| # taz.de -- Auf Eisbärentour in der Arktis: Churchill, die Eisbärenstadt, tau… | |
| > Im kanadischen Churchill treffen jeden Herbst Menschen und Eisbären | |
| > aufeinander. Der Klimawandel macht ihre Begegnungen komplizierter. | |
| Bild: Noch sind sie die Könige der Arktis. Wenn jedoch das Eis nicht mehr häl… | |
| Die Stadt Churchill in der kanadischen Provinz Manitoba wäre eigentlich | |
| nicht der Rede wert. In dem 800-Seelen-Kaff gibt es neben Bank und Postamt, | |
| dem Flugzeugwrack „Miss Piggy“ und einem völlig nutzlosen Fort der Hudson | |
| Bay Company aus dem 17. Jahrhundert wenig zu sehen. Im einzigen Supermarkt | |
| liegt welker Salat im Regal – neben Kettenöl und Handschuhen. Und der | |
| Winter ist mit über sechs Monaten so lang, dass die Stadt im | |
| Verwaltungskomplex einen Indoorspielplatz eingerichtet hat. | |
| Doch wenn im Herbst nach gerade mal vier Wochen Sommer die Tage kühler | |
| werden, platzt Churchill jedes Jahr aus allen Nähten. Dann nämlich sammeln | |
| sich Dutzende Eisbären rings um den Ort. Im breiten, flachen Mündungsdelta | |
| des Churchill River friert das weniger salzhaltige Meer besonders früh zu. | |
| Eher als andernorts können die Räuber der Arktis hier zurück aufs Eis und | |
| damit nach Monaten des Hungerns an Luftlöchern im Eis endlich wieder fetten | |
| Robben auflauern. | |
| An der Grenze vom borealen Nadelwald zur subarktischen Tundra gibt es in | |
| Churchill damit für wenige Wochen im Jahr die relativ bequeme Chance zu | |
| einer Begegnung mit dem größten Landräuber der Erde. | |
| Jud Jones ist in diesen Wochen von Mitte Oktober bis Ende November jeden | |
| Morgen schon früh auf den Beinen. Zum Sonnenaufgang gegen 8.30 Uhr startet | |
| die kleine Frau mit den Rastazöpfen unter dem dicken Stirnband den | |
| Dieselmotor ihres Arctic Crawler. Auf alten Militärpisten rumpelt das | |
| monströse Gefährt der örtlichen Lazy Baer Lodge mit zahlungskräftigen | |
| Kunden aus aller Welt anschließend Stunde um Stunde durch die | |
| windgepeitschte Küstenlandschaft. | |
| Vor vier Jahren zog Jud, die früher als Segellehrerin gearbeitet hat, in | |
| den Norden Manitobas und hat hier inzwischen sogar ein Haus gekauft. „Ich | |
| liebe Churchill und die Bären“, sagt sie. Doch außer ein paar Schneehühnern | |
| und einer Maus ist bei Temperaturen von drei Grad plus zunächst nichts zu | |
| entdecken. | |
| ## Eisbären leben von der Substanz | |
| „Die Bären befinden sich in einer Art wachem Winterschlaf“, erklärt Jud | |
| ihren Gästen. An Land fänden sie kaum Nahrung. Ein paar Gänseeier | |
| vielleicht oder hier und da einen Lemming. Während sich andere Tiere im | |
| Sommer den Bauch vollschlagen, leben Eisbären von der Substanz. | |
| Am Nachmittag entdeckt Jud dann doch einen gelben Fleck in den schütteren | |
| Weiden. Einmal reckt er den Kopf und zeigt seine große schwarze Nase. Dann | |
| legt sich der Bär wieder schlafen. | |
| „Für die Bären wird es enger“, glaubt Lorraine Brandson. Seit ihrer Ankun… | |
| 1973 verfolgt die Kuratorin im liebevoll gepflegten Itsanitaq-Museum die | |
| Entwicklung. Seither haben sich Weiden, Elche und Rotfüchse in der Gegend | |
| breitgemacht. Vor ihrer Hütte, 17 Meilen vor der Stadt, musste Lorraine | |
| früher viel mehr Schnee schaufeln. Stärkere Herbststürme aus einer anderen | |
| Windrichtung treiben ihn heute oft davon. Vor allem aber friere das Meer | |
| später zu. Anfang der 80er Jahre gab es Eisbärentouren bis zum 9. November, | |
| erinnert sich die Einheimische. Heute fahren die Crawler und Tundra Buggys | |
| bis zum 25. November. 2016 gingen die letzten Bären sogar erst am 6. | |
| Dezember aufs Eis. Brandson ist überzeugt: „Der Klimawandel bringt nicht | |
| nur Wärme. Er bringt vor allem Chaos“. | |
| Viele Inuit glauben dennoch, es gebe heute mehr Eisbären als früher. | |
| Melissa Gibbons weiß es besser. Die Biologin der staatlichen | |
| Nationalparkbehörde hat ihr Büro im alten Bahnhof von Churchill. Von hier | |
