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# taz.de -- Asylrecht: Vor Verzweiflung wie gelähmt
> Die Trennung von der Familie sei sehr belastend, erzählen zwei syrische
> Flüchtlinge. Sie haben Angst, dass die neue Regierung den Familiennachzug
> weiter aussetzt.
Bild: Abdulahim Atta und Khalid Sharro in Sharros neuem Appartement
Khalid Sharro hat Glück gehabt. Seit einem Monat hat der junge Syrer eine
eigene Wohnung, ein Ein-Zimmer-Appartement auf der Fischerinsel, fast in
Sichtweite der Schlossbaustelle. Endlich raus aus dem Wohnheim, wo er mehr
als zwei Jahre lebte, raus aus der Enge, dem Lärm. Richtig freuen kann sich
Sharro aber nicht, erzählt er bei Tee und Baklava am neuen Esstisch. Denn
er hat auch Pech gehabt: Wie viele Syrer hat er kein „richtiges Asyl“
bekommen, sondern nur „subsidiären Schutz“.
Heißt: Seine Frau konnte er bislang nicht aus Syrien nachholen.
Familiennachzug sei erst „ab dem 16. März 2018“ möglich, steht in dem
Schreiben vom Bundesamt für Migration von Flüchtlingen (Bamf), das ihm
seinen Rechtsstatus erläutert. Wütend faltet er das Papier zusammen. „Die
Politik macht nicht, was sie sagt“, schimpft der 24-Jährige. Sein Freund
Abdulahim Atta stimmt zu: „Wir Flüchtlinge sind die Opfer der Kämpfe
zwischen den Parteien.“
Tatsächlich könnte es sein, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit
subsidiärem Schutzstatus weiter ausgesetzt bleibt. CDU und CSU, die diese
Verschärfung des Asylrechts im März 2016 durchgesetzt hatten, wollen die
Regelung zwei weitere Jahre verlängern. In den Sondierungsgesprächen mit
FDP und Grünen ist die Frage am heutigen Donnerstag zum ersten Mal Thema.
Die Grünen sind für Familiennachzug. Der bayerische Innenminister Joachim
Herrmann (CSU) sprach daher vorab von „großen Diskrepanzen“, auch FDP-Chef
Christian Lindner erklärte, er rechne beim Thema Familiennachzug „absolut“
mit einem Konflikt mit den Grünen.
Für Flüchtlinge wie Sharro und Atta, die seit zwei Jahren diesem Datum
entgegengefiebert haben, sei diese Aussicht „ein Schock“, sagt Atta.
Ohnehin sei das Leben hier schwierig für Flüchtlinge, viele seien „fast den
ganzen Tag allein in ihrem Zimmer im Wohnheim, sie können nur warten“,
hätten außer ihrem Deutschkurs nichts zu tun, keine Freunde, meist keine
Arbeit. Dazu komme die ständige Sorge um ihre Angehörigen, die vielen den
Schlaf raube.
## „Weiß nicht, was morgen ist“
Atta weiß, wovon er spricht. Der frühere Englischlehrer hat in Berlin eine
Fortbildung zum psychosozialen Berater gemacht und hatte bis vor Kurzem
regelmäßig Sprechstunden in zahlreichen Wohnheimen. Jetzt macht er mit bei
einem Programm für „Flüchtlingslehrer“, wie er sagt, in Potsdam. „In
eineinhalb Jahren kann ich vielleicht Hilfslehrer werden.“ Er mache das,
weil er hier weiterkommen wolle, „ich möchte auch nicht untätig sein, aber
ich weiß nicht, was morgen ist.“
Vielleicht muss er doch zurückgehen, überlegt er immer wieder, zu seiner
Frau und den vier Kindern nach Kamishli im Norden Syriens. Allerdings wäre
das gefährlich, weil Atta – wie Sharro auch – vom Militärdienst desertiert
ist. „Aber meine Familie ist mein Leben“, sagt Atta. Und der älteste Sohn,
14, wolle schon nicht mehr mit ihm sprechen. „Er ist wütend, weil ich so
lange weg bin.“ Die Tochter, 10, weine immer gleich am Telefon.
Der Bundesinnenminister, der den Familiennachzug nicht will, sagt, dieser
überfordere die „Integrationsfähigkeit“ Deutschlands. Zudem sei die
Trennung von Familien ja nur vorübergehend, bis der Krieg vorbei sei.
## Wer ist überfordert und womit?
Sharro muss darüber böse lachen. „Was heißt Überforderung? Die Flüchtlin…
kommen ja nicht zum Urlaubmachen, in Syrien ist Krieg!“ Und der, befürchtet
Atta, werde so schnell wohl auch nicht vorbei sein.
Zudem gefährdet die weitere Aussetzung des Familiennachzugs ganz
offenkundig die „Integrationsfähigkeit“ der Flüchtlinge. Sharro etwa, der
in Syrien Anglistik studiert und gerade seinen B1-Deutschkurs erfolgreich
abgeschlossen hat, wollte eigentlich noch B2 dranhängen und dann eine
Ausbildung zum Zahntechniker machen. „Aber ich kann mich nicht aufraffen,
ich bin wie gelähmt. Wenn meine Frau nicht herkommen darf, ist mir
Deutschland auch nicht mehr so wichtig.“
So sitzt er untätig in seiner neuen Wohnung, trifft ab und zu seine
(deutschen) Freunde – und grübelt viel. Etwa über das, was einem Freund von
ihm passiert ist, der in Dortmund lebt. Der habe auch subsidiären Schutz
und wollte seine Frau illegal mit Schleppern herholen. Sie sei auf der
Flucht im Fluss an der Grenze zur Türkei ertrunken. „Wie kann er jetzt
leben und hier für Deutschland arbeiten“, fragt Sharro anklagend.
Wenn die Politik nun tatsächlich Ernst macht, ist die letzte Hoffnung für
die beiden ihre Klage gegen den Asylbescheid. Wie tausende andere Syrer
wollen sie per Gericht erreichen, „echtes“ Asyl nach Genfer
Flüchtlingskonvention zu bekommen, denn dann könnten sie ihre Familien
herholen (siehe Kasten). Die Berliner Gerichte sind inzwischen derart
überfordert, dass zum Beispiel Atta seit elf Monaten auf eine Entscheidung
wartet.
Kommt es aber so weit, entscheide das Verwaltungsgericht sehr oft zu
Gunsten der Flüchtlinge, erklärt Attas Anwältin Berenice Böhlo. Nur lege
das BAMF fast immer dagegen Berufung ein. So war es auch bei Sharro – also
muss er weiter warten.
26 Oct 2017
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Asylrecht
Subsidiärer Schutz
Familiennachzug
Familiennachzug
Schwerpunkt Syrien
Familiennachzug
Asylrecht
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