# taz.de -- Vorlagen für Videogames: Mit dem Leben spielen | |
> Videospiele stehen für Fantastik und unendliche Möglichkeiten. Was aber, | |
> wenn plötzlich die Realität hereinbricht? | |
Bild: „The Town of Light“ spielt in einer Nervenheilanstalt | |
Denkt man an Videospiele, denkt man wohl vor allem an fantastische Welten. | |
An fremde Orte. An Eskapismus vielleicht. Jedenfalls an die beinahe | |
endlosen Möglichkeiten, die Spiele bieten wollen. Die wenigstens denken an | |
wahre Geschichten. An Erzählungen von Personen und Ereignissen, die | |
tatsächlich passiert sind. Doch diese Geschichten gibt es auch in | |
Computerspielen. Wenn sie oftmals nur still und leise erzählt werden. | |
So etwa in „[1][The Town of Light]“. Die Spieler*innen betreten eine | |
Anstalt für psychisch kranke Menschen. Es ist dunkel, das Gebäude | |
zerfallen. Das kennende Auge sieht direkt, dass dieses Spiel Angst | |
verbreiten soll. Die Schublade öffnet sich: ein Horrorspiel. Das Erkunden | |
dieses Schattenortes ist von unheimlichen Geräuschen begleitet. Dort knarrt | |
ein Fenster, hier schließt sich eine Tür – waren das etwa Schritte? | |
Tatsächlich wird „The Town of Light“ den Spieler*innen auch deshalb mulmige | |
Gefühle machen, weil es auf einer wahren Geschichte beruht. Das Spiel | |
entführt ins Italien der 1940er Jahre. Damals nannte man solche Orte noch | |
Nervenheilanstalten oder gar Irrenanstalten. Erspielbar wird hier das | |
Schicksal einer Frau, die als Mädchen hier gefangen war. Krankenakten | |
lesen. Röntgenbilder anschauen. Rückblenden, die furchtbare Akte des | |
Missbrauchs zeigen. Das sind Teile eines Spiels, das nicht unterhalten | |
möchte, sondern erkunden. | |
Viele Videospiele haben eine Struktur, die ihnen zugrunde liegt: Im Zentrum | |
steht eine Person – als Held oder Heldin deklariert –, die eine | |
transzendente, also außerweltliche, göttliche, Botschaft erhält. Du musst | |
die Welt retten. In das bis zum Anfang des Spiels oftmals ordinäre Leben | |
der Spielfigur bricht diese göttliche Aufgabe herein und verändert alles. | |
Spiele, die von wahren Geschichten erzählen, funktionieren ganz anders. | |
Hier bricht die Realität plötzlich ins Spiel herein. Und das verändert | |
alles. | |
## Das Ende ist klar | |
Videospiele wollen den Spieler*innen suggerieren, dass das Ende immer offen | |
ist. Sie leben von der Veränderbarkeit, davon, dass endlose Möglichkeiten | |
offenstehen. | |
Die Veränderbarkeit des Videospiels trifft hier auf die Unveränderbarkeit | |
gelebter Geschichte. Es entsteht eine Reibung, die keinen Ausweg zeigt: Ihr | |
könnt tun, was ihr wollt, ihr könnt nichts ändern. Aber ihr könnt fühlen, | |
wie es war, wie es ist. | |
„[2][That Dragon Cancer]“ ist eines der bekanntesten Spiele dieser Gattung. | |
Die Spieler*innen erleben fantastische Episoden in einem bunten Grafikstil. | |
Sie nehmen verschiedene Perspektiven ein, sind plötzlich eine Ente, dann | |
wieder ein Baby, dann wieder ein Vater. Doch trotz der vielen Möglichkeiten | |
gibt es eine Option nicht: dieses Spiel zu gewinnen. Denn es erzählt die | |
Geschichte eines trauernden Vaters und seines Sohnes, der sehr jung an | |
Krebs stirbt. Diesem Spiel ist die Agenda der Spieler*innen egal. Sie | |
können sich auflehnen gegen die Ungerechtigkeit dieses Schicksals. Sie | |
können versuchen entgegenzusteuern, sich gegen die Spielmechaniken zu | |
werfen – doch es wird nichts bringen. Denn immer und immer weiter wird sich | |
das Spiel auf den Tod des Jungen zubewegen. Ganz so, wie der Krebs immer | |
weiter voranschreitet. | |