| aus organisiert sie den Schutz natürlicher Ressourcen im nahen | |
| Wapsuk-Nationalpark. „Dass man mehr Tiere sieht, heißt nur, dass sich mehr | |
| in der Nähe von Siedlungen aufhalten“, sagt sie. Die insgesamt fast vier | |
| Wochen längere eisfreie Zeit setze den Tieren zu. Konflikte mit Menschen | |
| seien damit wahrscheinlicher als früher. | |
| Die Eisbären der westlichen Hudson Bay gelten als die am besten erforschte | |
| der weltweit 19 Unterpopulationen. Von 1987 bis 2004 ist ihre Zahl von | |
| 1.194 auf 935 Tiere geschrumpft, zitiert Gibbons aus den einzigen | |
| belastbaren Daten, die es zur Bestandsentwicklung der Eisbären gibt. Im | |
| Wapsuk-Nationalpark kommt ein Großteil der Jungtiere um Weihnachten herum | |
| in unterirdischen Höhlen zur Welt. Doch auch wenn nur 150 Menschen im Jahr | |
| den Park besuchen, droht den Bären selbst hier durch den menschengemachten | |
| Klimawandel Gefahr. „Mit zunehmender Wärme im Sommer wächst das Risiko für | |
| Waldbrände. Die Wurzeln toter Bäume können die Geburtshöhlen im Schnee | |
| nicht mehr halten. Mütter und Kinder drohen im Schnee zu ersticken“, sagt | |
| Gibbons. | |
| ## Der Hafen ist verwaist | |
| Im Seaport Hotel empfängt Besitzer Michael Spence zum Gespräch. Seit zwei | |
| Jahrzehnten ist der in Churchill geborene Hotelier Bürgermeister der | |
| Kommune. Auch Spence sorgt sich um die Zukunft. | |
| Churchill, im 17. Jahrhundert, als Posten im Fellhandel entstanden, war vor | |
| 100 Jahren mit dem Bahnanschluss nach Winnipeg als Exporthafen für Kanadas | |
| Getreidegürtel wichtig geworden. Doch heute liegt der Hafen verwaist da. | |
| Schwere Überschwemmungen im Mai haben das Bahngleis auf dem zusehends | |
| auftauenden Permafrostboden an zwölf Stellen unterspült. Die Reparaturen | |
| werden Millionen kosten. Noch ist unklar, ob und wann die Strecke wieder | |
| befahrbar ist. Einige Familien haben den Ort schon verlassen. Für den | |
| Winter müssen Brennstoff und alles Nötige teuer eingeflogen werden. „Wir | |
| müssen das hinkriegen“, sagt Spence. Der Staat müsse Churchill helfen. | |
| Mit den Eisbären haben sie sich im Ort hingegen arrangiert. In der Provinz | |
| ist die Jagd verboten, die Müllhalde in der Stadt ist in einem alten Hangar | |
| sicher verborgen. Und die vierköpfige Bärenpatrouille der Stadt sorgt rund | |
| um die Uhr für Sicherheit auf den Straßen. Neugierige Bären fangen die | |
| Männer ein und sperren sie vier Wochen lang in eine dunkle Quarantänehalle | |
| am Flughafen. | |
| Von einem „Eisbärengefängnis“ wollen sie vor Ort nichts hören. Da die B�… | |
| in dieser Zeit ohnehin meist schliefen, sei ihr Aufenthalt in der | |
| Quarantäne keine Belastung. „Dort vergessen sie hoffentlich, was sie hier | |
| wollten“, sagt Spence. Anschließend bringt man die Tiere zurück in die | |
| Natur. Statt 15 Abschüssen wie im Jahr zuvor werden mit dem Programm nur | |
| noch ein bis zwei Bären im Jahr in Notwehr erschossen. | |
| Auch Jud Jones hat immer ein Gewehr für den Fall der Fälle bei sich, wenn | |
| sie mit Gruppen zur Eisbärensuche aufbricht. Zwei Tage später hat der Wind | |
| schneidig aufgefrischt. Das Thermometer zeigt minus 6 Grad. Draußen in der | |
| Tundra kündigt sich nun endlich der Winter an. Die Eisbären scheinen den | |
| Umschwung zu spüren. Immer wieder sichten die Besucher von der hohen Warte | |
| ihres Expeditionsgefährts aus schwarze Nasen im gelben Fell. Auch eine | |
| Mutter mit ihren zwei Jungtieren aus dem letzten Dezember ist unterwegs zur | |
| Küste. Ein guter Tag für den Ökotourismus. | |
| Wie lange das Geschäft mit den Bären in Churchill noch läuft, ist indessen | |
| unsicher. Erste Anbieter setzen neuerdings zusätzlich auf | |
| Hundeschlittenfahrten in einem dreirädrigen Wagen, Nordlichter im Frühling | |
| und weiße Belugawale vor der Küste im Sommer. Aber nichts geht doch über | |
| die Eisbären. Noch sind sie die Könige der Arktis. | |
| 18 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Wein | |
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