# taz.de -- Debatte ErstwählerInnen: Zukunft ist immer ein Kompromiss | |
> Was für ein Deutschland wünschen wir 18-Jährigen uns? Bisschen links, | |
> bisschen grün, bisschen konservativ, definitiv merkelig – und mit | |
> Freibier. | |
Bild: Wo soll's langgehen? Erstmal ins Wahlbüro, egal wie | |
„Ein Deutschland mit Freibier 24/7 wäre voll nice.“ | |
Montag, fünfte Stunde, noch wenige Tage bis zur Bundestagswahl. Ein paar | |
lachen, andere klatschen. Zustimmung. Die Klasse ist jetzt aufmerksam. Die | |
Frage der Englischlehrerin war, wie ein Deutschland unserer | |
Wunschvorstellung aussehen würde. | |
„Und natürlich mit legalisiertem Gras“, sagt der Nächste. | |
„Sonst noch was?“, fragt die Lehrerin agitiert. Keine weiteren Meldungen. | |
Hausaufgabe: zweiseitiges Essay. Das ist ihre Rache. „Diesmal mit | |
ernsthaften Antworten“, sagt sie, dabei waren die doch ernst gemeint. | |
Meine Lehrerin ist nicht die Einzige, die nicht happy ist. „Weißt du schon, | |
was du wählst?“, wurde ich in den letzten Wochen immer wieder gefragt. Dann | |
sage ich: „Nee, nicht so.“ | |
Die bittere Wahrheit ist: Ich weiß nicht, was für ein Deutschland ich mir | |
wünsche, und deswegen weiß auch nicht, wen ich wählen soll. | |
Das verwundert die Erwachsenen, zu denen ich mich noch nicht zähle. | |
„Häääää?“ sagen sie, „in deinem Alter, da waren wir mit Herzblut auf… | |
Straßen für eine bessere Zukunft.“ | |
Bla, bla, bla. | |
## Angela Merkel chillt nie | |
Sie fragen sich vermutlich, wo die Träume der heutigen jungen Menschen | |
geblieben sind, wo die sentimentale Weltverbesserungssehnsucht und die | |
unermüdliche Leidenschaft, welche sie einst selbst so inbrünstig verspürt | |
haben wollen. | |
Ich gehöre zur sagenumwobenen Merkel-Generation. Bekannt für die | |
Angepasstheit, fürs Chillen. Dabei chillt Angela Merkel gar nie, die hat | |
überhaupt keine Zeit zum Chillen. Trotzdem hat man das Gefühl, sie macht | |
seit zwölf Jahren nichts anderes. | |
Die Erwachsenen in Deutschland chillen in Wahrheit auch am liebsten mit | |
Merkel. Heimlich. Aber wenn wir jungen Menschen das zugeben, dann werden | |
sie sauer, kriegen rote Flecken im Gesicht. Dabei haben wir ja die Merkel | |
gar nicht gewählt, sondern sie. | |
Immer schön chillen. Das wäre mal ein grandioser Wahlkampfspruch für die | |
CDU. Doch getreu ihrem gemächlichen Ruf war Merkels Wahlkampf wenig | |
originell. Das Bildungssystem zu verbessern sei zu kompliziert, machte sie | |
mehrfach deutlich. | |
## Die Grünen müssen bei Trump abschauen | |
Und sie ist nicht die Einzige, die meine Generation ignoriert. Schon klar, | |
Merkel hat jetzt einen Instagram-Account, aber der ist so langweilig, dass | |
sie es auch gleich lassen könnte. Wie kann von uns Jungen eine glorreiche | |
Zukunftsvision erwartet werden, wenn im Wahlkampf nicht mal das kleinste | |
bisschen Zukunftseuphorie zu verspüren ist? | |
Bei der CDU ist das normal, die sind mit voller Absicht antieuphorisch, | |
aber bei den anderen Parteien ist es ein Problem. Die Grünen müssen sich | |
was bei Trump abschauen. Nicht inhaltlich, sondern wie man sich selbst als | |
gefragte Marke etabliert – und da sind sie nicht die einzige Partei. | |
