| # taz.de -- Debatte Junge WählerInnen: Ich suchte Politik und fand sie nicht | |
| > Unsere Autorin hat sich auf ihre erste Wahl gefreut, zwischendurch aber | |
| > fast aufgegeben. Denn es geht um mehr als ein Häkchen auf der | |
| > To-Do-Liste. | |
| Bild: Die fünf Minuten im Wahllokal sind nur die Spitze des Eisbergs | |
| In einigen Momenten fühlt sich die bevorstehende Wahl wie eine lästige | |
| Angelegenheit an. Etwas, das man eben einfach erledigen muss. Vergleichbar | |
| mit der Zimmerpflanze, die ich nach dem Urlaub nicht nur ausgetrocknet, | |
| sondern auch von Läusen befallen aufgefunden habe. „Ach nee. Jetzt muss ich | |
| mich da auch noch drum kümmern“, „Jetzt muss ich mir auch noch überlegen, | |
| wen ich wähle“. | |
| Vor einigen Monaten war ich hinsichtlich der Bundestagswahl richtig | |
| euphorisch. Ich las zahlreiche Artikel und die Wahlprogramme, suchte mir | |
| TV-Debatten raus. Ich war bereit, diesen Wahlkampf regelrecht in mich | |
| aufzusaugen, um schließlich die Partei zu finden, für deren Politik ich die | |
| Hand ins Feuer legen würde. | |
| Und zwar nicht, weil ich den Kandidaten so sympathisch, attraktiv oder | |
| einfach vertrauensvoll finde. Sondern weil ich überzeugende Argumente dafür | |
| kenne, dass diese Politik das erreichen kann, was ich mir für diese | |
| Gesellschaft wünsche. | |
| Ich trat also meine kleine politische Reise an, suchte nach Diskurs, nach | |
| Argumenten und Gegenargumenten. Und wurde enttäuscht – denn ich stieß nur | |
| auf starre Fronten und Schuldzuweisungen. | |
| ## Abfällige, sarkastische Kommentare | |
| Zunächst versuchte ich es mit den TV-Debatten. Das Thema Mietpreise | |
| interessiert mich; für mein WG-Zimmer in Münster zahle ich schließlich | |
| weitaus mehr als meine früheren Schulkameraden, die in unbeliebtere Städte | |
| gezogen sind. Leider fand ich im Verlauf der Talk-Show ungefähr gar nichts | |
| über die Faktoren heraus, die die Mietpreise steuern, noch darüber, wieso | |
| die Maßnahmen, die von den Parteien vorgeschlagen werden, so effektiv und | |
| sinnvoll sein sollen. | |
| Natürlich habe ich trotzdem etwas mitgenommen: Nach nur zehn Minuten wusste | |
| ich ganz genau, welcher der Gesprächsteilnehmer mit wem nicht so gut | |
| konnte. Denn abfällige, sarkastische Kommentare und Sätze wie „Sie sind ja | |
| eh die Verschwörungstheoretikerin Deutschlands!“ (Olaf Scholz zu Sahra | |
| Wagenknecht) dominierten die „Debatte“. | |
| Thesen wurden in den Raum geworfen, es folgten darauf keine plausiblen | |
| Begründungen – und ich fragte mich, ob sich einer von den Politikern dort | |
| im kleinen Fernsehbildschirm überhaupt mit dem Thema Mietpreise | |
| auseinandergesetzt hatte. Wie kann man so lange eine Diskussion führen, | |
| ohne ein gutes Argument in den Raum zu werfen? Wie kann man so lange über | |
| ein Thema diskutieren, ohne über das Thema zu diskutieren? | |
| Das dämpfte meine Euphorie, aber ich wollte nicht aufgeben. Am nächsten Tag | |
| informierte ich mich online darüber, wie Mietpreise überhaupt | |
| funktionieren. Ich erkannte, dass das Ganze eine ziemlich komplizierte | |
| Angelegenheit ist; eine gute Politik wahrscheinlich mehrmals um die Ecke | |
| denken muss, um einen Ansatz zu entwickeln, der Mietpreise erfolgreich und | |
| nachhaltig senken kann. | |
| ## Ping-Pong-Spiel | |
| Mit dem neu erlangten Wissen aus meiner Recherche ließen sich die | |
| Forderungen der Parteien erst beurteilen. Wie könnte jemand ohne dieses | |
| Wissen entscheiden, welche Politik in Sachen Mietpreise überhaupt sinnvoll | |
| ist? Schließlich klingen die Forderungen der Parteien alle „irgendwie | |
