nicht alle Geschichten gut aus. „Einst kam ein | |
junger Apfel zu mir, ein Finkenwerder Herbstprinz.“ Landmanns Blick | |
schweift in die Ferne. „Er litt darunter, dass er Schorfstellen hatte und | |
deshalb nicht in den Verkauf kam. Er hatte mit seinem Leben quasi schon | |
abgeschlossen, doch seine Familie drängte ihn, mich aufzusuchen.“ | |
## Sensibler Charakter | |
Landmann seufzt und scheint um Fassung zu ringen. Erst nach einer kurzen | |
Pause kann sie weitersprechen. „Er war ein feiner, sensibler Charakter, er | |
schrieb sogar Haikus. Wir haben an seinem Selbstvertrauen gearbeitet, und | |
ich fand, er war auf einem guten Weg. Er fing an, wieder unter Leute zu | |
gehen und knüpfte sogar zarte Bande zu einer Goldparmäne aus der | |
Nachbarschaft. Doch dann …“ | |
Sie presst die Augenlider aufeinander und holt tief Luft. „Dann kam die | |
schreckliche Nachricht, dass er sich in einem Entsafter das Leben genommen | |
hat.“ Christine Landmann drückt die Fingerspitzen gegen die Stirn und atmet | |
mehrmals tief ein und aus. „Ich weiß, ich sollte eine professionelle | |
Distanz wahren“, sagt sie mit brüchiger Stimme, „aber dieser Fall ist mir | |
einfach persönlich sehr nahegegangen.“ | |
Es wäre nicht das erste Mal, dass sich zwischen Therapeutin und Klient eine | |
Liebesbeziehung entwickelt hätte; Goldparmäne hin oder her. Unter dem | |
Eindruck dieser Tragödie hat sich Landmann ehrenamtlich einem Netzwerk | |
angeschlossen, das sich die Vermarktung und Verwertung von nicht | |
normgerechtem Obst und Gemüse auf die Fahnen geschrieben hat. Außerdem habe | |
sie sich bewusst 20 Kilo Übergewicht zugelegt. „So wird mein Anliegen | |
wirklich konkret und leibhaftig sichtbar: Ich entspreche nicht der Norm und | |
darf doch einfach so sein, wie ich bin.“ Sie ist sich sicher: „Tausende | |
Melonen, Erdbeeren, Gurken und Artischocken werden es mir auf ewig danken.“ | |
22 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Tanja Küddelsmann | |
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