Allenfalls Christian Lindner kommt ansatzweise zukunftseuphorisch rüber. | |
Vor ein bis zwei Jahren war es in meinem Freundeskreis keine Frage, was | |
gewählt wird. Grün. „Nur noch ein paar Jahre, dann werden die Grünen | |
unaufhaltsam die CDU überrennen und alleine die Regierung stellen.“ Das | |
habe ich wirklich mal in mein Tagebuch geschrieben. | |
Ich akzeptiere mittlerweile die CDU-Wähler. Vielleicht weil es jetzt die | |
AfD gibt, die einem Merkel auf einmal wie einen viel besseren Menschen | |
erscheinen lässt. Trotzdem: Beim Wahl-O-Mat sind bei meinen Freunden und | |
mir die Grünen und Linken immer noch oben. Was sich geändert hat, ist das | |
Gefühl. Die Grünen haben auf einmal einen richtigen Scheißbeigeschmack | |
gekriegt. „Ich werde Grün wählen“, das klingt jetzt ungefähr so, als hä… | |
man früher gesagt: „Ich werde CDU wählen.“ | |
## Links wählen für das sichere Gefühl | |
„Zu links, zu rechts, zu falsch“, höre ich über die Grünen. Ist aber halt | |
nur so ein Gefühl. | |
Viele von meinen Freunden wählen jetzt also links, das ist nämlich ein | |
sicheres Gefühl. Andere wollen aus Widerstand eine kleine oder Die Partei | |
wählen, aber Hauptsache, erst mal das Generationen-Manifest unterschreiben. | |
Das ist ein Vertrag, welcher in zehn Punkten zwar tolle Sachen wie Frieden | |
oder ein besseres Bildungssystem fordert, aber dabei nicht mal im Ansatz | |
konstruktiv ist. Whatever. Alle drei letzten Dinge sind scheiße. Wir | |
wollen schon voran, aber wissen nicht, wie. | |
„Bin ich froh, dass ich noch nicht wählen kann.“ Das habe ich nicht nur | |
einmal gehört. Manchmal sagen wir in der Pause: Rot-Rot-Grün! Das klingt | |
korrekt. Aber mehr auch nicht. Wir sind ein bisschen links, wir sind ein | |
bisschen grün, wir sind ein bisschen merkelig, ich fürchte fast, wir sind | |
ein bisschen wie unsere Eltern. | |
Noch ist es aber nicht zu spät. Ich habe Träume. Neulich erst habe ich | |
geträumt, dass ich einen Dealer vom Görlitzer Bahnhof heirate. Erwachsene | |
wollen aber lieber diese gefühlsduseligen Träume, die man nachts noch | |
leicht angetrunken ins Tagebuch einträgt: Ich will ein besseres | |
Bildungssystem, ohne die Noten. Ich will unbedingt den Klimawandel | |
aufhalten und die schmelzenden Gletscher wieder einfrieren. Ich will, dass | |
es allen Menschen gut geht. Ich will am Görlitzer Bahnhof nicht an den | |
Arsch gegrapscht werden. | |
## Frustrierend, aber voll okay | |
Ich habe verstanden, dass die Zukunft immer ein Kompromiss ist, kein | |
fertiges Produkt meiner Vorstellung, sondern eine stetige Entwicklung, die | |
ich so gut beeinflussen will, wie es halt geht. Das ist frustrierend, aber | |
voll okay. | |
Vielleicht bin ich zu abgeklärt, aber trotzdem möchte ich eine so gute | |
Zukunft, dass ich sie mir noch nicht mal vorstellen kann. Und jetzt | |
entschuldigt mich bitte, ich muss meiner Englischlehrerin in einem | |
zweiseitigen Essay erklären, warum es von mir keine blühende Zukunftsvision | |
für Deutschland gibt. | |
23 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
paulina unfried | |
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