| logisch“. Zumindest solange man selber nicht wirklich etwas darüber weiß | |
| und niemand Gegenargumente liefert. | |
| Wie soll man also entscheiden, wo man das Kreuzchen setzt, wenn man nur ein | |
| Ping-Pong-Spiel an Vorwürfen verfolgt und Parteiprogramme liest, die alle | |
| auf den ersten Blick Sinn machen? | |
| Ich vermute, dass dann das Bauchgefühl die Entscheidung trifft. Man wägt | |
| keine rationalen Vor- und Nachteile ab (kann man ja auch schlecht ohne | |
| entsprechendes Wissen). Man lässt die affektiven und emotionalen | |
| Einstellungen ans Steuer. | |
| Diese stützen sich zu einem Großteil darauf, welche Partei die schönsten | |
| Wahlplakate hat, was die Eltern früher am Küchentisch rausgehauen haben | |
| oder welches Stereotyp einem am besten gefällt: Möchte ich zu den | |
| Öko-Grünen? Zu den Karriere-FDPlern? Oder doch lieber zu den linken | |
| Rebellen, den Robin Hoods unserer Zeit? | |
| ## Besessen von der Suche nach der Debatte | |
| Als nächstes versuchte ich es bei meinen Kommilitonen. Neben dem Café | |
| klebte ein Wahlplakat von den Grünen, also fragte ich meine Begleitung, wie | |
| sie die Grünen fände. Sie verdrehte nur angewidert die Augen. Ich lachte, | |
| stellte laut fest, dass sie die Grünen wohl nicht möge, und fragte warum | |
| denn genau. Sie hob nur die Augenbrauen. Fragte mich, ob ich die Grünen | |
| mögen würde. | |
| „Schlecht finde ich deren Ideen nicht“, antwortete ich. Hoffte, dass jetzt | |
| endlich ein Gespräch entstehen könnte. Aber vergeblich. Die Antwort, die | |
| ich bekam, raubte mir die letzte Hoffnung an den Diskurs, den ich gerade so | |
| brauchte: „Dann sollten wir beide uns lieber nicht über Politik | |
| unterhalten.“ | |
| Gerade finde ich Politik furchtbar. Absolut unerträglich. Aber ich bin | |
| immer noch besessen. Besessen von der Suche nach dem, was Politik ausmachen | |
| sollte: Eine qualitativ hochwertige Debatte, die Themen in den Mittelpunkt | |
| stellt. In der Realität geht es oft nicht um Themen, es geht um Gesichter, | |
| Politiker, Images. | |
| Dabei wird vergessen, dass man eine komplexe Welt nicht mit einer Handvoll | |
| Parteien erklären kann. Politische Orientierung sollte ein dynamischer, | |
| vielleicht lebenslänglicher Prozess sein, der sich Ideen aus verschiedenen | |
| Quellen holt und sich keiner einzigen Partei zuordnen muss. | |
| Eine Wahlentscheidung ist mehr als ein Kreuz, mehr als ein abgehakter Punkt | |
| auf der To-Do-Liste. Sie geht darüber hinaus, wen man wählt. Politik fängt | |
| mit Wissen an und mit Mut. Denn auf jede schlaue Idee wird ein Gegeneinwand | |
| folgen. | |
| Das kann unglaublich anstrengend sein. Doch einfach in Schubladen zu | |
| denken, die Wahlentscheidung der Eltern zu übernehmen und bestimmte Ideen | |
| von vornherein abzulehnen, ist keine Alternative, denn sie lässt objektiven | |
| und reflektierten Umgang mit politischen Belangen gar nicht zu. | |
| Mein Kreuz werde ich schon setzen. Ich werde abwägen und eine Entscheidung | |
| treffen. Doch die fünf Minuten im Wahllokal sind nur die Spitze des | |
| Eisbergs. Der große Rest sollte auch berücksichtigt werden: Dazu braucht es | |
| transparente Informationen, einen sorgfältigen Diskurs und den Konsens, | |
| dass es in der Politik ideal – sogar notwendig – ist, nicht immer einer | |
| Meinung zu sein. | |
| Es braucht den Mut jedes Einzelnen: Wir sollten uns trauen, zuzuhören und | |
| die Einwände anderer zu begrüßen. Auch wenn diese hin und wieder das eigene | |
| Weltbild durchschütteln. | |
| 24 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Anastasia Kourti | |
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