Diese Spiele können dabei helfen, die Welt erfahrbar zu machen. Schicksale | |
von Menschen zu erspielen, die tatsächlich existierten. Geschichtliche | |
Hintergründe gibt es in Videospielen freilich schon lange. Bekannt dafür | |
ist etwa die „[3][Assassin’s Creed]“-Reihe. Sie bietet in jedem Teil ein | |
neues historisches Szenario: Französische Revolution, das England der | |
Industrialisierung. Im neuen Teil, der Ende Oktober erscheinen soll, werden | |
die Spieler*innen in das Ägypten der Pharaonen versetzt. Diese Szenarien | |
wollen Ästhetik, Geschehnisse und Personen dieser Zeiten möglichst | |
detailgetreu wiedergeben. Dafür werden Millionen für Recherche und | |
Modellierung ausgegeben. Aber die Spieler*innen steuern Charaktere vor | |
diesen Kulissen, denen alle Wege offenstehen. Die spielbaren Figuren sind | |
fiktiv, bewegen sich in einer riesigen Spielwelt. Sie können gehen, wohin | |
das Auge reicht. Sie kennen die Grenzen der Realität nicht. | |
## Realismus und Fantasie | |
Mit Grenzen spielen derweil immer mehr Spiele. Etwa die Grenzen der eigenen | |
Psyche. „[4][Hellblade]“ beschäftigt sich mit einer nordischen Kriegerin, | |
die nicht nur gegen andere kämpft, sondern vor allem gegen ihre eigene | |
psychischen Erkrankung. Sie hört Stimmen, wird gequält von der Unruhe in | |
ihrem eigenen Kopf. Das ist jedoch kein Vorwand, um die Figur etwa | |
unberechenbarer erscheinen zu lassen. Vielmehr gab das Entwicklerstudio | |
Ninja Theory selbst an, dass sie mit Expert*innen zusammengearbeitet haben, | |
um diese Krankheit so realistisch wie möglich erfahrbar zu machen. Es ging | |
ihnen um einen Realismus innerhalb eines fantastischen Spiels, der die | |
gesamte Reise der Kriegerin auch als Parabel auf eine tiefe Depression | |
lesbar macht. | |
Auch mit Grenzen politischer Natur werden Spieler*innen in einigen Spielen | |
konfrontiert. So gibt es nicht erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise | |
Spiele, die Geschichten von geflüchteten Menschen erzählen. Einige davon | |
sind nicht fiktiv, sondern handeln von wahren Biografien. So etwa im Spiel | |
„[5][Path Out]“, das im vierten Quartal 2017 erscheinen soll. In diesem | |
erzählt Abdullah Karam selbst von seiner Flucht aus dem syrischen Krieg im | |
Stile eines Adventures. „Bury me, my love“ wiederum mag zwar keine „wahre… | |
Geschichte erzählen, dafür aber eine Geschichte, die in dieser Art wohl | |
zuhauf passiert ist. Denn in diesem Mobil-Spiel wird die Perspektive eines | |
Ehemanns eingenommen, der in Syrien zurückbleiben musste. Er bekommt | |
Handy-Nachrichten seiner Frau und versucht, aus diesen schlau zu werden. Wo | |
ist die Frau gerade? Wie geht es ihr? | |
So unterschiedlich diese Spiele auch sind, ihnen ist eines gemein: Sie | |
machen unsere Realität spielbar. Sie konfrontieren die Spieler*innen in | |
diesem interaktiven Medium mit der Unveränderbarkeit. Aus dieser Reibung | |
können sich bisher noch ungeahnte Möglichkeiten ergeben. Wer Schicksale | |
nachspielen lässt, erhebt Empathie zu einem zentralen Element des Spiels. | |
Denkt man also an Videospiele, wird man wohl künftig öfter auch an die | |
wahren Geschichten des Lebens denken. | |
24 Oct 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.thetownoflight.com/ | |
[2] http://www.thatdragoncancer.com/ | |
[3] https://assassinscreed.ubisoft.com/game/de-de/home/ | |
[4] http://store.steampowered.com/app/414340/agecheck | |
[5] http://causacreations.net/portfolio/path-out/ | |
## AUTOREN | |
Matthias Kreienbrink | |
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